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OFFENER BRIEF/101: Immobilienwirtschaft an den Kosten der Corona-Krise beteiligen (Pressenza)


Internationale Presseagentur Pressenza - Büro Berlin
Nachricht vom 3. April 2020

Immobilienwirtschaft an den Kosten der Corona-Krise beteiligen


Zum Schutz von Mieter*innen hat die Bundesregierung ein Gesetz [1] auf den Weg gebracht, das Kündigungen aufgrund von corona-bedingten Mietausfällen zwischen April und Juni 2020 ausschließt. Die Mietschulden bleiben aber bestehen und sollen bis Juni 2022 beglichen werden.

Dies wird für viele Mieter*innen nicht möglich sein. Auch der Vorschlag [2] des Deutschen Mieterbundes gemeinsam mit dem Verband der deutschen Wohnungswirtschaft, einen staatlichen Hilfsfond zur Übernahme der Mietschulden einzurichten, greift zu kurz. Dadurch würden die Kosten über Steuerzahlungen ausschließlich von der Allgemeinheit getragen, während die Immobilienwirtschaft nicht beteiligt würde.

Die 157 unterzeichnenden Wissenschaftler*innen unterschiedlicher Disziplinen, die sich mit der Wohnungsfrage beschäftigen, fordern dagegen corona-bedingte Mietschulden zu erlassen und gleichzeitig eine Härtefallregelung mit staatlichem Hilfsfonds für Vermieter*innen einzuführen, die drohen in die Insolvenz zu geraten.

Als Sofortmaßnahme fordern die Wissenschaftler*innen ein Moratorium von Kündigungen, Zwangsräumungen, Mieterhöhungen, Energie- und Wassersperren für Wohn- und Gewerbemieter*innen sowie die Unterbringung von Obdachlosen in Hotels und leerstehenden Wohnungen.

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Offener Brief von Wissenschaftler*innen zur Wohnungsfrage in Zeiten von Corona

Veröffentlicht am 2020-03-27


In der Corona-Pandemie wird wieder einmal deutlich, was das Zuhause für viele bedeutet: Es ist sicherer Rückzugsort, Ort der Gemeinschaft und - jetzt noch mehr als sonst - auch Ort des Arbeitens. Doch viele Menschen müssen durch die Auswirkungen der Corona-Krise nun um ihr Zuhause fürchten - sofern sie überhaupt eines haben -, weil sie ihre Miete nicht bezahlen können. Die Folgen der Corona-Krise treffen nicht alle Menschen gleich stark: Selbstständige verlieren ihr Einkommen teilweise ganz, für Angestellte mit niedrigen Einkommen bedeutet eine Reduzierung im Rahmen des Kurzarbeitergeldes, dass sie ihre Lebenshaltungskosten nicht mehr stemmen können, und für Menschen ohne Wohnung stellt sich zwar nicht die Frage nach Mietzahlungen, dafür aber nach erhöhter Ansteckungsgefahr in Unterkünften und bei Notübernachtungen. Auch Gewerbetreibende können ihre laufenden Kosten wie Mietzahlungen bei Einkommenseinbußen nicht begleichen.

Bei all diesen Problemen stellt sich die Frage: Wer zahlt für ihre Lösung? Die Bundesregierung hat ein Gesetz auf den Weg gebracht, das Kündigungen aufgrund von corona-bedingten Mietausfällen zwischen April und Juni 2020 ausschließt. Die Mietschulden bleiben aber bestehen und sollen bis Juni 2022 beglichen werden. Wer soll sie übernehmen? Wohn- und Gewerbemieter*innen werden nach dem Ende der Pandemie sicherlich nicht über ein höheres Einkommen verfügen, durch das sie die aufgelaufenen Mietrückstände abtragen könnten. Auch der Vorschlag, einen staatlichen Hilfsfond zur Übernahme der Mietschulden einzurichten, greift zu kurz. Warum sollte vor allem die Allgemeinheit über Steuerzahlungen für die Kosten aufkommen? Vielmehr muss auch die Immobilienwirtschaft unmittelbar beteiligt und Mietschulden erlassen werden. Darüber hinaus ist eine Härtefallregelung für Vermieter*innen einzuführen: Sollten sie aufgrund ausbleibender Mietzahlungen in die Insolvenz geraten oder nachweislich nicht in der Lage sein, Kredite zu bedienen, können sie die Rückzahlung dieser Kredite stunden. Sollten sie auch in Zukunft nicht in der Lage sein, die ausgefallenen Kreditraten zurückzuzahlen, können sie einen Härtefallantrag bei einem einzurichtenden Hilfsfond stellen. So werden Vermieter*innen und die Allgemeinheit der Steuerzahlenden gleichermaßen an den Kosten der Krise beteiligt, während gleichzeitig vermieden wird, dass Anbieter*innen von bezahlbarem Wohnraum, wie etwa Genossenschaften oder kommunale Unternehmen, in die Insolvenz getrieben werden, weil gerade sie knapp kalkulieren müssen.

Als Wissenschaftler*innen aus ganz unterschiedlichen Disziplinen beschäftigen wir uns mit Fragen der sozial gerechten Wohnraumversorgung. Unsere Vorschläge für einen Umgang mit der Wohnungsfrage in Zeiten der Corona-Krise - und darüber hinaus - sind:

Sofortiges Moratorium von Kündigungen, Zwangsräumungen, Mieterhöhungen, Energie- und Wassersperren für Wohn- und Gewerbemieter*innen

Wohnungs- und Obdachlose in Hotels und leeren Wohnungen unterbringen: Menschen in Unterkünften - in Notunterkünften für Geflüchtete, in Notübernachtungen für Obdachlose oder anderen Formen der Unterbringung - sind besonders der Ansteckung mit Covid-19 ausgesetzt, genauso wie Menschen, die dort arbeiten. Gleichzeitig stehen zahlreiche Hotelzimmer und Wohnungen leer, die eine Einzelunterbringung ermöglichen. Die Ausfälle von Einnahmen bei Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe müssen ersetzt werden.

Mieter*innen langfristig schützen: Durch die Corona-Krise anfallende Mietschulden müssen nicht zu einem späteren Zeitpunkt gezahlt werden, sondern werden durch die Immobilienwirtschaft getragen und, sofern dies nachweislich nicht möglich ist, durch einen einzurichtenden Hilfsfonds, an den sich in Not geratene Vermieter*innen wenden können.

Gewerbetreibende bei Verdienstausfall unterstützen: Ebenso wie der Ausfall von Wohnmietzahlungen darf auch das Ausbleiben der Zahlung von Gewerbemieten kein Grund für Kündigung sein.


Der offener Brief von Wissenschaftler*innen zur Wohnungsfrage in Zeiten von Corona mit Unterzeichnern ist zu finden unter:
https://zeitschrift-suburban.de/sys/index.php/suburban/announcement/view/72


Anmerkungen:
[1] https://dipbt.bundestag.de/doc/btd/19/181/1918110.pdf
[2] https://www.mieterbund.de/presse/pressemeldung-detailansicht/article/55328-kuendigungsausschluss-bei-mietzahlungsverzug-aufgrund-der-corona-krise.html


Der Text steht unter der Lizenz Creative Commons 4.0
http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/

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Quelle:
Internationale Presseagentur Pressenza - Büro Berlin
Reto Thumiger
E-Mail: redaktion.berlin@pressenza.com
Internet: www.pressenza.com/de


veröffentlicht im Schattenblick zum 7. April 2020

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