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STANDPUNKT/151: Verhandeln mit dem "Islamischen Staat"? (ZivilCourage)


ZivilCourage Nr. 3 - August 2016
Das Magazin für Pazifismus und Antimilitarismus der DFG-VK

Verhandlungen mit dem "Islamischen Staat"?
Eine pazifistische Lösung für den Terrorismus und den Syrien-Krieg

Von Thomas Carl Schwoerer


In einem Interview mit der Zeit sagte der ehemalige Außenminister Joschka Fischer: "Es gibt im Moment keine dominante Regionalmacht im Nahen Osten. Insofern erinnert das alles an den Dreißigjährigen Krieg. Keiner der regionalen Akteure ist stark genug, sich gegenüber den anderen durchzusetzen, weder die Iraner noch die Saudis, noch die Türken. Deshalb wird erst Erschöpfung Klarheit bringen." Dazu passt die Aussage des Chefs der Münchner Sicherheitskonferenz Wolfgang Ischinger, man solle den Islamischen Staat (IS) erst so weit wie möglich militärisch bekämpfen. Danach allerdings gelte: "Wenn man nicht mit den bösen Buben reden will (...), mit wem sonst will man denn reden? Natürlich muss man mit allen Bösen reden."

Manche mögen behaupten, die Zeit für Verhandlungen mit dem IS und der Al-Nusra-Front sei noch nicht reif und dass die beteiligten Parteien noch nicht erschöpft genug seien - trotz der 470.000 Menschenleben, die dieser Krieg schon gekostet hat. Es wäre jedoch sehr befremdlich und durchaus zynisch, wenn die Regierenden keinen anderen Weg als diesen gehen und dabei wissentlich Tausende von Menschenleben opfern würden. Eine solche Außenpolitik macht die Welt unsicherer.

Der Westen mit all seiner Macht hat am ehesten den Schlüssel in der Hand, um die richtigen Lehren aus der Geschichte des Terrorismus zu ziehen. Es ist nicht notwendig, die Kämpfe bis zur vollständigen Erschöpfung fortzusetzen. Deutlich vorzuziehen wäre eine Strategie, die sich die Politik Willy Brandts zum Vorbild nimmt. Brandt hat im Kalten Krieg nicht darauf gewartet, bis beide Seiten erschöpft waren, sondern ist initiativ geworden. Das ist Politik. Ab 1968 hat er die Entspannungspolitik in der Großen Koalition durchgesetzt, gegen Widerstände von CDU und CSU, aber mit Rückhalt in der Bevölkerung. Diese Entspannungspolitik handelte nach dem klugen Grundsatz "Solange verhandelt wird, wird nicht geschossen". Ihr Ergebnis war, dass im Gegensatz zum Aufstand des 17. Juni oder zum Prager Frühling keine Panzer mehr rollten, als es 1989 zur gewaltfreien Revolution in der DDR kam.

Schon 20 Jahre früher gab es auch in den USA eine starke gewaltfreie Bewegung, die das Ende des Vietnamkriegs durchsetzte.

Politischer Pazifismus ist die Notwendigkeit des Augenblicks

Halten wir uns weitere Beispiele von Politikern vor Augen, die alles daransetzten, ihren Kampf gewaltfrei zu führen: Mahatma Gandhi in Indien, Martin Luther King in den USA, Nelson Mandela gegen das blutige Apartheidregime in Südafrika sowie Václav Havel und Lech Walesa gegen den Stalinismus in ihren Ländern. Es fehlt laut Antje Vollmer, der ehemaligen Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags, nicht an Beweisen für die Qualität und Wirkungskraft des politischen Pazifismus - es fehlt an Politikern, die aus diesen Höhepunkten gewaltfreier Konfliktlösung friedensfördernde Konsequenzen für heute ziehen. Dabei könnte man an die historisch bedingte, notorisch kriegsunwillige Haltung der Bevölkerungsmehrheit anknüpfen, die trotz der ständigen moralischen Mobilmachung dem Menschenrechtsbellizismus misstraut.

Allerdings ändert sich nichts, wenn jeder nur für sich friedlich denkt. Eine Politik, die auf Verhandlungen setzt statt auf militärische Erschöpfung des Gegners, braucht Unterstützung aus der Bevölkerung.

Wenn man ernsthaft Verhandlungslösungen angegangen wäre, hätten sich alle Kriege der vergangenen Jahrzehnte verhindern beziehungsweise beenden lassen. Der politische Pazifismus ist keine Politik des Zuschauens, sondern setzt auf gewaltlose Konfliktbearbeitung; nicht Widerstandslosigkeit gegenüber dem Bösen, sondern Widerstand ohne Gewalt (Martin Luther King). Auch die pazifistische Einstellung ist nicht frei von moralischen Dilemmata, aber das geringere Übel - etwa im Vergleich zu den Tausenden von Opfern, die Kriege fordern.

Aus dem Afghanistankrieg lernen

Warum finden Kriege überhaupt statt? Gemäß den 1971 veröffentlichten und zuvor aus dem Ministerium entwendeten Pentagon-Papieren lauteten die amerikanischen Kriegsziele für Vietnam nur zu 10 Prozent Hilfe für Südvietnam, zu 20 Prozent Abwehr der Chinesen und zu 70 Prozent Wahrung des Gesichts der Vereinigten Staaten. Schon die Veröffentlichung dieser Information hat kräftig zur Ablehnung des Krieges beigetragen. Es steht zu befürchten, dass Gesichtswahrung auch in den aktuellen Kriegen an erster Stelle rangiert: Wir intervenieren militärisch und haben das Gefühl zu "helfen".

Durch die Invasion in Afghanistan wurde zwar die dortige Operationsbasis von Al-Qaida zerstört und ihre Führung musste untertauchen, das brutale Taliban-Regime wurde erfolgreich gestürzt und durch gewählte Volksvertreter ersetzt. Für diese wichtigen Errungenschaften war aber ein hoher Preis zu zahlen: In einem Krieg, der schon jetzt doppelt so lang dauert wie der Zweite Weltkrieg, wurden weit mehr afghanische Zivilisten getötet als Amerikaner am 11. September 2001, dem Anlass dieses Krieges. Die US-Regierung gab für Militäroperationen in Afghanistan zeitweilig pro Monat eine Milliarde Dollar aus. Die sozialen Verhältnisse waren vor der Invasion entsetzlich und sind es nach der kriegsbedingten Zerstörung des Landes erst recht - Afghanistan nimmt einen der letzten Plätze im Human Development Index ein. Mit der Opiumproduktion ist es noch viel schlimmer geworden. Weder die Demokratisierung der Gesellschaft noch die Durchsetzung elementarer Menschenrechte oder der Aufbau eines Rechtsstaates ließen sich erreichen. Der Krieg hat dem Land auch keinen Frieden gebracht: 2005 begannen die Taliban, sich militärisch zurückzumelden, und zahlreiche Warlords unterhalten im Land Privatmilizen. Zu Zeiten bin Ladens gab es allenfalls 1000 internationale Terroristen, heute dürften es 100.000 sein.

Die klügere Alternative zum Afghanistankrieg wäre gewesen, alles zu versuchen, um bin Laden zu verhaften. Die USA hätten der Welt zeigen können, wie sehr sie sich der Rechtsordnung verpflichtet fühlen, wenn sie dem sehr menschlichen Rachebedürfnis widerstanden und ihn stattdessen vor einem internationalen Gerichtshof von makellosem Ruf wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt hätten. So hätten sie selbst Skeptikern den großen Unterschied zwischen seinen und den amerikanischen Werten demonstriert und bin Ladens Ruhm demontiert.

Terroristen wollen als im Krieg mit uns liegend gesehen werden. Ihnen dies zuzugestehen heißt, ihnen zu gewähren, was sie wollen, statt es ihnen zu verweigern. Terroristen den Krieg zu erklären spielt ihnen in die Hände und verhilft ihnen in ihren Kreisen zu mehr Größe und Ruhm.

Die Doktrin von Härte und Gnadenlosigkeit facht den Terror weiter an

Aus diesem Grund wurde der Krieg gegen den Terror, der nur zu mehr Krieg, Chaos und Terror geführt hat, selbst nach 14 Jahren nicht gewonnen - und er kann auch niemals gewonnen werden. Es ist sehr schwierig, sich zum Sieger eines Krieges gegen den Terror zu erklären, vom Bösen ganz zu schweigen. Wenn siegen bedeutet, den Westen unverwundbar für terroristische Angriffe zu machen, werden wir niemals siegreich sein. Einen Konflikt in einen Krieg umzuformen, den man nicht gewinnen kann, ist ein großer Fehler. Das macht es den Terroristen viel zu einfach. Terrorgruppen können jederzeit einen Kämpfer in irgendein Café schicken, eine Bombe zünden lassen und damit demonstrieren, dass die mächtigsten Länder der Welt nicht in der Lage waren, sie zu schlagen. Kanzlerin Angela Merkel hätte deshalb besser darauf verzichtet, nach den Brüsseler Anschlägen vom 22. März 2016 anzukündigen, wir würden den Terrorismus besiegen.

Auch wenn es richtig ist, dass sich Terroranschläge besser als bisher verhindern lassen. Und natürlich kann noch vieles getan werden, um neue Anschläge zu verhindern. Die Haupttäter der Brüsseler Anschläge waren bereits zu hohen Freiheitsstrafen verurteilt, die sie nicht verbüßt haben - sie hätten im Gefängnis sitzen müssen. Laut dem grünen EU-Abgeordneten Jan Philipp Albrecht, stellvertretender Vorsitzender des Innen- und Justizausschusses, brauchen wir EU-weite Regeln für die Suche nach Terroristen und für den Austausch von polizeilichen und geheimdienstlichen Informationen sowie gemeinsame Ermittlerteams aus mehreren Ländern. Bisher ist stattdessen "die Polizeibehörde Europol weit entfernt von echter Schlagkraft, was nicht verwundern kann: Nur 5 von 28 Ländern teilen ihre sachdienlichen Erkenntnisse mit allen europäischen Partnern. Und Deutschland, dessen Innenminister im Fernsehen gerade wieder wichtige Augen macht, zählt nicht zu diesen fünf".

Die Doktrin von Härte und Gnadenlosigkeit hingegen hat den Terror nicht beendet, sondern facht ihn weiter an. Außerhalb Europas führt Gewalt gegen Terroristen häufig zu Leid in der Bevölkerung und kommt Vielen dort so vor, als würde nicht zwischen Terroristen und Zivilisten unterschieden, was die Bindungen der Terroristen zur Bevölkerung verstärkt und die Entfremdung vertieft, die diese zu uns empfindet. Militärische Maßnahmen unterlaufen zudem Diplomatie, Verhandlungen, Armutsbekämpfung und Bildung.

Stattdessen müssen wir erreichen, dass die normalen Mitglieder der Gesellschaft nicht bereit sind, jene zu unterstützen, die Zivilisten töten. Diese Messlatte liegt gar nicht so hoch. Manchmal gehen die Terrorgruppen selbst in den Augen ihrer Unterstützer zu weit. Am häufigsten geschieht das, wenn sie gemäßigte Meinungsführer oder besonders leicht verwundbare Menschen zu Zielen machen und etwa Kinder umbringen. Solche Fehler stellen für Regierungen eine große Chance dar, die öffentliche Meinung gegen die Terroristen zu mobilisieren. In der Vergangenheit haben Regierungen diese Möglichkeiten nur sehr selten genutzt.

Es ist ein realistisches Ziel, Terroristen zu isolieren und ihre potenziellen Rekruten gegen sie zu immunisieren. Einen Krieg gegen den Terrorismus als solchen führen und gewinnen zu wollen, ist es hingegen nicht.

Die eine, einfache, Lösung gibt es nicht

Ein Sprichwort besagt: "Für jedes komplexe Problem gibt es eine einfache Lösung. Und die ist garantiert die falsche." Den Israelis ist es nicht gelungen, mit ihrer überwältigenden Militärmacht im Libanon oder in den besetzten Gebieten Erfolg zu haben. Als Israel sich im Jahr 2000 vollständig aus dem Libanon zurückzog, war die Hisbollah eine stärkere Organisation als beim Einmarsch der Israelis 1982. Auch die Regierung von Peru ist daran gescheitert, mit immer wiederkehrenden Angriffswellen des Militärs über die Guerillas des Leuchtenden Pfads zu siegen. Diese wurden stattdessen von einer 70 Mann starken geheimen Einheit der peruanischen Polizei zerschlagen. In Indien, Indonesien und auf den Philippinen haben Muslime Selbstmordattentate gegen die militärisch überlegenen europäischen und amerikanischen Kolonialmächte verübt. Weder den britischen noch den französischen oder spanischen Behörden gelang es, diese Strategie mit verbesserter Polizeiarbeit oder militärischer Vergeltung zu durchkreuzen. Die Selbstmordattentate endeten erst, als sich das politische Klima insgesamt wandelte.

Es gab auch ein paar militärische Siege, die hier nicht verschwiegen werden sollen. Vor allem in Südamerika wurde die Armee erfolgreich gegen Terrorgruppen eingesetzt. Die Truppen handelten aber auf eine Art und Weise, die demokratischen Prinzipien absolut widerspricht: Die Militärregierungen von Argentinien, Brasilien und Chile ersetzten Terrorismus durch Staatsterrorismus einschließlich des mutwilligen Missbrauchs von Gewalt und begingen massive Menschenrechtsverletzungen. Keine Regierung könnte so das Recht des Gesetzes durch das Recht der Gewalt ersetzen und dabei demokratisch bleiben.

In Tschetschenien geschah Ähnliches. Der Krieg dort hat die Terrorbewegung zudem radikalisiert, mit schlimmen Folgen. Ursprünglich waren die tschetschenischen Terroristen nur Nationalisten, die von Russland unabhängig werden wollten. Doch dann unterwanderten radikale Islamisten die tschetschenischen Gruppen, die seither immer weniger bereit waren, ihre Gewaltanwendung einzugrenzen und sich auf ausgehandelte Kompromisse einzulassen. Einige ihrer Anschläge, etwa das Massaker in der Schule von Beslan, bei dem 551 Menschen einschließlich 186 Kindern starben, zählen zu den ruchlosesten Aktionen, die je von Terroristen , durchgeführt wurden. Später internationalisierte sich ihr Aktionsradius sogar bis nach Amerika. Der Anschlag auf den Boston-Marathon 2013 wurde von zwei aus Tschetschenien stammenden Tätern verübt. Tschetschenen gehören auch zu den Rekruten und dem Ausbilderpersonal des IS.

Die Spirale der Gewalt durchbrechen

Carl Friedrich von Weizsäcker hat mir Vor Jahrzehnten den wichtigsten Grund für meine Kriegsdienstverweigerung geliefert. Er schrieb: "Man kann zwar Gewalt durch Gewalt eindämmen, man wird aber immer die Folgen zu tragen haben, dass man sich dem Prinzip, das man bekämpfe, unterworfen hat. (...) Die Meinung (...), man könne gewissermaßen zum letzten Mal Gewalt anwenden und - weil die Gewalt für das Gute ausgeübt wird - danach werde dann das Gute herrschen und nicht die Gewalt, ist einer der gefährlichsten Irrtümer und eine der Hauptquellen mörderischer Kriege."

Zu den häufigsten Motiven von Terroristen zählt der Wunsch nach Rache. Jeder im Krieg getötete Zivilist löst Rachegefühle bei seinen Angehörigen aus und steigert deren Bereitschaft, sich Terroristen anzuschließen. Wie schon Nelson Mandela zum Umgang der Israelis mit den Palästinensern sagte: Aus jedem getöteten Terroristen erwachsen zehn lebende Terroristen.

Bertha von Suttner, die vor bald 125 Jahren die Deutsche Friedensgesellschaft gründete und den Weltbestseller Die Waffen nieder! veröffentlichte, schrieb darin: "Keinem vernünftigen Menschen wird es einfallen, Tintenflecken mit Tinte, Ölflecken mit Öl wegwaschen zu wollen. Nur Blut, das soll immer wieder mit Blut ausgewaschen werden." Das ist erstaunlich aktuell und wir sollten es uns immer wieder in Erinnerung rufen. Wenn wir den Konflikt in Syrien wirklich beenden wollen, müssen wir die Spirale der Gewalt durchbrechen.

Planlos, ziellos, sinnlos

Man sollte meinen, dass die Staatengemeinschaft aus all diesen historischen Erfahrungen die richtigen Lehren ziehen würde. Dabei besteht mittlerweile eigentlich ein Konsens, dass es keine militärische Lösung des Syrienkrieges und des Terrorismus gibt. Nichtsdestotrotz wurden von August 2014 bis Februar 2016 rund 11.000 Luftangriffe mit 38.000 Bomben und Raketen geflogen. Der Erfolg ist minimal im Vergleich. zu dem, was sie angerichtet haben, auch wenn der IS ein Viertel seines Gebietes verloren hat. Es kann uns nicht gleichgültig lassen, dass Krankenhäuser und Schulen in Rakka und anderswo durch Bomben zerstört werden.

Deutschland setzt dort Tornado-Aufklärungsflugzeuge, eine Fregatte zum Schutz eines französischen Flugzeugträgers, mindestens ein Airbus-Tankflugzeug und Satellitenaufklärung ein. Wer Ziele aufklärt, damit sie bombardiert werden können, ist genauso Verantwortlich für die Zerstörung wie der, der dann die Bomben abwirft.

Möglicherweise nutzt die Türkei die Aufklärungsergebnisse der Tornados, die allen Nato-Partnern zur Verfügung gestellt werden, im Krieg gegen die PKK und die syrische Kurdenmiliz YPG. Dann würde die Bundeswehr Beihilfe zu diesem Krieg leisten.

Darüber hinaus hilft die Bundesregierung gescheiterten Staaten wie Afghanistan, ihr eigenes Militär aufzubauen und damit angeblich sichere Schutzzonen in einzelnen Regionen zu schaffen, damit sich Flüchtlinge dort statt bei uns niederlassen können. Als würden die dortigen Militärs das erreichen können, was hiesige Militärs nicht geschafft haben. Nebenbei liegt das im Interesse der deutschen Rüstungsindustrie, die Weiter Waffen in diese Länder liefern kann. Nicht ohne Grund zählt Deutschland trotz seiner Geschichte skandalöserweise zu den fünf Weltweit größten Rüstungsexporteuren. Das liegt auch daran, dass Kanzlerin Angela Merkel neben Diplomatie auf Waffenlieferungen als Mittel des politischen Einflusses setzt. Denn anders als Soldaten, deren Tod politische Rückschläge für die Kanzlerin bedeuten würde, sind Waffen ja nur Maschinen, die nicht sterben können.

Gegen militärische Maßnahmen in Syrien spricht auch, dass der IS gezielt Staudämme besetzt hat. Er kontrolliert alle großen Talsperren in Syrien und viele der wichtigen irakischen Dämme an Euphrat und Tigris. Damit könnte er, bevor er seine Gebiete nach einer militärischen Niederlage räumt, Städte austrocknen, fluten oder deren Gewässer verunreinigen oder vergiften.

Militärinterventionen des Westens haben die Destabilisierung des Nahen Ostens nicht abwenden können - das werden sie auch nie. Der Kampf gegen den Dschihadismus gleicht dem Kampf des Herakles gegen die vielköpfige, schlangenähnliche Hydra. Wenn diese einen Kopf verlor, wuchsen an dessen Stelle zwei neue, und der Kopf in der Mitte war unsterblich. Selbst wenn es gelänge, den IS und Al-Qaida zu besiegen, gäbe es weiterhin den Kopf in der Mitte, das Wahhabiten-Regime in Saudi-Arabien. Entsprechend müssen wir an diese Mächte mit anderen Mitteln als Krieg herantreten.

Nicht den gleichen Fehler in Libyen machen!

Auch libysche Soldaten soll die Bundeswehr nach den Vorstellungen der Bundesregierung militärisch ausbilden - sofern die beiden derzeitigen Parlamente dort eine Regierung der Nationalen Einheit beschließen. Die Mission soll zwar in Tunesien stattfinden, aber auch sie richtet sich gegen den IS. Der gleiche Fehler wie in Syrien und im Irak soll wiederholt werden.

In den ersten Wochen des Februar 2011 hat der Diktator Muammar al-Gaddafi den Aufstand des libyschen Volkes brutal unterdrückt. Als er aber merkte, dass der Westen ihn fallen lassen würde, bot er mehrfach vergeblich Verhandlungen an. Die seinen Sturz begründende Einschätzung, dass Gaddafi entschlossen gewesen sei, das eigene Volk zu massakrieren, beruhte weitgehend auf einem fehlerhaften Fernsehbericht des Senders Al Jazeera.

Gaddafis "Keine Gnade"-Botschaft vom 17. März richtete sich nur an die bewaffneten Rebellen von Bengasi und bot in Wirklichkeit jenen, die bereit waren, ihre Waffen niederzulegen, eine Amnestie und Ausreise nach Ägypten an. Es gibt keine Belege dafür, dass Gaddafi einen Völkermord am eigenen Volk durchführen wollte. Es waren die Rebellenfreunde der USA, die faktisch einen Genozid in Libyen verübten, und zwar an schwarzafrikanischen Gastarbeitern.

Nichtsdestotrotz haben vor allem Frankreich, Großbritannien und die USA Gaddafi durch Bombardements gestürzt. Zwischen 30.000 und 50.000 Menschen kamen dabei ums Leben.

Geraume Zeit nach dem Sturz Gaddafis bildete sich einerseits die mit Ägypten und den Vereinigten Emiraten Verbündete Regierung in al-Baida, die den Osten Libyens kontrolliert. Andererseits geben im Gegenparlament in Tripolis radikale islamistische Gruppen, die von der Türkei, Katar und dem Sudan unterstützt werden, und mit ihnen Verbündete Milizen den Ton an. Darunter sind auch Ableger der in Ägypten gestürzten Muslimbruderschaft.

In diesem durch Machtkämpfe zwischen den beiden Regierungen, gewalttätige Warlords, Mafiosi, Kriminelle, Korruption und eine drohende Pleite des Landes gekennzeichneten Chaos breitet sich der IS aus und beherrscht einen 500 Kilometer langen Küstenstreifen. Libyen ist dabei, das nächste Syrien zu werden. Und das Chaos droht auf Tunesien überzugreifen.

Die Bemühungen der Vereinten Nationen, die beiden konkurrierenden Regierungen zusammenzubringen, trafen auf starken Widerstand. Daraufhin hat im März 2016 ein von den Vereinten Nationen getragener und in Tunis ansässiger Präsidialrat die Macht an sich gezogen. Er wurde von den USA, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien sowie der EU als einzig legitime Vertretung des Landes anerkannt. Diese Regierungen drohten allen, die sich dem Präsidialrat widersetzen, mit Sanktionen.

Die USA, Frankreich, Großbritannien und Italien bereiten sich seit einiger Zeit darauf vor, militärisch gegen den IS in Libyen vorzugehen. Offiziell warten sie damit, bis dort eine Einheitsregierung gebildet ist und um Unterstützung bittet. Das hinderte jedoch weder die USA daran, ab Februar 2016 Luft- und Drohnenangriffe zu fliegen, noch amerikanische, britische und französische Spezialkräfte, einen geheimen Krieg dort zu führen.

Es war ein Fehler, Gaddafi zu stürzen genau dann, als auch andere Länder wie Irak, Syrien oder Ägypten im Chaos versanken.

Laut US-Präsident Barack Obama war es der "schlimmste Fehler" seiner Amtszeit, dass es keinen Plan für den Tag nach der Intervention in Libyen gab, die ihm damals eine gute Idee zu sein schien.

Libyen ist ein weiteres Beispiel dafür, dass militärische Interventionen zu nichts als Leid und Chaos führen. Sie ersetzen keine Verhandlungslösung mit dem IS und anderen Dschihadisten.

Eine politische Lösung für Mali!

Auch für den Konflikt in Mali steht eine politische Lösung noch aus. Die Vereinbarung von 2014, die dem Waffenstillstand zwischen Tuareg-Rebellen und Regierung zugrunde liegt, ist extrem wackelig und kurzfristig angelegt. Seit den 1960er-Jahren fordern die Tuareg im Norden Malis einen unabhängigen Staat. Doch nicht einmal föderale Strukturen, die Anerkennung ihrer kulturellen Eigenständigkeit und der Zugang zu grundlegenden sozialen Leistungen stehen zur Diskussion. Solange es keine politische Lösung gibt, die diese Anliegen der Bevölkerung im Norden berücksichtigt, sind ein Waffenstillstand und seine militärische Sicherung völlig unzulängliche Ersatzhandlungen.

Der Norden Malis gilt inzwischen als Rückzugsraum für islamistische Terroristen und als Durchgangsroute für den internationalen Waffenschmuggel. Dazu haben deutsche Firmen beigetragen, die beide Seiten im Libyenkrieg mit Rüstungsgütern belieferten. Diese sind anschließend in den Norden Malis gelangt.

Dschihadistische Gruppen wie Al-Qaida im islamischen Maghreb (AQMI) dürfen auch in Mali nicht am Verhandlungstisch sitzen. Wie will man weitere Anschläge von AQMI wie jene auf die Hotels in der Hauptstadt Bamako, der burkinischen Hauptstadt Ouagadougou, in Grand-Bassam in der Elfenbeinküste oder die Tötung von Blauhelmsoldaten verhindern, solange sich das nicht ändert?

Die Bundesregierung hat über 300 Soldaten nach Mali entsandte; bis zu 350 Weitere sollen folgen. Die dortige UN-Mission zur Sicherung eines Waffenstillstands gilt weltweit als gefährlichste "Peacekeeping"-Operation, mit bisher 72 getöteten Blauhelmsoldaten. Darunter könnten künftig auch deutsche Soldaten sein.

Schon seit 2012 heißt es, Deutschland müsse in Mali militärisch intervenieren und dieses Rückzugsgebiet für Terroristen räumen. Dieses Argument ist nicht stichhaltig. Terroristen können überall auf der Welt tätig sein. Sie brauchen dafür kein Staatsgebiet. Es reichen ein paar Zimmer aus, um einen Anschlag vorzubereiten. Die aktuelle Rechtfertigung für einen Bundeswehreinsatz in Mali lautet deshalb: Man müsse die Entstehung neuer Flüchtlingsbewegungen verhindern. Außerdem entlaste die Bundeswehr Frankreich in Mali' nach den Pariser Anschlägen. Das entbehrt jeder Logik - ein direkter Zusammenhang besteht nicht. Frankreich wird keine Bodentruppen nach Syrien schicken, erst recht nicht von Mali aus.

In Syrien herrscht seit Beginn des Krieges trotz des Eingreifens internationaler Truppen Chaos. Auch in Libyen und Afghanistan konnten die Dschihadisten nicht vollständig verdrängt werden. Warum also sollte eine Strategie, die in diesen Ländern versagt hat, in Mali funktionieren? Auch hier wäre eine politische Lösung unter Einbeziehung aller beteiligten Parteien, also auch der dschihadistischen Gruppen, für die Bevölkerung besser. Die umfangreichen Gold-, Phosphat-, Öl-, Gas- und Uranvorkommen in Mali könnten durch Verständigung und Verhandlungen dann zum Vorteil aller Akteure statt unter dem Druck militärischer Mittel abgebaut werden.

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Naivität und Realismus

Friedensideen werden von Militärbefürwortern oft als "naiv" und "unrealistisch" oder sogar "unverantwortlich" eingestuft. Militärische Interventionen gelten dagegen als "realistisch", "verantwortlich" und meistens "alternativlos". Dabei erfordern gewaltfreie Alternativen oft mehr Mut, Überzeugung und einen längeren Atem als Kriegseinsätze. Ganz abgesehen davon, dass Letztere fast immer ihre Ziele verfehlen. Wie der amerikanische Schriftsteller und Weltkriegsveteran Norman Mailer sagte: "Krieg zu führen, um wieder etwas in Ordnung zu bringen, taugt genauso viel wie ein Bordellbesuch, um eine Geschlechtskrankheit zu kurieren." Die Kriegsverluste an Menschen und Material, die physischen und psychischen Verstümmlungen sind so unfassbar, dass es eine Provokation des menschlichen Verstandes ist, diese Vorgänge als realistisch zu bezeichnen.

Frieden ist machbar und Friedenspolitik manchmal realistischer als "Realpolitik", die auf die Erschöpfung des Gegners setzt. Es ist nicht naiv, alles nur Mögliche zu tun, um Tausende von Menschenleben zu retten. Es ist hingegen naiv, auf Waffenlieferungen zu setzen. Denn diese Waffen geraten unweigerlich in die falschen Hände, beispielsweise des IS. Es ist außerdem naiv, Bombardements und Drohnenangriffe durchzuführen, denn jeder im Krieg getötete Zivilist löst Rachegefühle bei seinen Angehörigen aus. Dies steigert deren Bereitschaft, sich Terroristen anzuschließen.

Tiefes Mitgefühl und Solidarität sind angebracht, wenn Krankenhäuser und Schulen in Rakka, Mossul und anderswo durch Bomben zerstört werden. Ebenso wie wir Mitgefühl und Solidarität für die Opfer der Terroranschläge in Ankara, Bagdad, Bamako, Beirut, Brüssel, Diyarbak%iota;r, Grand-Bassam, Istanbul, Kabul, Labore, Ouagadougou, Paris, Suruc und Tunis ausdrücken.

Es kann weder eine militärische Lösung des Terrorismus noch des Syrienkrieges geben. Das sieht nach Umfragen auch die deutliche Mehrheit unserer Bevölkerung so.

Wir müssen politische Alternativen zu militärischen Scheinlösungen umsetzen. Wir müssen auch bereit sein, mit unbequemen Verhandlungspartnern zu sprechen. Das mag unvorstellbar scheinen, wenn man die Videos grausamer Enthauptungen sieht und noch immer unter den Eindrücken blutiger Anschläge steht. Aber die Frage ist doch: Wollen wir Feuer mit Feuer bekämpfen? Wollen wir einen Flächenbrand im Nahen Osten und Afrika in Kauf nehmen? Oder wollen wir den Menschen in Syrien, im Irak, in Afghanistan, Libyen und Mali zeigen, dass unsere demokratischen Werte, unser Rechtssystem stark und vertrauenswürdig sind?

Eine vernünftige Antiterrorstrategie sollte sich darauf konzentrieren, erstens herauszufinden, ob die Ziele der Terroristen verhandelbar sind, und zweitens die Terroristen von der sie unterstützenden Gemeinschaft zu isolieren. Ohne Rekruten können Terrorgruppen nicht wachsen. In den arabischen Ländern brauchen wir eine Erziehung der Jugend gegen den Terrorismus. Wir müssen die Länder des gesamten Krisenbogens von Marokko bis Pakistan wirtschaftlich und damit auch politisch stabilisieren und Mächte wie Saudi-Arabien davon abhalten, terroristische Gruppen weiterhin zu unterstützen. Wir sollten die Bevölkerung für uns gewinnen, statt sie weiter zu bombardieren.

Selbst wenn es gegen jede Wahrscheinlichkeit gelänge, den IS oder al-Qaida auszuschalten, werden an dessen Stelle wie bei der Hydra zwei neue Köpfe wachsen. Und der Kopf in der Mitte, das Wahhabiten-Regime in Saudi-Arabien, wird bleiben.

Unsere Verhandlungspartner können wir uns deshalb nicht aussuchen. Wer Frieden will, muss mit seinen Feinden verhandeln, nicht nur mit seinen Freunden. Konkret: auch mit dem IS und anderen Dschihadisten, um Waffenstillstände und politische Lösungen zu vereinbaren, die diesen Namen gerecht werden. Je länger die Bundesregierung damit wartet, desto schwieriger wird diese Aufgabe.

Eine diplomatische Lösung des Syrienkrieges und der Konflikte in der Region ist schwierig, aber machbar. Wenn wir verhindern wollen, dass der Krieg dort auf unbestimmte Zeit weitergeführt wird, sollten wir beginnen, grundsätzlichere Probleme zu lösen. Wir brauchen Verhandlungen zwischen Schiiten und Sunniten, zwischen Kurden und Türken, in denen jeweils beide Seiten aufeinander zugehen - so unrealistisch das im Moment scheinen mag.

Bringen wir solche Lösungen verstärkt in die öffentliche Diskussion! Fordern wir die Einstellung aller Bombardements und Rüstungsexporte!

Thomas Carl Schwoerer

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Thomas Carl Schwoerer: Mit dem IS verhandeln? Neue Lösungen für Syrien und den Terrorismus.
München 2016, 112 Seiten, 7,99 Euro

Mitte Juni ist von DFG-VK-Bundessprecher Thomas Carl Schwoerer das Buch "Mit dem IS verhandeln? Neue Lösungen für Syrien und den Terrorismus" erschienen. Er hat darin die Überlegungen ausgearbeitet, die er erstmals Ende letzten Jahres unter der Überschrift "Verhandeln statt schießen" in der ZiviICourage veröffentlicht hat (Ausgabe 5/2015).

Der hier abgedruckte Beitrag ist dem Buch entnommen, der Text im Kasten (auf Seite 9 der Druckausgabe) ist das Nachwort "Naivität und Realismus" des Buches.

Schwoerer ist gerne bereit, Lese- und Diskussionsveranstaltungen zu seinem Buch zu machen - Kontaktaufnahme schwoerer@dfg-vk.de


Inhaltsverzeichnis des Buches

Vorwort: Verhandeln statt schießen! (7) • Eine politische Lösung des Syrienkrieges (11) • "Kurdischer Herbst" oder "kurdischer Frühling"? (13) • In Syrien wird ein Stellvertreterkrieg geführt (15) • Rüstungsexporte einstellen! (16) • Ein Stabilisierungsplan (19) • Den Terrorismus austrocknen (21) • Ein Waffenstillstand (22) • Verhandlungen auch mit dem IS! (25) • Keine Verhandlungsbasis? (26) • Darf man mit mordenden Fanatikern verhandeln? (28) • Mit Terroristen wird verhandelt - oft sogar erfolgreich (30) • Der Hitler-Vergleich (39) • Warum Gespräche immer das Mittel der Wahl sind (41) • Mit wem beim IS verhandeln? (43) • Verhandlungen auch mit der Al-Nusra-Front! (44) • Will der IS überhaupt verhandeln? (45) • Eine Teilung Syriens und des Irak? (50) • Warum der IS im Irak und in Syrien unterstützt wird (55) • Das Besondere am IS (58) • Kämpfen bis zur Erschöpfung? (63) • Politischer Pazifismus ist die Notwendigkeit des Augenblicks (65) • Aus dem Afghanistankrieg lernen (66) • Die Doktrin von Härte und Gnadenlosigkeit facht den Terror weiter an (68) • Die eine, einfache Lösung gibt es nicht (70) • Die Spirale der Gewalt durchbrechen (72) • Planlos, ziellos, sinnlos (73) • Nicht den gleichen Fehler in Libyen machen! (76) • Eine politische Lösung für Mali! (78) • Nachwort: Naivität und Realismus (81) • Über den Autor (85) • Anmerkungen (87) • Literatur (95) • Register (105)


Focus-online-Interview mit DFG-VK-Bundessprecher Schwoerer, veröffentlicht am 16. Juni
(www.focus.de/fotos/der-verleger-thomas-carl- schwoerer_id_5659615.html)

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Quelle:
ZivilCourage Nr. 3 - August 2016, S. 4 - 9
Das Magazin für Pazifismus und Antimilitarismus der DFG-VK
Herausgeberin: Deutsche Friedensgesellschaft -
Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen e.V. (DFG-VK)
Werastraße 10, 70182 Stuttgart
Redaktion: ZivilCourage, Werastraße 10, 70182 Stuttgart
Telefon: 0711 - 51 89 26 20, Telefax: 03212 - 102 82 55
E-Mail: zc@dfg-vk.de
Internet: www.zc-online.de
 
Erscheinungsweise: zweimonatlich, sechs Mal jährlich
Jahres-Abonnement: 14,00 Euro einschließlich Porto
Einzelheft: 2,30 Euro


veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Oktober 2016

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