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STANDPUNKT/067: "Volle Deckung - zum Abschuß frei!" (Forum Pazifismus)


Forum Pazifismus Nr. 15 - III/2007
Zeitschrift für Theorie und Praxis der Gewaltfreiheit

"Volle Deckung - zum Abschuss frei!"
Ein Fall für den Verfassungsschutz: Wahrheitsminister Schäuble und Friedensminister Jung beschwören den Ernstfall an der Heimatfront.

Von Jürgen Rose


Dass der Volljurist Dr. Wolfgang Schäuble mit dem Völkerrecht auf Kriegsfuß steht, ist hinlänglich bekannt, gab er doch im April 2003 wenige Tage nach dem Einmarsch der US-Truppen in Bagdad zu Protokoll: "Die Prinzipien von Souveränität und Interventionsverbot können nicht mehr uneingeschränkt gelten, da sind wir nicht mehr unbefangen genug." Es überrascht daher kaum, wenn Schäuble auch mit dem Grundgesetz (GG) sehr unbefangen umgeht. Längere Zeit arbeitete er höchstselbst hartnäckig daran, dass Abfangjäger der Bundesluftwaffe mit gesetzlicher Lizenz zivile Passagierflugzeuge abschießen könnten, sollte die Gefahr bestehen, dass diese - von Terroristen entführt - als Anschlagswaffe eingesetzt würden.

Mittlerweile hat er den Staffelstab an Kriegsminister Dr. Franz-Josef Jung übergeben, dessen Flugzeugabschussfantasien derzeit den öffentlichen Diskurs der Berliner Republik beherrschen, während Minister Seltsam zeitgleich von der "schmutzigen Bombe" halluziniert, deren Zündung auf hiesigem Territorium nur noch eine Frage der Zeit sei.

War die rot-grüne Vorgängerregierung mit dem im Februar 2005 vom Bundestag beschlossenen Luftsicherheitsgesetz vor dem Bundesverfassungsgericht noch kläglich gescheitert, so vermag das unsere Terrorminister vom Schlage Schäuble & Jung nicht erschüttern. Denn vom Richterspruch unberührt blieb der Einsatz der Bundeswehr zu ihrem in Artikel 87a GG normierten Primärzweck - dem der Verteidigung nämlich. Was also könnte näher liegen, als kurzerhand eine Flugzeugentführung zum bewaffneten Angriff zu erklären, gegen den eine militärische Abwehr zulässig ist? Immerhin hatte bereits der UN-Sicherheitsrat die mit gekaperten Airlinern verübten Terroranschläge vom 11. September 2001 als bewaffneten Angriff qualifiziert. Zudem sieht das Grundgesetz gemäß Artikel 115a die Feststellung des Verteidigungsfalles vor, wenn "das Bundesgebiet mit Waffengewalt angegriffen wird oder ein solcher Angriff unmittelbar droht". Highjacking von Flugzeugen durch Terroristen würde demnach, geht es nach Schäuble & Jung, eine Art "kleinen V-Fall" konstituieren und militärische Gewalt legitimieren.

Freilich ignorieren die Minister mit ihrem Quasi-Verteidigungsfall fundamentale Rechtssätze des Verfassungsgerichts. Denn das lehnt kategorisch jedwede Vorstellung ab, dem Staat könne die Befugnis zukommen, entführte Zivilflugzeuge samt Besatzung und Passagieren abzuschießen. Der entscheidende Satz im Urteil vom 15. Februar 2006 (siehe Forum Pazifismus 09, Nr.II 2006, Seite 33 ff.) lautet: "Auch wenn sich im Bereich der Gefahrenabwehr Prognoseunsicherheiten vielfach nicht gänzlich vermeiden lassen, ist es unter der Geltung des Art. 1 Abs. 1 GG schlechterdings unvorstellbar, auf der Grundlage einer gesetzlichen Ermächtigung unschuldige Menschen, die sich wie die Besatzung und die Passagiere eines entführten Luftfahrzeugs in einer für sie hoffnungslosen Lage befinden, gegebenenfalls sogar unter Inkaufnahme solcher Unwägbarkeiten vorsätzlich zu töten."

Die schlagende Begründung hierfür liegt darin, dass Besatzung und Passagiere "diesem Handeln des Staates auf Grund der von ihnen in keiner Weise beherrschbaren Gegebenheiten nicht ausweichen" könnten. Vielmehr seien sie ihm "wehr- und hilflos ausgeliefert mit der Folge, dass sie zusammen mit dem Luftfahrzeug gezielt abgeschossen und infolgedessen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit getötet" würden. "Eine solche Behandlung" - erklären die Verfassungsrichter weiter - "missachtet die Betroffenen als Subjekte mit Würde und unveräußerlichen Rechten. Sie werden dadurch, dass ihre Tötung als Mittel zur Rettung anderer benutzt wird, verdinglicht und zugleich entrechtlicht; indem über ihr Leben von Staats wegen einseitig verfügt wird, wird den als Opfern selbst schutzbedürftigen Flugzeuginsassen der Wert abgesprochen, der dem Menschen um seiner selbst willen zukommt". Sollte der Staat in dieser Weise vorgehen - und das gelte auch im Verteidigungsfall (!) - ignoriere das in einer mit Artikel 1 GG nicht zu vereinbarenden Weise das daraus für den Staat resultierende Tötungsverbot. "Daran ändert es nichts, dass dieses Vorgehen dazu dienen soll, das Leben anderer Menschen zu schützen und zu erhalten." Folgerichtig gelangen die Karlsruher Richter zu dem Urteil, dass eine staatliche Abschusslizenz für entführte Passagierflugzeuge unvereinbar mit dem "Menschenbild des Grundgesetzes" sei.

Doch völlig unbeeindruckt von solch eindeutigem höchstrichterlichem Votum beharren der christdemokratische Wahrheitsminister Schäuble und der ebenso christdemokratische Friedensminister Jung auf ihrer hanebüchenen Gesetzesforderung. Indes verneinen die beiden Hohepriester der Apokalypse, dass es einen konkreten Anlass für ihr Kassandra-Geschwätz gäbe. Was also steckt dann hinter der habituellen Beschwörung des eingebildeten Notstandes?

Pecunia non olet - Geld stinkt nicht, pflegte der alte Römer zu sagen. Im Falle des Dr. Jung stinkt es jedoch gewaltig. Denn seine ostentative Ankündigung, getreu dem Motto, Recht sei, was dem deutschen Volke nützt, auf bloßen Verdacht hin gekaperte Airliner abschießen zu lassen, bleibt unvermeidlich eine Straftat. Da mag er sich unter dem Vorwand des so genannten "rechtfertigenden Notstandes" auch noch so sehr drehen und winden. Zwar könnte im Falle eines Falles das zuständige Gericht von der Bestrafung des IBuK (Inhaber der Befehls- und Kommandogewalt) absehen - nichtsdestoweniger bliebe der Staat den Opfern des ministeriell angeordneten Totschlags zumindest zivilrechtlich schadensersatzpflichtig. Überschlägig kalkuliert würde sich die anfallende Summe für Schmerzensgelder, Ersatz des zerschellten Fluggerätes, Gewinnausfall der betroffenen Fluggesellschaft und am Boden entstandene Schäden sehr schnell auf Milliardenhöhe summieren. Kein Wunder, dass sich die Verantwortlichen so penetrant um eine Carte Blanche in Gestalt einer gesetzlichen Abschusslizenz bemühen.

Und noch etwas kommt hinzu: Das Wehrstrafgesetz (WStG) stellt bereits den Versuch, Untergebene zu einer rechtswidrigen Tat zu verleiten, unter Strafe. Im einschlägigen Paragraph 34 Absatz 1 WStG (Erfolgloses Verleiten zu einer rechtswidrigen Tat) heißt es: "Wer durch Missbrauch seiner Befehlsbefugnis oder Dienststellung einen Untergebenen zu bestimmen versucht, eine rechtswidrige Tat, die den Tatbestand eines Strafgesetzes verwirklicht, zu begehen oder zu ihr anzustiften, wird nach den für die Begehung der Tat geltenden Vorschriften bestraft." Zudem legt das Gesetz fest, dass diese Bestimmung "auch für Straftaten [gilt], durch die militärische Vorgesetzte, die nicht Soldaten sind, ihre Pflichten (Paragraphen 30 bis 41) verletzen". Demnach ist Verteidigungsminister Jung als IBuK eingeschlossen. Nun hat Jung eigenem Bekunden zufolge dafür Sorge getragen, dass für die in ständiger Bereitschaft gehaltenen Alarmrotten der Luftwaffe stets genügend Jagdflugzeugpiloten bereitstehen, die sich mehr oder minder freiwillig verpflichtet haben, auf Ministerbefehl hin ein so genanntes "Renegade"-Flugzeug abzuschießen. Mit dem Verleiten dieser unterstellten Luftwaffenpiloten zum rechtswidrigen Totschlag indes ist der Tatbestand des Paragraph 34 Absatz 1 WStG offensichtlich erfüllt. Und dies gilt nicht nur für den IBuK selbst, sondern für jeden Vorgesetzten in der Befehlskette vom Inspekteur der Luftwaffe bis hinunter zum Geschwaderkommodore. Wer freilich schon mit beiden Beinen im Gefängnis steht, muss selbstredend ein gesteigertes Interesse an legalisierter Straffreiheit haben.

Aber auch die Jagdflugzeugpiloten selbst würden sich nach dem WStG strafbar machen, würden sie einem Abschussbefehl nachkommen. Nach Paragraph 5 (Handeln auf Befehl) trifft sie als Untergebene die Schuld für eine rechtswidrige Tat, die sie auf Befehl begangen haben und die den Tatbestand eines Strafgesetzes verwirklicht, wenn sie hätten erkennen können oder müssen, dass es sich um eine rechtswidrige Tat handelte oder dies nach den ihnen bekannten Umständen offensichtlich war. Letzteres muss angesichts der seit mehreren Jahren öffentlich laufenden Debatte über die Rechtswidrigkeit des Abschusses ziviler Flugzeuge im Entführungsfall vorausgesetzt werden. Demzufolge könnten sich die betreffenden Luftwaffenpiloten keinesfalls auf Unkenntnis der Rechtslage berufen, kämen sie einem ministeriell erteilten Abschussbefehl nach. Was für sie bleibt, ist die Verweigerung.

Abgesehen von den juristischen Fallgruben der intendierten Anti-Terrormaßnahmen dürften vor allem auch die Implikationen des so genannten "globalen Krieges gegen den Terror", wie er zur Zeit im Irak und in Afghanistan mit mörderischer Brutalität geführt wird, das Kalkül von Schäuble und Jung bestimmen. Die unter dem Vorwand der Terrorbekämpfung betriebene Durchsetzung der Globalisierung mit militärischer Gewalt hat neulich 'Die Zeit' präzise beschrieben. "Es müssen Menschen sterben, damit der Westen qua Versuch und Irrtum lernt, internationale Sicherheit neu zu definieren", leitartikelte das hanseatische Leitmedium der Republik. Und in der Tat füllen die auf Kommando des "Neuen Rom" entsandten Anti-Terror-Schwadronen die Gräber in der islamischen Welt vornehmlich mit unschuldigen Zivilisten. Solch ruchloses Tun färbt indessen auch auf die tributleistenden Vasallen (Zbigniew Brzezinski) ab. So bekamen inzwischen wegen des "Tornado"-Einsatzes die deutschen Soldaten in Afghanistan den Beinamen "Wachhunde der Amerikaner".

Selbige tragen hierzulande nicht die Flecktarnuniform, sondern das distinguierte Ministergewand. Und schlagen, dem denkbar schlechtesten Vorbild huldigend, den vorgegebenen "amerikanischen Weg" ein. Freilich muss, wer den Terror des Krieges sät, gewärtigen, selbst wiederum solchen zu ernten. Sowohl die Imperialmacht als auch einige der ihr dienstbaren Koalitionäre mussten dies bereits schmerzlich erfahren. Die apokalyptischen Bilder von 9/11 vor Augen scheinen unsere Terrorminister - Grundgesetz hin, Grundgesetz her - felsenfest entschlossen, zu jedem denkbaren Mittel zu greifen, um die im Globalisierungskrieg selbst heraufbeschworenen Gefahren abzuwehren. Einzig das Bundesverfassungsgericht steht diesem Trachten noch im Wege. Und diese letzte Bastion des Rechts zu schleifen, haben sich Schäuble & Co. zum Ziel gesetzt - getreu dem Lehrsatz von Carl Schmitt, dass die Macht derjenige besitzt, der über den Ausnahmezustand entscheidet.


Jürgen Rose ist Oberstleutnant der Bundeswehr. Er ist aus rechtlichen Gründen gezwungen, darauf hinzuweisen, dass er in diesem Beitrag nur seine persönlichen Auffassungen darlegt.


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Quelle:
Forum Pazifismus - Zeitschrift für Theorie und Praxis
der Gewaltfreiheit Nr. 15, III/2007, S. 20-21
Herausgeber: Internationaler Versöhnungsbund - deutscher Zweig,
DFG-VK (Deutsche Friedensgesellschaft - Vereinigte
KriegsdienstgegnerInnen) mit der Bertha-von-Suttner-Stiftung der
DFG-VK, Bund für Soziale Verteidigung (BSV) und Werkstatt für
Pazifismus, Friedenspädagogik und Völkerverständigung PAX AN
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Dezember 2007