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BERICHT/274: Frühe Selbstentlastung der Täter - späte Rehabilitierung der Opfer (Forum Pazifismus)


Forum Pazifismus Nr. 26 - II/2010
Zeitschrift für Theorie und Praxis der Gewaltfreiheit

Frühe Selbstentlastung der Täter - späte Rehabilitierung der Opfer
Zum Abschluss einer Etappe der Geschichtspolitik

Von Wolfram Wette


Frühe Selbstentlastung der Wehrmachtrichter - späte Rehabilitierung der Opfer" - das sind zwei Aussagen, die Fragen aufwerfen. Stehen sie gleichsam beziehungslos nebeneinander, oder sind sie durch einen engen Zusammenhang miteinander verknüpft, durch ein Wechselverhältnis? Meine These lautet: Die späte Rehabilitierung der Opfer hat durchaus etwas zu tun mit der frühen Selbstentlastung der Wehrmachtrichter und mit deren Einfluss in Staat und Gesellschaft zur Zeit der zweiten deutschen Republik.

Als der Zweite Weltkrieg zu Ende war, wurde den NS-Militärjuristen rasch klar: Nur wenn es ihnen gelingen würde, ihr gnadenloses Handeln während des Zweiten Weltkrieges - mit der Schreckensbilanz von etwa 30.000 Todesurteilen - auch unter den Bedingungen des demokratischen Rechtsstaates zu rechtfertigen und juristisch unangreifbar zu machen, hatten sie eine Chance, in ihrem Beruf weiter arbeiten, ihre Karrieren fortsetzen und in rechtspolitischen Fragen Einfluss nehmen zu können. Gleiches gilt für die "Gerichtsherren", also die hochrangigen militärischen Befehlshaber, die immer mitgedacht werden müssen, wenn wir von Wehrmachtjustiz reden. Denn sie waren die eigentlichen Entscheidungsträger, denen die Wehrmachtgerichte zuarbeiteten.

Gleichzeitig dürften die Opfer dieser grausamen Justiz ebenfalls bereits in den ersten Nachkriegsjahren geahnt haben, dass sie im Falle einer Weiterbeschäftigung ihrer vormaligen Peiniger in der Justiz der Republik keine Chance haben würden, ihre berechtigten Belange durchzusetzen: Dass ihrer Toten würdig gedacht wurde und dass ihnen selbst, den Überlebenden, wenigstens nachträglich Respekt entgegen gebracht wurde, ja dass sie gegebenenfalls sogar eine Entschädigung für erlittenes Unrecht erhalten würden.

So lässt sich der Konflikt schon für das Jahr 1949 beschreiben, als die Bundesrepublik Deutschland gegründet wurde. Es handelte sich um eine durchaus komplexe Konfliktkonstellation. Sie hatte standespolitische, geschichtspolitische, gesellschaftspolitische und ganz banale pensionsrechtliche Aspekte. Was damals begann, sollte sich als eine lang währende Auseinandersetzung erweisen. Sie wurde über viele Jahrzehnte hinweg ausgefochten - mit durchaus ungewissem Ausgang. Mancher Beobachter meint, bei dem Konflikt über die Wehrmachtjustiz und ihre Opfer habe es sich um die größte geschichtspolitische Auseinandersetzung überhaupt gehandelt, welche die Bundesrepublik erlebte.


Vision...

Theoretisch hätte man sich auch einen anderen Verlauf vorstellen können, nämlich diesen: Im Anschluss an die Nürnberger Militärtribunale unterzog sich die deutsche Justiz einem Selbstreinigungsprozess. Er führte dazu, dass die Wehrmachtrichter, die wegen ihrer überbordenden Todesstrafenpraxis schwer belastet waren, aus dem Justizdienst ausschieden oder in denselben nicht übernommen wurden. Hernach hätten sich diese "Blutrichter" vor Gericht "wegen Rechtsbeugung in Tateinheit mit Kapitalverbrechen [...] verantworten müssen" (BGH 1995). Fritz Bauer setzte 1952 mit seiner These "Unrecht kennt keinen Verrat" bundesweit einen verbindlichen Maßstab, was zur Folge hatte, dass jeder widerständige "kleine Mann" in Uniform im Nachhinein gerechtfertigt war. So weit das alternative Gedankenspiel. So entsteht das fiktive Bild einer Republik, die statt einer Kontinuität der alten Machtstaatseliten auf einen deutlicheren Neubeginn gesetzthätte, der aller Voraussicht nach allerdings auch größere innenpolitische Konflikte mit sich gebracht hätte.


... und Wirklichkeit

Wie jedermann weiß, kam es anders: Ein konsequenter Austausch der juristischen Eliten fand nicht statt. Die ehemaligen Wehrmachtjuristen suchten und fanden neue Betätigungsfelder und Aufstiegschancen in der allgemeinen Justiz der Bundesrepublik. Sie drangen bis in die obersten Bundesgerichte vor, in die Hochschulen, in die Ministerialbürokratie, vereinzelt sogar in die Politik. Bei ihren vielfältigen Bestrebungen arbeiteten diese - in einem beruflichen Korpsgeist miteinander verbundenen - Juristen eng zusammen und hatten großen Erfolg.

Parallel zu ihren Karrieren in der zweiten deutschen Republik engagierten sich die Weitsichtigen unter den ehemaligen NS-Militärjuristen zugleich als Lobbyisten in eigener Sache, und die hieß Vergangenheit, also Wehrmachtjustiz. Um dem befürchteten Legitimationsdruck schon prophylaktisch entgegen zu wirken, organisierten sie sich in einem "Verband ehemaliger Wehrmachtjuristen" und setzten sich dort insbesondere für die beiden folgenden Ziele ein: Erstens musste allen Zweifeln an der Rechtmäßigkeit ihrer Todesstrafenpraxis juristisch und politisch entgegen getreten werden; keinesfalls durfte es zu Strafverfahren oder zu Verurteilungen von ehemaligen NS-Militärrichtern kommen. Zweitens musste dafür Sorge getragen werden, dass das Bild der NS-Militärjustiz - ebenso wie das der angeblich "sauber" gebliebenen Wehrmacht insgesamt - in der demokratischen Öffentlichkeit in einem positiven Lichte erschien.

Betrachtet man das Wirken der ehemaligen Wehrmachtjuristen im Zusammenhang des halben Jahrhunderts zwischen 1945 und 1995, so drängt sich der folgende Gesamteindruck auf: Die ehemaligen Wehrmachtjuristen waren als Lobbyisten höchst erfolgreich. Sie machten Karrieren, lehrten an Universitäten und zogen dort einen Nachwuchs Gleichgesinnter heran, sie erhielten Ehrungen und Auszeichnungen, bezogen schöne Pensionen, und sie verstanden es, dafür zu sorgen, dass nicht ein einziger von ihnen vor Gericht gestellt und verurteilt wurde. Die Justizmorde der Wehrmachtrichter und der militärischen Gerichtsherren blieben ungesühnt. Ein paar Mal wurde an ihrem selbstgebauten Sockel gerüttelt, aber er konnte zu ihren Lebzeiten nicht zum Einsturz gebracht werden.


Der lang währende Misserfolg der Opfer

Das Ausmaß des Erfolges der ehemaligen Wehrmachtrichter lässt sich nirgendwo besser ablesen als am Misserfolg ihrer Opfer, also der Deserteure der Wehrmacht, der Kriegsdienstverweigerer, der Wehrkraftzersetzer, der so genannten Kriegsverräter und - nicht zu vergessen - der Widerständigen in den deutsch besetzten Gebieten. In den Augen der deutschen Öffentlichkeit, die unter dem Einfluss ehemaliger Wehrmachtrichter und einer Vielzahl anderer Apologeten des NS-Justizsystems stand, blieben die Opfer der NS-Militärjustiz auch noch Jahrzehnte nach dem Kriege das, was die Hitler-Diktatur und die Wehrmachtpropaganda zuvor aus ihnen gemacht hatte: Feiglinge und Verräter, minderwertige, verabscheuungswürdige Sonderlinge.

Erst etwa seit den späten 1970er Jahren begann sich der Wind allmählich zu drehen. Es kam zu immer breiter werdenden gesellschaftlichen Debatten über Verweigerung und Fahnenflucht in der NS-Zeit, über Widerstand und Vernichtungskrieg, über Verbrechen von Wehrmacht, Polizei und SS. Wissenschaftliche Forschungen wurden angeregt, Basisinitiativen blühten auf, Kirchenvertreter und Bundestagsabgeordnete wurden aufmerksam. Anfang der 1990er Jahre war der gesellschaftliche Meinungswandel dann so weit fortgeschritten, dass es zu den Urteilen des Bundessozialgerichts 1991, des Bundesgerichtshofs 1995 sowie zu den Entscheidungen des Bundestages von 1998 und 2002 - und zum Abschluss 2009 - kommen konnte, die eine völlig Neubewertung des widerständigen Verhaltens kleiner Leute in der NS-Zeit dokumentieren. Dem Lernprozess lag die fundamentale Einsicht zugrunde, dass heute generell jeder Mensch unseren Respekt verdient, der sich damals dem Vernichtungskrieg verweigerte oder entzog.

Besagter Meinungswandel der Mehrheitsgesellschaft vollzog sich vor einem Hintergrund, der gelegentlich vergessen wird: Die Jüngsten aus der Generation der ehemaligen Wehrmachtjuristen hatten seit den 1980er Jahren aus Altersgründen ihre einflussreichen Positionen geräumt. Diese Kohorte verfügte nun nicht mehr über die Kraft, die öffentliche Meinung in ihrem Sinne zu prägen. Eine jüngere Juristengeneration war nachgewachsen und bis in die höchsten Bundesgerichte vorgedrungen. Sie ging nunmehr daran, den gesellschaftlichen Meinungswandel auch juristisch festzuschreiben. Beispielsweise kam es 1995, ein halbes Jahrhundert nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, zu einer völligen Neubewertung der Wehrmachtjustiz durch den Bundesgerichtshof. Er stellte jetzt fest, die Todesstrafenpraxis der Militärjustiz sei "rechtsbeugerisch" gewesen. Sie hätte "in einer Vielzahl von Fällen zur Verurteilung von Richtern und Staatsanwälten des nationalsozialistischen Gewaltregimes führen müssen". Aber, so klagte der BGH 50 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, "trotz des tausendfachen Missbrauchs der Todesstrafe" habe es derartige Verurteilungen nicht gegeben.


Widerstand bis zuletzt

Konservativen Politikern und Juristen war seit jeher daran gelegen, die Millionen gehorsamer Soldaten, die bis zur bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht für Hitler-Deutschland gekämpft hatten, nicht ins Unrecht zu setzen. Während die Mehrheitsgesellschaft allmählich begriff, dass es sich bei den Opfern der Wehrmachtjustiz nicht um Minderwertige, Schwächlinge, Feiglinge oder Verräter gehandelt hatte, sondern um Menschen, die sich einem Staatsverbrechen verweigert hatten, konnten sich längst nicht alle Konservativen zu dieser Einsicht durchringen. Ihre Vertreter im Bundestag spielten daher bei der Rehabilitierung der Deserteure der Wehrmacht und anderer widerständiger kleiner Leute nicht mit. Sie befürchteten noch im Jahre 2009, die Wehrmachtrichter könnten durch eine Rehabilitierung der Opfer pauschal in Misskredit geraten - was sie dann doch nicht zu verhindern vermochten.

Mit der parteiübergreifenden Rehabilitierung der so genannten Kriegsverräter durch den Deutschen Bundestag am 9. September 2009 ist diese Etappe der Geschichtspolitik endlich abgeschlossen. Es liegt auf der Hand, dass sich die Militärhistoriker und die Rechtshistoriker, die mit dieser Materie vertraut sind, nunmehr verstärkt mit dem Wirken der vormaligen NS-Militärrichter im demokratischen Rechtsstaat beschäftigen. Dass sie dies nicht in der Tradition des "Verbandes ehemaliger Wehrmachtjuristen" tun werden, sondern in kritisch-aufklärerischer Absicht, muss angesichts des Standes der geschichtspolitischen Diskussion in unserem Lande nicht eigens betont zu werden. Das Symposium "Der Kampf um die Vergangenheit. Das Wirken ehemaliger Wehrmachtjuristen im demokratischen Rechtsstaat aus der Sicht der Opfer" zu Ehren des Gründers des "Forums Justizgeschichte", Helmut Kramer, leistete hierzu einen Beitrag, indem es eine Zwischenbilanz der Forschung zog.

Künftig werden wir Wissenschaftler uns unter anderem verstärkt mit der folgenden Frage auseinandersetzen müssen: Wie passt es eigentlich zusammen, dass die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland einerseits als eine Erfolgsgeschichte angesehen werden kann - von nicht wenigen Zeithistorikern auch so gesehen wird -, weil sie einen in Richtung Liberalisierung tendierenden Lernprozess durchlief, und dass auf der anderen Seite reuelose ehemalige NS-Juristen, unter ihnen nicht wenige Wehrmachtjuristen, in diesem Staat ein einflussreiches und nachhaltiges Wirken zu entfalten vermochten? Bevor diese Frage zufriedenstellend beantwortet werden kann, ist noch viel Forschungsarbeit zu leisten. Eines Tages wird das Ergebnis dieser Forschungen zu einem differenzierten Bild von der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland beitragen können, das nicht nur glänzt, sondern auch seine Schattenseiten zeigt.


Prof. Dr. Wolfram Wette ist Historiker und Mitglied der DFG-VK. Dieser Text ist sein Schlusswort beim Symposium "Der Kampf um die Vergangenheit. Das Wirken ehemaliger Wehrmachtjuristen im demokratischen Rechtsstaat aus der Sicht der Opfer" das zu Ehren von Helmut Kramer anlässlich dessen 80. Geburtstages im Leibniz-Haus der Universität Hannover am 17/18. April 2010 stattfand. Ein Sammelband mit allen dort gehaltenen Vorträgen befindet sich in Vorbereitung und wird nach seinem Erscheinen in dieser Zeitschrift vorgestellt werden.


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Quelle:
Forum Pazifismus - Zeitschrift für Theorie und Praxis
der Gewaltfreiheit Nr. 26, II/2010, S. 11 - 13
Herausgeber: Internationaler Versöhnungsbund - deutscher Zweig,
DFG-VK (Deutsche Friedensgesellschaft - Vereinigte
KriegsdienstgegnerInnen) mit der Bertha-von-Suttner-Stiftung der
DFG-VK, Bund für Soziale Verteidigung (BSV) und Werkstatt für
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Oktober 2010