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BERICHT/246: Die Friedensstaatlichkeit des Grundgesetzes (Forum Pazifismus)


Forum Pazifismus Nr. 22 - II/2009
Zeitschrift für Theorie und Praxis der Gewaltfreiheit

Die Friedensstaatlichkeit des Grundgesetzes

Von Ulrich Finckh


In Deutschland hat der Pazifismus eine lange Tradition von den Mennoniten über Kant bis zu den Friedensgesellschaften - aber in der Praxis war es eine Geschichte der Ablehnung und Verfolgung und deshalb auch von Leiden und Auswanderung. Wo die Mennoniten geduldet wurden, mussten sie zusätzliche Steuern zahlen. Als ihr "Privileg" in Preußen 1868 wegen der Wehrpflicht des Norddeutschen Bundes aufgehoben wurde, sind Tausende ausgewandert, denen die Zusage, nur zum Sanitätsdienst verpflichtet zu werden, nicht reichte, um ihr Gewissen zu beruhigen. Im Ersten Weltkrieg galten Kriegsdienstverweigerer als psychisch krank, im Zweiten Weltkrieg wurden sie immerhin ernstgenommen, aber zum Tode verurteilt. Zwischen den Weltkriegen wanderten bekannte Pazifisten aus, weil ihnen das Leben hier zu schwer gemacht wurde. 1933, als brutaler Militarismus in NS-Gestalt das Land beherrschte, wurden pazifistische Bücher verbrannt und aus den Bibliotheken entfernt sowie führende Pazifisten, die nicht rechtzeitig geflohen waren, schon im Frieden in KZs gequält. Gegen diese Vorgeschichte setzt das Grundgesetz seinen Friedenswillen.

Schon in der Präambel verpflichtet sich die BRD "in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen".

Artikel 1 (2) bekennt sich "zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt".

Artikel 2 (2) garantiert "das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit". Das ist 1945 angesichts der Millionen von Ermordeten, Kriegstoten und verkrüppelten, vergewaltigten und traumatisierten Menschen ein klares Bekenntnis zum Frieden. Zugleich ist es eine radikale Absage an jedes Tun, das über direkte Notwehr und Nothilfe hinausgeht. Niemand hat das Recht, Leben und körperliche Unversehrtheit anderer zu beschädigen, und von niemand darf verlangt werden, dass er sich selbst solchen Gefahren aussetzt.

Artikel 3 (3) legt fest, dass niemand wegen "seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Weltanschauung benachteiligt" werden darf. Damit ist das Ende der Benachteiligung und Verfolgung der Friedenskirchen und der politischen Pazifisten angesagt.

Artikel 4 präzisiert: "Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich".

Artikel 4 (3) bestätigt ausdrücklich, dass das auch für Kriegsdienstverweigerer gilt.

Artikel 24 (2) betont wieder den Friedenswillen: "Der Bund kann sich zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen; er wird hierbei in die Beschränkung seiner Hoheitsrechte einwilligen, die eine friedliche und dauerhafte Ordnung in Europa und zwischen den Völkern der Welt herbeiführen und sichern".

Artikel 25 macht die allgemeinen Regeln des Völkerrechts zum Bestandteil des Bundesrechtes.

Artikel 26 verbietet "Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten".

Ich sehe auch zwei weitere Artikel als spezielle Absage an den Militarismus der NS-Zeit:

Artikel 5 regelt die Meinungs- und Pressefreiheit. Das ist das Gegenstück zur Bücherverbrennung von 1933, die zunächst vor allem die Werke von bekannten Pazifisten betraf.

Artikel 16 sagt: Die deutsche Staatsbürgerschaft darf nicht entzogen werden. Auch das ist eine Antwort auf NS-Aktionen. Auf den ersten Ausbürgerungslisten standen nämlich vor allem Pazifisten, die vor Diffamierungen in der Weimarer Zeit oder in richtiger Einschätzung Hitlers ins Ausland geflohen waren. Zu Anfang der NS-Diktatur hatte der Kampf gegen "undeutsches" Denken, besonders gegen "Pazifismus" und "Internationalismus", für die Nationalsozialisten solchen Vorrang, dass sie z.B. die Bücher von Heinrich Mann verbrannten, aber nicht die seines Bruders Thomas Mann, obwohl dessen Frau nach NS-Kriterien Jüdin war.

Im Grunde sind alle Grundrechte antimilitaristische Gegenthesen gegen den Nationalsozialismus, der das ganze Volk als Kampfgemeinschaft vereinnahmen wollte und zahllose Menschen in Uniformen steckte. Das Nein zur NS-Diktatur, die leider legal Schwächen der Weimarer Reichsverfassung ausnutzen konnte, wird besonders deutlich an den Ewigkeitsgarantien in Artikel 79 (4) für die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze und in Artikel 19 (2) für den Wesensgehalt aller Grundrechte, die nicht mehr wie 1933 durch ein Ermächtigungsgesetz außer Kraft gesetzt werden dürfen.

Überblickt man die vielen Friedenshinweise und Absagen an den Militarismus der NS-Zeit, so ist das Grundgesetz nicht nur eine - wie es immer heißt -"freiheitlich demokratische Grundordnung", also eine freiheitliche, rechts- und sozialstaatliche, demokratische Verfassung, sondern auch eine friedensstaatliche. Dass das mit der Wehrverfassung von 1955 radikal geändert wurde, schuf verfassungswidriges Verfassungsrecht trotz der feierlichen Garantien der Grundrechte, weil es deren Wesensgehalt gegen das Verbot in Artikel 19 (2) antastete, ja zum Teil aufhob. Aber das hat das Bundesverfassungsgericht nicht etwa beanstandet sondern im Gegenteil die Wehrpflicht, die erst nachträglich ermöglicht, aber nicht verlangt wurde, als "staatsbürgerliche Pflicht hohen Ranges" bezeichnet. Es ist dringend notwendig, die friedensstaatliche und antimilitaristische Tendenz des Grundgesetzes, die zu Unrecht verlassen wurde, in Erinnerung zu rufen und sie bis nach Berlin und Karlsruhe deutlich zu machen.

Für mich sind drei Punkte besonders gravierend bei der Missachtung der Friedensausrichtung des Grundgesetzes. Erstens die Regelung, dass für eine Kriegsdienstverweigerung ein Antrag nötig ist, der von staatlichen Stellen überprüft wird. Bei einem Grundrecht muss die einfache Erklärung, dass man es in Anspruch nimmt, reichen. Allenfalls nachgewiesener Missbrauch darf zur Ablehnung der Kriegsdienstverweigerung führen.

Ebenso fatal ist zweitens die Missachtung der Gewissen der totalen Kriegsdienstverweigerer, die sich nicht nur auf Artikel 4 (1) berufen können sondern im Gegensatz zu allen, die Militärdienst leisten oder diesen immerhin soweit anerkennen, dass die dafür zu einem Ersatzdienst bereit sind, Artikel 2 (2) wirklich ernstnehmen.

Über unsere Frage nach der Verweigerung hinaus führt drittens die Missachtung des Völkerrechts bei kriegerischen Interventionen wie dem Krieg gegen Jugoslawien oder dem Mitmachen bei der amerikanischen Operation Enduring Freedom. Auch das widerspricht dem Friedensauftrag unserer Verfassung.


Ulrich Finckh war jahrzehntelang Vorsitzender Zentralstelle KDV; der Beitrag wurde als Kurzreferat bei der Fachtagung der Zentralstelle KDV am 9. Mai in Maintal gehalten.


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Quelle:
Forum Pazifismus - Zeitschrift für Theorie und Praxis
der Gewaltfreiheit Nr. 22, II/2009, S. 31 - 32
Herausgeber: Internationaler Versöhnungsbund - deutscher Zweig,
DFG-VK (Deutsche Friedensgesellschaft - Vereinigte
KriegsdienstgegnerInnen) mit der Bertha-von-Suttner-Stiftung der
DFG-VK, Bund für Soziale Verteidigung (BSV) und Werkstatt für
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. September 2009