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BERICHT/001: Rechtlos und vertrieben - Asyl (SB)


Wir wollen die Isolation durchbrechen!

Demonstration niedersächsischer Flüchtlinge am 23. Juni 2012 in Hannover

Demonstrationszug mit Transparenten der Flüchtlingsbewegung - Foto: © 2012 by SK

Entrechtet, geduldet, gedemütigt - Aufschrei der Flüchtlinge in Deutschland
Foto: © 2012 by SK

Es ist wohl kaum der Meldung wert: In einem Flüchtlingslager in Hesepe im Emsland, einem niedersächsischen Landkreis, hat am vergangenen Sonntag, dem 24. Juni 2012, ein Mensch einen Selbstmordversuch unternommen. Aus diesem Anlaß fand zwei Tage später eine Demonstration in diesem Flüchtlingslager statt, um auf die Isolation sowie die Diskriminierung der hier untergebrachten Menschen aufmerksam zu machen [1]. Tatsächlich sind in einem reichen Land wie Deutschland, dessen soziale Verhältnisse ungeachtet der auch hierzulande zunehmenden Nöte marginalisierter Menschen, die sich einem immer massiver werdenden administrativen Zugriff als Hartz-IV-Empfänger oder Heimbewohner ausgesetzt sehen, als relativer Wohlstand bezeichnet werden können, Flüchtlinge mehr als unerwünscht. Flüchtlingspolitik ist eine Flüchtlingsabwehrpolitik geworden. Die rechtlichen, der Mehrheitsgesellschaft längst lästig gewordenen Grundlagen können aus formalen, das heißt verfassungsrechtlichen Gründen nicht einfach abgeschafft werden, und so wird die Menschenabwehr auf viele, viele Füße gestellt.

Sei es, daß notleidende Menschen, die vor Krieg, Vertreibung und Not aus ihren Heimatländern zu fliehen sich gezwungen sehen, an den Außengrenzen der Europäischen Union auf eine für sie oftmals tödliche Abschirmung treffen; sei es, daß Menschen aus fernen Ländern, die auf ihrer Odyssee durch eine Welt, in der sie nirgends willkommen zu sein scheinen, auf welchen Wegen auch immer hier in der Bundesrepublik Deutschland gestrandet sind, durch den ihnen auferlegten Status eines Flüchtlings resp. Asylbewerbers in einer Weise schikaniert und drangsaliert werden, die ihnen sukzessive jeden Lebensmut nimmt. Suizide und Suizidversuche, wie der eingangs erwähnte, kommen der Spitze eines Eisberg gleich, einer namenlosen physischen und psychischen Not, der tausende Menschen hier in Deutschland ausgesetzt sind, ohne daß dies zu nennenswerten Protesten der dominierenden politischen Parteien und gesellschaftlichen Kräfte je geführt hätte.

Am 23. Juni 2012 fand unter dem Motto "Break Isolation!" (Die Isolation durchbrechen!) in Hannover eine Demonstration statt, zu der der Niedersächsische Flüchtlingsrat wie auch die Flüchtlingsinitiative Niedersachsens aufgerufen hatten [2]. Kurz zuvor, am 19. Juni 2012, hatten die niedersächsischen Flüchtlinge zu einer Pressekonferenz geladen, um auf ihre eigene wie auch auf die Situation vieler anderer Menschen in den übrigen Bundesländern aufmerksam zu machen. "Unsere Kämpfe gegen die Isolation in einzelnen Lagern wie z.B. Meinersen und Bramsche haben zu keiner nennenswerten Verbesserung unserer Situation geführt, so dass wir uns gezwungen sehen, auf Landesebene zu protestieren, damit wir endlich die gleichen Rechte haben, wie alle anderen BürgerInnen", hatte es in der Einladung der Niedersächsischen Flüchtlingsinitiative geheißen. Thematisiert wurden denn auch Themen wie die Residenzpflicht, das Gutscheinsystem, die Wohnsitzregelungen und die für die Betroffenen zumeist erfolglos verlaufenden Bleiberechtsregelungen. Was sich hinter diesen nicht von ungefähr an Beamtendeutsch gemahnenden Begriffen verbirgt, ist eine Realität der Einschüchterung, Drangsalierung, systematischen Entmutigung und faktischen Entrechtung, von der die ganz überwiegende Mehrheit der in Deutschland lebenden Menschen, die sich als deutsche Staatsbürger nicht betroffen fühlen, aus guten oder vielmehr schlechten Gründen nichts wissen will.

Durch die Arbeit zahlreicher Flüchtlingshilfsorganisationen, kirchlicher wie sonstiger Initiativen und Gruppen, die nicht nur in Niedersachsen, sondern im gesamten Bundesgebiet sich der vielen Menschen annehmen, die aufgrund der Notlagen in ihren Heimatländern nach Deutschland kamen, hier jedoch von Menschen zu "Flüchtlingen" wurden, ist diese Thematik keineswegs gänzlich unbekannt. In Hannover nun haben sich die Betroffenen aufgemacht - und darin liegt zwar nicht unbedingt ein Novum, aber eine Entwicklung, die in den zurückliegenden Jahren in ganz Deutschland mehr und mehr um sich greift -, um nicht länger (allein) auf Unterstützung zu warten, sondern sich zu organisieren und mit gemeinsamen Aktionen und Protesten in einer Gesellschaft, die allem Anschein nach nichts von ihnen wissen will und mehrheitlich eine Gleichgültigkeit an den Tag legt, die nicht anders als brutal genannt werden kann, für die eigene Sache zu streiten.

Links im Bild Demonstranten, rechts Musikanten - Foto: Foto: © 2012 by SK

Flüchtlinge und ihre Unterstützer treffen zu Demonstrationsbeginn auf Musikantenzug
Foto: © 2012 by SK

"Wir haben es satt, ständig in Angst vor Abschiebung, unter Diskriminierung und Unterdrückung leben zu müssen", hieß es schon in der Einladung zu der Pressekonferenz der als geduldete Flüchtlinge in Niedersachsen lebenden Menschen. Dem Demonstrationsaufruf waren am Sonnabend, dem 23. Juni, rund 300 Menschen gefolgt. Wie aktuell ihr Bemühen, die Lage der Flüchtlinge verständlich zu machen und den nicht-betroffenen oder vielmehr den sich nicht betroffen wähnenden Menschen hier in Deutschland zu vermitteln, in welch einer Lage sie sich befinden, war auch einem Beitrag des Norddeutschen Rundfunks zu entnehmen, der unter dem Titel "Asylantrag abgelehnt, vergessen und verloren?" heute ausgestrahlt wurde und in dem das Schicksal eines Iraners geschildert wurde, der vor neun Jahren voller Hoffnungen nach Deutschland gekommen war, und, nachdem sein Asylantrag abgelehnt wurde, nach zwei Jahren, die er als "geduldeter" Flüchtling in einer Obdachlosenunterkunft in Reinbek zubringen mußte, völlig abgemagert und psychisch schwer erkrankt in ein Krankenhaus eingeliefert werden mußte.

Eine solche Entwicklung kann, auch wenn dies niemand zugeben würde, anhand der Fakten, die kaum einen anderen Rückschluß zulassen, nicht anders als gewollt und insgeheim auch beabsichtigt bewertet werden. Wäre dem nicht so, hätten die politisch Verantwortlichen längst zumindest den Status der "geduldeten" Flüchtlinge, die in diesem Status in der ständigen Angst vor Abschiebung leben müssen und infolge des Arbeitsverbots keine Möglichkeit haben, sich der zermürbenden Lagerunterbringung, dem sozial äußerst demütigenden Gutscheinsystem oder weiteren administrativen Repressalien zu entziehen und das zu werden, was in Deutschland angeblich gewünscht wird: ein "gut integrierter" Ausländer, der mit Eifer die deutsche Sprache lernt oder schon gelernt hat und nur zu bereit ist, berufliche Qualifikationen zu erwerben oder sich seinem Ausbildungsstand entsprechend beruflich zu betätigen.

Gefordert wurde auf der Demonstration unter anderem auch die Abschaffung der "diskriminierenden" Gesetze. Gründe, die gesamte Flüchtlingspolitik auf den Prüfstand zu heben, gibt es mehr als genug. Jerry Bagaza, Sprecher der Flüchtlinge aus dem Wohnheim Wolfsburg-Fallersleben, hatte die Situation der in Niedersachsen lebenden Flüchtlinge auf der Pressekonferenz vom 19. Juni unter anderem folgendermaßen geschildert [4]:

Wir leben in einer ungesunden Umwelt. Eine Umwelt, die nicht zuträglich ist für menschliches Leben. Zum Beispiel sind unsere kranken Brüder und Schwestern ohne angemessene Gesundheitsversorgung. Unser Wohnheim befindet sich neben Industrieanlagen, die sehr laut sind und Umweltverschmutzung verursachen. Wir leben dort zu dritt in einem Raum. In ein und dem selben Raum kochen und schlafen wir. Wir benutzen eine Toilette mit mehr als zehn Personen. Das Gebäude wird vernachlässigt. Im Winter leiden wir stark unter der Kälte, die durch die Türen und Fenster zieht. Die vor unserem Wohnheim entlangführende Straße ist gefährlich für uns und unsere Kinder, da dort schwere LKW durchfahren und es keine Verkehrsmaßnahmen wie z.B. Ampeln oder Hinweisschilder gibt. Auch die dortige Bushaltestelle ist nicht sicher und ohne Unterstand. (...)
Dies ist ein Leben an einem Platz ohne Hoffnung. Wir leben in ständiger Angst vor der Abschiebung, unserer eigenen oder der unserer Familienangehörigen oder unserer Freunde. Unser Leben und unsere Bewegungsfreiheit ist äußerst beschränkt, und wir haben nicht das Recht, dort zu leben, wo wir leben wollen. Wir haben keinen Zugang zu grundlegender Bildung. Wir leben unter der Bedrohung und den Gesetzen der Ausländerbehörde, mit dem einzigen Ziel, uns krank, depressiv und verrückt zu machen. Wir haben keine Aussicht auf eine Arbeitserlaubnis, ganz egal, wie lange wir schon in diesem Lager leben. Wenn wir Arbeit hätten, könnten wir Geld verdienen, um uns selbst zu ernähren, und wir bräuchten keine Unterstützung durch die Regierung. Wir könnten leben und unsere Steuern zahlen, wie jeder andere hier auch; ein normales Leben wie andere Leute leben. Wann können wir ohne Bedrohungen und Depressionen leben?

Menschen wollen arbeiten und dürfen es nicht. Sie wollen Steuern zahlen und dürfen es nicht. Sie wollen, wie Jerry Bagaz erklärte, "ein ganz normales Leben wie andere Leute leben" und dürfen es nicht. Die Frage nach den Gründen läßt sich, so absurd dies klingen mag, keineswegs plausibel damit erklären, daß es sich bei diesen Menschen um Flüchtlinge handelt.

Weltweit gibt es nach Angaben des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) 43,7 Millionen Menschen, die aufgrund von Kriegen, Hunger und den Folgen des Klimawandels zu Flüchtlingen geworden sind. Dies ist die höchste Zahl seit der Jahrhundertwende. Am stärksten sollen Afghanistan und der Irak von Flucht und Vertreibung betroffen sein. Die meisten Flüchtlinge aufgenommen, nämlich 1,7 Millionen Menschen, hat den Angaben zufolge Pakistan, ein nebenbeibemerkt keineswegs reiches Land. In Deutschland sollen, womit Deutschland unter den Industriestaaten einen Spitzenplatz einnehmen soll, über eine halbe Million Flüchtlinge untergekommen sein.

Asyl beantragt haben im vergangenen Jahr in Deutschland allerdings nur 45.000 Menschen. Sie voll und ganz in die deutsche Gesellschaft zu integrieren, indem sämtliche Sondergesetze abgeschafft werden, die sie zu Asylbewerbern, geduldeten oder sonstigen Flüchtlingen machen und damit systematisch ausgrenzen, wäre ein Leichtes, wenn es denn politisch gewollt wäre. Der gern und häufig angeführte Kostenfaktor entbehrt jeder echten Plausibilität, würden doch die Unterbringungskosten erheblich sinken, wäre es den Betroffenen erlaubt und ermöglicht, sich selbst zu finanzieren, indem sie eine Erwerbstätigkeit aufnehmen. Die mangelnde Unterstützung und politische Agitation der "deutschen" Bevölkerung, die dieses Problem, wenn überhaupt, als ein humanitäres begreifen will, ist sicherlich nicht geeignet, den erforderlichen politischen Druck aufzubauen, um dieser Flüchtlingspolitik den Garaus zu machen.

Dies sähe womöglich anders aus, würde die Frage, ob es sich beim Thema Asyl und Flüchtlingspolitik nicht um ein großangelegtes Sozialexperiment handeln könnte, bei dem am Beispiel von Menschen, die sich am allerschlechtesten wehren können, vor- und durchexerziert wird, wie und unter welchen Bedingungen eine Lagerunterbringung und faktische Entrechtung durchgesetzt werden können, mit Nachdruck gestellt und verfolgt werden. Unter dieser Prämisse wäre das politische und/oder humanitäre Engagement für die unter miserabelsten Bedingungen in Deutschland lebenden "Flüchtlinge" immer auch ein Engagement in eigener Sache, weil die Bereitschaft zu unterscheiden zwischen "denen" und "uns" als grundlegendes Mittel der Herrschaft des Menschen über den Menschen erkannt und abgelehnt werden würde.

Fußnoten:

[1] http://lagerhesepe.blogsport.eu/

[2] http://www.nds-fluerat.org/8245/aktuelles/aufruf-zur-demonstration-von-fluechtlingen-und-asylsuchenden-am-23-06-in-hannover/

[3] Asylantrag abgelehnt, vergessen und verloren? von Kathrin Erdmann, NDR Info, Sendedatum: 29.06.2012 07:38 Uhr,
http://www.ndr.de/regional/hamburg/asylbewerber117.html

[4] Übersetzung des Beitrages von Jerry Bagaza, Sprecher der Flüchtlinge aus dem Wohnheim Wolfsburg-Fallersleben, auf der Pressekonferenz der Niedersächsischen Flüchtlingsinitiative am 19.06.2012 in Hannover
http://www.nds-fluerat.org/wp-content/uploads/2012/06/Bericht-Jerry-Bagaza.pdf

29. Juni 2012