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ASIEN/021: Das Recht auf Nahrung in Indien nicht nur gewährleisten, sondern schützen (FoodFirst)


FoodFirst Nr. 3/2010
FIAN-Magazin für die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte

Das Recht auf Nahrung in Indien:
Nicht nur gewährleisten, sondern auch achten und schützen

Von Biraj Patnaik


Der Kampf um das Recht auf Nahrung befindet sich aktuell in einer entscheidenden Phase. Das Engagement der Kampagne für das Recht auf Nahrung hat sich in den letzten Jahren von der Basis verlagert in die Gesetzgebungskompetenz des indischen Parlaments, das jetzt kurz vor der Ratifizierung des nationalen Nahrungssicherungsgesetzes steht. Weiße Aktivisten und Kampagnenmitglieder haben den Schritt zur gesetzlichen Verwirklichung begrüßt, doch bestehen nach wie vor erhebliche Zweifel, ob dieses Gesetz in der Lage sein wird, das Recht auf Nahrung vollständig umzusetzen, wenn es sich auf die Dimensionen des "Gewährleistens" beschränkt, und nicht die Dimensionen des "Schützens" und "Achtens" des Rechts auf Nahrung gleichermaßen hervorhebt.


Die Kampagne zum Recht auf Nahrung in Indien hat betont, dass im Mindesten all diejenigen Ansprüche, die durch den Obersten Gerichtshof Indiens im historisch bedeutenden Fall zum Recht auf Nahrung (1) bisher geschaffen worden sind, in diesem Gesetz als "Rechte" enthalten sein müssen, die justiziabel sind. Nach Ansicht der Kampagne muss die Regierung sogar noch über die bestehenden Ansprüche aus dem Recht-auf-Nahrung-Fall hinausgehen und sich auf zusätzliche Programme für besonders empfindliche Bevölkerungsgruppen konzentrieren. Der Gesetzesentwurf ist auch eine Gelegenheit, alle vorhandenen Maßnahmen und Programme zu reformieren und sie wirksamer zu gestalten. Das Gesetz muss außerdem Ernährungssicherung jenseits von Programmen zur Bereitstellung von Nahrungsmitteln angehen und den Zugang zu gesichertem Trinkwasser sowie Hygiene- und medizinischen Grundversorgungseinrichtungen umfassen. Die Ausgangsposition der Recht-auf-Nahrung-Kampagne und eines bedeutenden Teils der indischen Zivilgesellschaft basiert darauf, dass Rechte universal sind und daher das Recht auf Nahrung, wenn es gesetzlich umgesetzt wird, allgemeingültige Bestimmungen für jeden Bürger des Landes schaffen muss. Zugleich soll aber auch nach speziellen Ansprüchen differenziert werden können, um für besonders marginalisierte Gesellschaftsgruppen zusätzliche Leistungen bereitzustellen. Der Diskurs über die Universalität muss daher als Eckpfeiler für die Gesetzgebung dienen.

Nahrungssicherheit kann niemals erreicht werden, wenn nicht auch die Produktionsprobleme und -faktoren angegangen werden. Daher müssen im Gesetz auch Unterstützungsmaßnahmen zur Wiederbelebung der Landwirtschaft in Indien, zur Förderung von (marginalisierten) Kleinbäuerinnen und -bauern und zur Unterstützung von agroökologischen Produktionsformen enthalten sein. Es muss gleichzeitig auch der Entfremdung von Land für industrielle Zwecke, Grundbesitz und andere nicht-landwirtschaftliche Zwecke vorbeugen. Es muss die Interessen lokaler Bäuerinnen und Bauern schützen und die Übernahme von landwirtschaftlichen Flächen durch Großunternehmen unterbinden. Das Gesetz muss auch eine staatliche Garantie für die Bereitstellung von bäuerlichen Anbauerzeugnissen zu einträglichen Stützungspreisen vorsehen. Die staatlichen Versorgungsmaßnahmen müssen auch lokale nährstoffreiche Getreidesorten umfassen, um ihre Produktion zu fördern, so dass der Reis- und Weizenanbau als Hauptnahrungsmittel. in Indien allmählich durch einen vielfältigeren und nährstoffreicheren Nahrungskorb abgelöst wird.

In Indien hat es über Jahrzehnte hinweg eine sehr große Anzahl an Nahrungsmittelprogrammen gegeben. Viele davon blieben jedoch aufgrund von Umsetzungsproblemen ohne Erfolg. Es ist daher zwingend erforderlich, dass der Gesetzesentwurf sehr starke justiziable Mechanismen umfasst sowie ein System des Monitorings durch Institutionen, die unabhängig sind von denjenigen, die mit der Umsetzung der Programme betraut sind. Das Gesetz muss auch Klauseln für die proaktive Bereitstellung von Informationen, für Transparenz und Rechenschaftspflichtbestimmungen umfassen. Weiterhin müssen strenge Strafklauseln bei Verletzungen der Berechtigungen enthalten sein.

Es bleibt jedoch abzuwarten, ob die geplante Gesetzgebung zur Nahrungssicherung all diese Ziele erreichen und Indien in eine Zukunft ohne Hunger bringen kann.


Biraj Patnaik ist der Chefberater der Kommissare des Obersten Gerichtshofs im Fall des Rechts auf Nahrung. Die in diesem Artikel geäußerten Ansichten sind rein persönlicher Natur.


Anmerkung:
(1) Der Fall zum Recht auf Nahrung ist ein andauerndes Gerichtsverfahren mit Präzedenzwirkung, das im Jahr 2001 am Obersten Bundesgericht Indiens aufgenommen wurde. Mehr als 75 Urteile in diesem Fall haben in den letzten neun Jahren zu einer Reihe universeller Ansprüche wie Schulspeisungen für 120 Millionen Grundschulkinder und Ernährungsergänzungsprogrammen für 160 Millionen Kinder geführt. Der Fall umfasst neun staatliche Programme, die mehr als 700 Millionen Menschen in Indien erreichen, darunter Schulmahlzeiten, subventioniertes Getreide durch das staatliche Verteilungssystem (PDS), Beschäftigungsprogramme, Renten, Mutterschutzmaßnahmen und andere Programme zur sozialen Sicherung.


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Quelle:
FoodFirst - FIAN-Magazin für die wirtschaftlichen,
sozialen und kulturellen Menschenrechte, Nr. 3/2010, November 2010, S. 15
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Januar 2011