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OFFENER BRIEF/055: Nord-Flüchtlingsräte kritisieren Abschiebungen über Rostock-Laage (Flüchtlingsrat M-V)


Flüchtlingsrat Mecklenburg-Vorpommern - Pressemitteilung vom 17. Mai 2016

Nord-Flüchtlingsräte kritisieren Abschiebungen über Rostock-Laage:

Keine demokratische Kontrolle durch die Öffentlichkeit


Die Flüchtlingsräte der drei Bundesländer Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein und Hamburg kritisieren in einem offenen Brief an die Innenminister der drei Länder die ersten Sammel-Abschiebungen über den Flughafen Rostock-Laage am 10. Mai 2016 und den zwei darauf folgenden Tagen.

"Es ist schockierend, dass diese Abschiebung unter Ausschluss jeder Form der Öffentlichkeit stattgefunden hat," so Ulrike Seemann-Katz, Vorstands-Vorsitzende des Flüchtlingsrat MV. "Die Behörden entziehen sich somit der demokratischen Kontrolle durch die Öffentlichkeit. Sie nehmen bewusst in Kauf, dass die Abgeschobenen nicht jedes mögliche Rechtsmittel in Anspruch nehmen konnten."

Bei Abschiebungen am 10., 11. und 12. Mai waren 103, 48 und 52 Menschen abgeschoben worden. Ziel waren ausschließlich sogenannte "Sichere Herkunftsländer". Viele der Betroffenen lebten bereits längere Zeit in Deutschland und waren sozial hier verankert. In mindestens einem Fall kam es den Schilderungen der Angehörigen nach zu erheblichem Einsatz von Zwangsmitteln.

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OFFENER BRIEF

Flüchtlingsrat Mecklenburg-Vorpommern e.V.
Flüchtlingsrat Hamburg e.V.
Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein e.V.

Offener Brief an die Innenminister der Länder Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein sowie den Innensenator der Hansestadt Hamburg


Sehr geehrter Herr Caffier,
Sehr geehrter Herr Studt,
Sehr geehrter Herr Grote,

wir, die Flüchtlingsräte von Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein und Hamburg, wenden uns an Sie, um gemeinsam ein Zeichen gegen die aktuelle Abschiebe-Praxis in unseren Bundesländern zu setzen.
Anlass gibt die scheinbar offizielle Inbetriebnahme des Flughafens Rostock-Laage am 10.05.2016 als neuer Standort für die Durchführung von Abschiebungs-Flügen.
Diese Inbetriebnahme des Flughafens Rostock-Laage als neuer Abschiebe-Standort, und damit die Form der Umsetzung einer entsprechenden Neuerung, entbehrt jeder demokratischen Einbeziehung der Öffentlichkeit.

Im Vorfeld gab es zu keinem uns bekannten Zeitpunkt eine offiziell und öffentlich bestätigte Ankündigung zu der geplanten Nutzung des Flughafens als Durchführungsort von Zwangsrückführungen. Auch zeigt die Tatsache, dass am Dienstag, 10.05.2016, weder Unterstützer*innen noch Pressevertreter*innen vor Ort eine direkte Kontaktaufnahme zu den betroffenen Geflüchteten auf dem Flughafengelände gestattet worden ist. Dies ist eine bewusst gewählte Abschottung von Öffentlichkeit.

Für diejenigen von Ihnen, die mit dem Standort Rostock-Laage nicht vertraut sind: Es handelt sich um einen kleinen, für Passagierflüge eher unbedeutenden Regionalflughafen mit einer Frequenz von circa einem Flug pro Tag. Eine gute ÖPNV-Anbindung existiert nicht. Neben dem Flughafengelände befindet sich der militärische Standort der Euro-Fighter, die hier regelmäßig Probeflüge unternehmen. Auch die Mecklenburg-Vorpommersche Polizei-Hubschrauber-Staffel ist hier stationiert.

Am 10. Mai 2016 ist ohne die Einbeziehung der Presse oder einer anderen Form von Öffentlichkeit die erste Abschiebung von dort vorgenommen worden. Die Hälfte der 103 abgeschobenen Menschen sind Kinder. Es wurden weder zivilgesellschaftliche Organisationen, wie der Flüchtlingsrat MV, noch die anwesenden Journalist*innen zu den wartenden Menschen durchgelassen. Eine kritische Beobachtung oder fotografische Dokumentation des behördlichen Vorgehens waren somit nicht möglich.

Dies wiegt noch schwerer angesichts der Berichte von einigen Angehörigen einer Betroffenen: Demnach ist eine Frau abgeschoben worden, obwohl den Behörden Kenntnisse über die psychische Erkrankung der Person vorlagen. Vor Ort fand zudem eine erschütternde, unwürdige Behandlung dieser Frau statt. Sie wurde fixiert und geknebelt an Händen und Füßen von zwei Beamten der Bundespolizei in den Terminal-Bereich getragen. Durch die Abschiebung wurde die Frau von ihrer Familie getrennt: Ihr Ehemann und eine Tochter sind in Deutschland geblieben.

Gerade solche Vorkommnisse zeigen, dass behördliches Handeln in diesem Kontext nicht per se als verhältnismäßig bezeichnet werden kann und Transparenz sowie kritische Beobachtung dringend gewährleistet werden müssen. Eine emotional aufgeladene und psychisch belastende Situation, die eine Abschiebung in der Regel darstellt, bedeutet in vielen Fällen eine Retraumatisierung der Betroffenen.

Es geht hier in der Mehrzahl um Menschen, die bereits längere Zeit in Deutschland gelebt haben und aus neuerdings "Sicheren Herkunftsländern" stammten. Die pauschale Ernennung der Balkan-Staaten zu "Sicheren Herkunftsländern" lenkt den Blick in den Fällen von Asylsuchenden aus diesen Ländern auf ihre Herkunftsländer. Eine rein rechtliche Beurteilung der Fälle, die zu entsprechender Härte der Behörden führt, macht die Lebens-Realitäten der Menschen hier vor Ort unsichtbar. Wer mehrere Jahre hier lebt, baut sich ein Leben, baut sich einen Alltag auf. Eine unangekündigte Abschiebung aus diesem Alltag ist respektlos. Sie spricht den Menschen ihre Würde ab. Sie erschwert es zudem, alle äußersten Rechtsmittel, wie z.B. Eilrechtsschutzanträge, auszuschöpfen.

Unter den am 10. Mai von Laage aus abgeschobenen Menschen waren etwa 50 Kinder. Diese hatten ebenso wenig wie ihre Eltern die Gelegenheit, sich auf die Abschiebung vorzubereiten. Sie konnten sich nicht von ihren Freundinnen und Freunden in der Schule verabschieden. Sie wurden früh morgens aus dem Bett geholt. Beides sind sehr belastende Situationen, die Erwachsene wie Kinder noch lange begleiten werden. Jede Abschiebung birgt diese psychische Form der Gewalt. Sie sollte niemandem, an keinem Ort, zu keiner Tages- oder Nachtzeit, zugemutet werden!

Wir kritisieren hiermit das Vorgehen des Senats und der Innenministerien scharf und fordern sie umgehend dazu auf:

Gewährleisten Sie uneingeschränkten Zugang von Anwält_innen und Rechtsberater_innen!
Erlauben Sie den Zugang von Menschenrechts- oder Monitoring-Organisationen!
Sichern Sie den Zugang für Presse!

In der Vergangenheit haben immer wieder Sammel-Abschiebungen aus den drei Bundesländern Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern und Hamburg stattgefunden. Meist sind diese von Hamburg aus Richtung der Herkunftsländer der Betroffenen geflogen. Bis 2015 gab es in Hamburg eine Abschiebungsbeobachtung durch die Diakonie. Der Abschluss-Bericht des Projekts nach 6 Jahren kann online nachgelesen werden.

Wir fordern für den Flughafen Rostock-Laage ein Konzept, das über diese Form der Beobachtung hinaus geht - sollte der Flughafen für weitere Abschiebungen genutzt werden.

  • Ein kritisches Monitoring von Abschiebungen beinhaltet die Anwesenheit der Presse. Es darf in demokratischen Verwaltungsabläufen keine Geheimnisse geben. Es darf nicht ausschließlich nur den ausführenden Organen obliegen, die Verhältnismäßigkeit von polizeilichen Maßnahmen, insbesondere Zwangs-Maßnahmen, zu beurteilen.
  • Noch am Flughafen muss eine aufenthaltsrechtliche Beratung durch parteiliche Flüchtlings-Organisationen oder Anwält*innen stattfinden. Insbesondere mit dem Hintergrund der Flächenländer MV und SH sowie der mangelnden sprachlichen Zugänge zur Beratungs-Infrastruktur kann nicht davon ausgegangen werden, dass jede*r der Abzuschiebenden eine ausreichende Beratung genossen hat. Der Zugang von Anwält*innen zum Flughafen ist nichts, was "im Einzelfall geprüft werden sollte", sondern muss grundsätzlich und ohne zeitliche Verzögerung gewährt werden.
  • Es bedarf der Anwesenheit von Psycholog*innen. Für Menschen, die dies in Anspruch nehmen möchten, muss Seelsorge zur Verfügung stehen.
  • Wenn es seitens der Betroffenen von Abschiebung den Wunsch gibt, zu Vertrauenspersonen oder Unterstützer*innen-Gruppen Kontakt aufzunehmen, muss diesem stattgegeben werden. Es geht hier z.B. darum, Unterbringung und Ankunft im Herkunftsland zu organisieren.

Wir fordern Sie auf, zu folgenden Fragen Stellung zu nehmen:

  • Warum waren am 10. Mai keine Medienvertreter*innen und kritische Beobachter*innen eingeladen bzw. mindestens zur Berichterstattung auf das Gelände zugelassen? Warum wurde die erste Sammel-Abschiebung aus MV so still und heimlich über die Bühne gebracht?
  • Wie häufig sind in nächster Zeit Abschiebungen per Flugzeug aus Mecklenburg-Vorpommern vorgesehen? Wie häufig wird es sich dabei um Sammel-Abschiebungen aus mehreren Bundesländern, wie Schleswig-Holstein und Hamburg handeln?
  • Wie positionieren Sie sich zu einer Abschiebe-Beobachtung in Rostock-Laage?

Wir bitten um eine zeitnahe Antwort auf unsere Fragen.
Mit freundlichen Grüßen,

die Flüchtlingsräte der Länder Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein und Hamburg



Flüchtlingsrat Mecklenburg-Vorpommern e.V.
Postfach 11 02 29
19002 Schwerin
Telefon: +49 (0)385 / 581 57 90
Telefax: +49 (0)385 / 581 57 91
E-Mail: kontakt@fluechtlingsrat-mv.de

Flüchtlingsrat Hamburg e.V.
Nernstweg 32 - 34
3. Stock
22765 Hamburg
Tel. 040 - 43 15 87
Fax 040 - 430 44 90
info@fluechtlingsrat-hamburg.de

Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein e.V.
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24114 Kiel
Tel. ++49 431 735 000
Fax ++49 431 736 077
office(at)frsh.de
www.frsh.de

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Quelle:
Flüchtlingsrat Mecklenburg-Vorpommern e.V.
Postfach 11 02 29, 19002 Schwerin
Telefon: +49 (0)385 / 581 57 90, Telefax: +49 (0)385 / 581 57 91
E-Mail: kontakt@fluechtlingsrat-mv.de
Internet: www.flüchtlingsrat-mv.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Mai 2016

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