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LATEINAMERIKA/061: Durchwachsenes Zeugnis für Lula - Brasilien vor UN-Ausschuß (FoodFirst)


FoodFirst Nr. 2/2009
FIAN-Magazin für die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte

Durchwachsenes Zeugnis für Lula
Brasilien vor UN-Ausschuss

Sandra Ratjen


Auf seiner Frühlingssitzung (4. bis 22. Mai 2009) hat sich der UN-Ausschuss für Wirtschaftliche, Soziale und Kulturelle Rechte (WSK-Ausschuss) in Genf mit Brasilien befasst. Fazit der zivilgeseltschaftlichen Organisationen: Es gibt deutliche Fortschritte beim Zugang zu Bildung, zu Sozial- und Gesundheitsdiensten sowie zur Sozialversicherung. Doch die soziale Ungleichheit ist unverändert groß.


Brasilien war schon immer ein besonderer Fall für den WSK-Ausschuss in Genf. Eigentlich sind Unterzeichnerstaaten des Paktes für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte verpflichtet, alle fünf Jahre einen Bericht über die Einhaltung dieser Rechte abzuliefern. Jahrzehntelang hatte das Land jedoch einen Bericht verweigert. 2003 reagierte die Regierung von Ignacio "Lula" da Silva erstmals auf den nationalen und internationalen Druck: ein Jahr, nachdem zivilgesellschaftliche Organisationen mit Hilfe von FIAN, Misereor, dem Evangelischen Entwicklungsdienst (EED) und anderen einen Parallelbericht erarbeitet hatten, zog die Regierung nach und reichte den offiziellen Bericht nach.


Entwicklungsmodell der Ungleichheit

Im aktuellen Turnus kam es anders. Rechtzeitig machte die brasilianische Regierung ihre Hausaufgaben und kam ihrer Berichtspflicht nach. Es war der erste Bericht, der sich tatsächlich auf die Regierungszeit von Lula selbst bezog. Und doch, die Situation der sozialen Menschenrechte ist nicht rosig, wie aus dem von der Zivilgesellschaft eingereichten Parallelbericht hervorgeht. Zum Auftakt der Sitzung kritisierten brasilianische Partnerorganisationen von FIAN, Brot für die Welt, EED und Misereor die Missachtung dieser Rechte in Brasilien. Trotz einiger positiven Entwicklungen beim Zugang zu Bildung, zu Sozial- und Gesundheitsdiensten sowie zur Sozialversicherung in den letzten Jahren in Brasilien seien bei der Beseitigung der krassen sozialen Ungleichheiten kaum Fortschritte festzustellen. Brasilien bleibt weltweit eines der sozial ungleichsten Länder: Zehn Prozent der Bevölkerung besitzen 75,4 Prozent des Einkommens im Land, Tendenz steigend.

Den Hauptgrund sehen die Organisationen in dem Entwicklungsmodell der brasilianischen Regierung, das vor allem auf Agrarexporte und riesige Infrastrukturprojekte setzt. Diese Projekte führen häufig zu schweren Verletzungen wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Menschenrechte der armen und traditionellen Bevölkerungsschichten. Der Bau von Wasserkraftwerken am Rio Madeira führt beispielsweise zur Zwangsumsiedlung und Zerstörung der Lebensgrundlagen der Flussanrainer, meistens Indigene und Nachkommen schwarzer Sklavengemeinschaften.

Weitere Gründe für die Verletzung der WSK-Rechte in Brasilien sind die restriktive Finanzpolitik, Unzulänglichkeiten in der Gesetzgebung sowie die mangelnde Umsetzung von bestehenden Gesetzen, zum Beispiel bezüglich der überfälligen Agrarreform. Soziale Bewegungen und Nichtregierungsorganisationen (NRO) werden zunehmend kriminalisiert, was Partizipation und soziale Kontrolle der staatlichen Politik erschwert.


Schlussfolgerungen stehen noch aus

Diese Probleme wurden zwischen dem 4. und 8. Mai 2009 in Genf von Partnerorganisationen von FIAN, Brot für die Welt, EED und Misereor bei verschiedenen Gelegenheiten und Aktivitäten deutlich erläutert. Mehrere der Hauptanliegen der nationalen NRO wurden in den abschließenden Bemerkungen des WSK-Ausschusses übernommen, etwa bezüglich der bestehenden Ungleichheiten, des fehlenden Zugangs von armen und indigenen Gruppen zu Land oder auch der Diskriminierung von Afro-Brasilianern. Die entsprechenden Empfehlungen des Ausschusses an den Staat sind eine wichtige und sehr hilfreiche Basis für die weitere Lobby- und Evaluierungsarbeit der Zivilgesellschaft. In dieser Hinsicht war die Verhandlung vor dem Ausschuss ein deutlicher Erfolg. Denn sie nötigte die brasilianische Regierung, eine menschenrechtliche Bewertung ihrer eigenen Politik vorzulegen. Und sie beförderte im Vorfeld einen zivilgesellschaftlichen Prozess der Vernetzung lokaler, nationaler und internationaler Organisationen für eine koordinierte Überwachung der Umsetzung von WSK-Rechten. Die Ergebnisse des gemeinsam erarbeiteten Parallelberichts sind für den WSK-Ausschuss eine wichtige Grundlage zur unabhängigen Bewertung der Situation, wie die Concluding Observations es beweisen.

Die Concluding Observations sind abrufbar unter
http://www2.ohchr.org/english/bodies/cescr/docs/AdvanceVersions/E-C12-BRA-CO-2.doc

Sandra Ratjen ist Mitarbeiterin von FIAN-international.


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Quelle:
FoodFirst - FIAN-Magazin für die wirtschaftlichen,
sozialen und kulturellen Menschenrechte, Nr. 2/2009, Juni 2009, S. 13
Herausgeber: FIAN-Deutschland e.V., Briedeler Straße 13, 50969 Köln
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. September 2009