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VERBAND/029: Europapolitik ist auch eine Aufgabe der HU (Mitteilungen)


MITTEILUNGEN Nr. 198, III - September 2007
Humanistische Union für Aufklärung und Bürgerrechte

Europapolitik ist auch eine Aufgabe der HU

Von Björn Schreinermacher


Vorbemerkung der Redaktion: Nach dem EU-Workshop im vergangenen Jahr gab es verschiedene Ideen, wie die HU ihre europoapolitische Kompetenz erweitern und das Ziel einer stärkeren europäischen Ausrichtung ihrer Aktivitäten verfolgen könnten. Björn Schreinermacher und Christian Hiepe geben mit den beiden folgenden Beiträgen Anregungen, wie die HU europäischer agieren könnte. Ihre Ideen wollen wir auf der Delegiertenkonferenz in Hannover vertiefen.

Die Humanistische Union versteht sich als bundespolitische Bürgerrechtsorganisation. Sie konzentriert sich auf die Grundrechte der Menschen in Deutschland und verweist dabei auf eine lange und erfolgreiche Tradition. Die Aufforderung, sich künftig verstärkt Themen der Europäischen Union zu widmen, mag daher den einen oder anderen irritieren oder gar auf Ablehnung stoßen. Dennoch kommt die HU in Zeiten einer europäischen Innenpolitik nicht mehr darum herum.


Die EU und die Vorratsdatenspeicherung

Ein aktuelles Beispiel für die Notwendigkeit einer europäischen Bürgerrechtsarbeit ist die EU-Richtlinie zur Vorratdatenspeicherung. Darüber, dass die pauschale Speicherung von Kommunikationsdaten ein nicht zu tolerierender Eingriff in die Grundrechte der Privatsphäre und des Datenschutzes ist, bedarf es hier keiner Diskussion. Dennoch muss die Kritik auch die Entstehungsgeschichte der Vorratsdatenspeicherung berücksichtigen: Das Vorhaben, Telekommunikationsdaten europaweit auf Vorrat zu speichern, wurde 2002 erstmals von der dänischen EU-Ratspräsidentschaft aufgebracht, aber umgehend von den anderen Mitgliedern abgelehnt. Zwei Jahre später legten Frankreich, Irland, Schweden und Großbritannien einen neuen Entwurf für einen Rahmenbeschluss zur Vorratsdatenspeicherung vor. Der Entwurf sah deutlich längere Mindestspeicherfristen vor als die schließlich verabschiedete Richtlinie, ebenso waren erweiterte Möglichkeiten des Datenzugriffs vorgesehen.

Der neue Entwurf wurde auf europäischer Ebene kontrovers diskutiert, wobei sich die Diskussion vor allem auf die Form Regelung, weniger auf den Inhalt konzentrierte. Die Frage, ob ein EU-Rahmenbeschluss oder eine EG-Richtlinie die richtige Handlungsgrundlage wäre, entschied über die Beteiligung des Europäischen Parlaments und die Kontrollmöglichkeit durch den Europäischen Gerichtshof (EuGH). Dass die 2006 in Kraft getretene Richtlinie jetzt dem EuGH zur Prüfung vorliegt, verdeutlicht die Brisanz dieser Frage. Mit dem Umschwenken des Ministerrats im Jahr 2005 auf eine Richtlinie wurde auch das Europäische Parlament in den Entscheidungsprozess einbezogen. Die Parlamentarier erreichten eine Kürzung der Mindestspeicherfristen und eine Beschränkung der Datenzugriffe, letztendlich wurde das parlamentarische Engagement für eine bürgerrechtskonforme Regelung in einer Nacht-und-Nebel-Aktion ausgehebelt [1], am 15. März 2006 trat die Richtlinie in der vom Ministerrat gewünschten Form in Kraft.

In der Folge begannen europaweit Kampagnen gegen die Richtlinie und ihre nationalen Umsetzungsgesetze. Aber angesichts der beschriebenen zweijährigen Debatte über Form und Inhalt der Vorratsdatenspeicherung drängt sich die Frage auf, ob die öffentlichen Proteste gegen die Vorratsdatenspeicherung nicht schon viel früher hätte beginnen müssen.


Europäische Innenpolitik

Die Vorratsdatenspeicherung ist nur ein Aspekt eines Plans der europäischen Regierungen, die innere Sicherheitspolitik in Europa zu koordinieren und - soweit möglich - über die Rechtsetzungsinstrumente der EU verbindlich zu machen. Der größte Teil dieser aktuellen und künftigen Innenpolitik lässt sich im sogenannten Haager Programm aus dem Jahr 2004 nachlesen oder findet sich im gescheiterten Verfassungsvertrag und dem kürzlich geschlossenen Reformvertrag wieder. [2]

Die HU sollte einige Tatsachen erkennen: Die Bekämpfung von Organisierter Kriminalität und Terrorismus sowie die Steuerung von Flüchtlingsströmen werden in einem Europa der offenen Grenzen vor allem durch eine enge europäische Zusammenarbeit bewältigt. Die Innen- und Justizminister der Europäischen Union treffen dabei regelmäßig Entscheidungen, die Auswirkungen auf deutsche Grundrechte haben. Diese beiden Tatsachen mögen einem nicht behagen, ändern lassen sie sich allerdings nicht.

Zu den kritikwürdigen Tatsachen gehört vielmehr ein Prozess, der sich in der deutschen Legislative bei der Umsetzung europäischer Beschlüsse entwickelt hat. Denn eigentlich bedürfen die meisten Entscheidungen der EU noch immer der nationalrechtlichen Umsetzung und damit der Überprüfung und Gutheißung durch die nationalen Parlamente. Allerdings hat sich in beiden deutschen Kammern die Auffassung durchgesetzt, Parlament und Bundesregierung hätten die Verpflichtung gegenüber den europäischen Partnern, die gemachten Zusagen rasch und ohne Komplikationen umzusetzen. Umsetzungsgesetze werden im Bundestag nur noch in geringem Maße problematisiert und damit im Grunde durchgewunken. Die Entschuldigung, die besagten Themen seien ja bereits diskutiert und entschieden, darf nicht gelten. Aber der Kern dieser Aussage, dass die Konzepte nicht mehr in Berlin, sondern in allen europäischen Hauptstädten zusammen und vor allem in Brüssel entwickelt werden, muss anerkannt werden. Der Prozess des Durchwinkens europäischer Entscheidungen droht sich zu verstärken. Das Volumen der europäischen Innenpolitik nimmt jährlich zu, immer neue Rahmenbeschlüsse und Richtlinien werden beschlossen. Mit dem Reformvertrag wird die innenpolitische Zusammenarbeit zudem ab 2009 durch mehrheitliche Beschlüsse des Ministerrats geformt. Der Widerstand einzelner Länder kann dann überstimmt werden. Der Erlass direkt anwendbarer Verordnungen wird ebenfalls zunehmen. Zwar verspricht der Reformvertrag auch eine verstärkte Beteiligung des Europäischen Parlaments. Allerdings werden im Gegenzug die nationalen Kontrollmechanismen leiden. Allein die Masse der Beschlüsse wird den nationalen Abgeordneten den Überblick über die ihnen vorliegenden Umsetzungsgesetze erschweren. Ganz davon abgesehen, dass die europäische Sicherheitspolitik weiter an politischem Gewicht gewinnen und der Druck auf die nationalen Parlamente zunehmen wird.


Was tun?

Natürlich ist es Aufgabe der Bürgerrechtler, von den deutschen Abgeordneten im Bundestag bzw. den Landtagen einzufordern, dass Gesetzesvorlagen, die auf Brüsseler Beschlüsse zurückgehen, sorgfältig zu prüfen sind. Allerdings werden die nationalen Einflussmöglichkeiten auf die Politik der inneren Sicherheit unweigerlich abnehmen und die herkömmlichen Lobbying-Wege für Bürgerrechtler nicht mehr ausreichen.

Was bedeutet das für die Bürgerrechtsarbeit? Die Anerkennung dieser Europäisierung innerer Sicherheitspolitik ist kein Plädoyer dafür, die bewährten Methoden der HU radikal zu verändern oder gar zu unterlassen. Aber sie müssen um eine europäisch orientierte Komponente ergänzt werden. Diese muss innenpolitische Themen bearbeiten, bevor zu ihnen bereits Beschlüsse in Brüssel getroffen wurden. Das ist ohne Zweifel ein hohes Ziel. Die HU muss künftig erkennen, welche Themen im Europäischen Parlament und Ministerrat diskutiert werden oder welche Themen in den Gremien der EU zur Entscheidung anstehen. Dafür muss sie in ihren eigenen Reihen Mitglieder mobilisieren, die über Medien und andere Informationswege den Überblick behalten. Und sie benötigt die Verknüpfung mit anderen Bürgerrechtsorganisationen, wie der britischen "statewatch", die über Erfahrungen mit der europäischen und internationalen Bürgerrechtspolitik verfügen.

Um Einfluss auf die europäische Politik zu nehmen, muss man nicht zwingend in Brüssel vor Ort sein. Der Streit um die Dienstleistungsrichtlinie hat gezeigt: Über das Zusammenwirken von engagierten Bürgern und Medien lässt sich ein politischer Druck erzeugen, der von der nationalen Ebene über die deutschen Vertreter in Brüssel auch auf die europäische Ebene gelangt. Im Zusammenschluss mit Gleichgesinnten in anderen europäischen Ländern kann eine Veränderungen der EU-Politik erzielt werden. Natürlich hinkt das Beispiel der Dienstleistungsrichtlinie in einer Hinsicht: Vorraussetzung für eine solche Mobilisierung ist immer eine ausreichende Medienöffentlichkeit und die entsprechende Aufmerksamkeit für das Thema in der Bevölkerung. Die Angst, durch Entscheidungen der EU den eigenen Arbeitsplatz zu verlieren oder Einbußen bei den Sozialstandards hinnehmen zu müssen, ist bei vielen Menschen größer als die Sorge, durch europäische Beschlüsse Teile ihrer persönlichen Freiheit aufgeben zu müssen. Die HU sollte es sich deshalb zur Aufgabe machen, die Menschen in Deutschland für europäische Themen zu sensibilisieren und deren Auswirkungen auf die Grundrechte aufzuzeigen. Das setzte allerdings voraus, dass diese Aufmerksamkeit auch innerhalb der HU vorhanden ist. Die HU muss deshalb ihren Mitgliedern bei der Weiterbildung zu Themen der europäischen Politik helfen.


Anstehende Themen

Für eine europäische Bürgerrechtsarbeit der HU lassen sich schon jetzt zahlreiche Themen erkennen: Das Grundrecht, welches momentan durch europäische Regelungen am stärksten beschnitten wird, ist das Recht auf die informationelle Selbstbestimmung. Allein bei der Betrachtung des erwähnten Haager Programms fällt eine Fülle geplanter Maßnahmen auf, mit denen personenbezogene Daten der EU-Bürger zusammentragen werden. Neben der Vorratsdatenspeicherung betrifft dies etwa das Visa-Informationssystem, das erneuerte Schengener Informationssystem (SIS II) und den im Juli neu vereinbarten Transfer von Fluggastdaten zwischen der EU und den USA. Die damit verbundenen Grundrechtseingriffe werden von weiten Teilen des Europäischen Parlaments harsch kritisiert. Die HU kann dieser Kritik auf nationaler Ebene argumentative Schützenhilfe leisten.

2005 hat die EU-Kommission eine Transparenzinitiative gestartet mit dem Ziel, die Verwaltungs- und Rechtsetzungsverfahren der EU transparenter zu gestalten. Zu dem im letzten Jahr aus dieser Initiative hervorgegangen Grünbuch hat die Humanistische Union bereits eine Stellungnahme abgegeben. [3] Nachdem wir uns in den letzten Jahren erfolgreich in die Debatte über das deutsche Informationsfreiheitsgesetz eingebracht haben, sollten wir überlegen, inwiefern wir uns noch stärker an dieser offenen Debatte beteiligen können. Darüber hinaus macht die Diskussion über Verfassungs- und Reformvertrag einmal mehr deutlich, dass die Strukturen der EU hinsichtlich Demokratie und Rechtsstaatlichkeit veraltet sind. Eine Einflussnahme auf die nun anstehenden Verhandlungen über den Reformvertrag erscheint ausgeschlossen. Dennoch müssen die Defizite der EU angesprochen werden, insbesondere da die Reformen nicht nur alte Fehler beseitigen, sondern auch neue schaffen werden. Das größte aktuelle Problem der europäischen Innenpolitik, nämlich die Zweiteilung in zwei verschiedene Kompetenzbereiche von EU- und EG-Vertrag, soll durch die Reformen behoben werden. Fraglich ist aber noch immer, ob dadurch tatsächlich auch die Kontrollkompetenzen von Europäischem Gerichtshof, Europäischem Parlament und der Datenschutzinstitutionen gestärkt und nicht nur die Umsetzung politischer Pläne beschleunigt werden. Das müssen europäische Bürgerrechtler im Blick behalten.


Erste Bewährungsprobe

Wahrscheinlich wird der Europäische Gerichtshof im nächsten Jahr seine Entscheidung über die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung fällen. Vieles spricht dafür, dass die Richter die falsche Handlungsgrundlage der Richtlinie bemängeln und einen Rahmenbeschluss einfordern werden. Die Diskussion um die Vorratsdatenspeicherung wird sich dann erneut auf die europäische Ebene verlagern. Dann sollte die HU in der Lage sein, rasch zu reagieren und nicht wieder abwarten, bis das Vorhaben erneut dem Bundestag vorliegt.


Björn Schreinermacher (europa@humanistische-union.de), Politologe, absolvierte 2006 ein Praktikum in der HU und bereitet derzeit seine Promotion zum Thema "Die europäische Innenpolitik und die Möglichkeiten bürgerrechtlichen Einwirkens" vor.


Anmerkungen:

[1] Das plötzliche Einlenken des Europaparlaments gegenüber Rat und Kommission im Dezember 2005 beschreibt folgender Artikel:
http://www.heise.de/newsticker/meldung/66854

[2] Ausführliche Informationen zur justiziellen Zusammenarbeit auf europäischer Ebene finden sich unter:
http://ec.europa.eu/justice_home/index_de.htm.

[3] Die Stellungnahme zum Grünbuch der EU ist auf den Internetseiten der HU zu finden unter:
http://www.humanistische-union.de/themen/europa_internationales/


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Quelle:
Mitteilungen der Humanistischen Union e.V.
Nr. 198, III - September 2007, S. 20-22
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Dezember 2007