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BERICHT/038: Aufbruchtage - globalisierungs- und kapitalismusfreie Demokratie (SB)


Radikal-ökologische Demokratie - ein Zukunftsentwurf aus Indien

Referat von Ashish Kothari am 4.9.2014 an der Universität Leipzig


Der Referent am Rednerpult - Foto: © 2014 by Schattenblick

Ashish Kothari
Foto: © 2014 by Schattenblick

"Buen vivir and radical ecological democracy" (Gutes Leben und radikal-ökologische Demokratie) - unter diesem Titel fand auf der 4. Internationalen Degrowth-Konferenz in Leipzig eine wissenschaftliche Diskussionsveranstaltung statt mit Wissenschaftlern aus Ländern des globalen Südens, die den überwiegend aus dem Norden stammenden Konferenzteilnehmenden die Klimawandelproblematik aus ihrer Sicht nahebrachten und mit dem Stand der Forschung in Hinsicht auf die Frage, was zu tun sei, vertraut machten. Das ursprünglich aus den Andenstaaten stammende Prinzip "Buen Vivir" läßt sich mit einem "guten Leben" nur unzureichend übersetzen und hat mit Vorstellungen eines individualisierten Wohlstands wenig bis nichts gemein. Mit dem ursprünglich aus den indigenen Sprachen Boliviens und Ecuadors stammenden Begriff "Buen Vivir" wird eine fundamentale Abkehr westlich geprägter Wirtschaftskonzepte verbunden; er gilt, wie Karin Gabbert, die Leiterin des Referates Lateinamerika der Rosa-Luxemburg-Stiftung es formulierte, als "gegenhegemoniales Denken" [1].

Durch die Ablehnung des weltweit vorherrschenden Wachstumszwangs und der Frage nach einem fundamental anderen Leben, was völlig neue Formen von Produktion und Konsumtion, von Verteilung und Eigentum, Ge- und Verbrauch einschließen würde, besteht eine starke Verwandtschaft zu dem Degrowth-Konzept, das in zunehmendem Maße in vielen Regionen der Welt von Aktivistinnen und Aktivisten, kritischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aufgegriffen und im wechselseitigen Austausch weiterzuentwickeln versucht wird. Vielfach wurde auf der Leipziger Degrowth-Konferenz in Vorträgen, Referaten, Arbeitsgruppen und Diskussionen auf "Buen Vivir" Bezug genommen. Dieses aus amerikanischen Kulturen stammende Prinzip ist nicht der einzige Impuls aus den Ländern des globalen Südens zu der weltweiten Debatte darüber, wie dem Wachstumsdiktat mit Blick auf die Abwendung der drohenden Klimakatastrophen beizukommen ist.

In Indien arbeiten Umweltschützerinnen und -schützer schon seit geraumer Zeit an der Idee einer "radikal-ökologischen Demokratie". Um sie einer breiteren interessierten Öffentlichkeit bekanntzumachen, wozu die Leipziger Konferenz eine willkommene Gelegenheit bot, war der indische Soziologe Ashish Kothari nach Deutschland gekommen. Schon in den 1990er Jahren hatte er Umwelttechnik am Indischen Institut für Öffentliche Verwaltung unterrichtet, als Gastdozent war er an vielen Universitäten, Instituten und Forschungskollegs tätig. Kothari ist Gründungsmitglied der indischen Umweltgruppe Kalpavriksh und ist im Vorstand von Greenpeace International India aktiv, er hat über 30 Bücher verfaßt oder herausgegeben. Radikal-ökologische Demokratie ist sein aktueller Arbeitsschwerpunkt, zu diesem Thema sprach er am 4. September an der Leipziger Universität in der Veranstaltung "Buen vivir and radical ecological democracy".

Dem nachfolgenden Bericht über dieses Referat sei an dieser Stelle ein kleiner Exkurs über die soziale, ökologische und politische Situation Indiens vorangestellt, um - was dem Referenten angesichts der Kürze der ihm zur Verfügung stehenden Zeit sicherlich nicht möglich war - hiesigen Interessierten ggf. das Verständnis dafür zu erleichtern, wie brandaktuell in einem Land wie Indien heute schon die Fragen des Klimawandels sind.


Menschen in Not - Armut, Hunger, Überschwemmungen und Dürren in Indien

Einer Studie des "Intergovernmental Panel on Climate Change" [2] zufolge gehört Indien zu den 50 durch den Klimawandel besonders gefährdeten Staaten. Den Prognosen zufolge werden sich die Wasserressourcen Indiens noch mehr verknappen als sie es jetzt schon sind, die nutzbaren Ackerflächen werden weiter zurückgehen mit der Folge zusätzlicher Einschränkungen der landwirtschaftlichen Produktion, wodurch die Nahrungssicherheit für Millionen Menschen gefährdet wird. Angesichts des Hungers, der heute schon in vielen Teilen Indiens herrscht, kann von einer ausreichenden Versorgung der 1,2 Milliarden Menschen zählenden Bevölkerung ohnehin nicht die Rede sein. Wie einer Publikation der Bundeszentrale für politische Bildung zu entnehmen ist, leben große Teile der indischen Bevölkerung ohne Aussicht auf Verbesserungen in bitterster Armut, der wirtschaftliche Aufschwung habe ihre Not vielfach sogar noch verstärkt. [3]

Einem UN-Bericht zur menschlichen Entwicklung von 2013 zufolge leben 28,6 Prozent der indischen Bevölkerung in extremer Armut, weitere 16,4 Prozent gelten als armutsgefährdet - das sind rund 540 Millionen Menschen. Eine im Jahre 2012 von der regierungsunabhängigen Nandi Foundation veröffentlichte Studie besagt, daß 42 Prozent der Kinder unterernährt sind, weitere 17 Prozent sind infolge der Mangelernährung in ihrer Entwicklung zurückgeblieben. Der von der indischen Regierung in Auftrag gegebenen Nationalen Studie zur Familiengesundheit (National Family Health Survey) zufolge ist die Hälfte aller Todesfälle von Kindern unter 5 Jahren auf Mangelernährung zurückzuführen. Pro Jahr verhungern in Indien eine halbe Million Kinder. Die verheerenden Auswirkungen des Hungers auf die Gesundheit der Erwachsenen sind ebenfalls bekannt. Nach Angaben des Nationalen Büros zur Kontrolle der Ernährungssituation (National Nutrition Monitoring Bureau - NNMB) wurden bei 55 Prozent der Männer und 70 Prozent der Frauen Anämie (Blutarmut) sowie ein erheblicher Mangel an Vitaminen, Mineral- und weiteren wichtigen Nährstoffen nachgewiesen, 35 Prozent der Bevölkerung Indiens gelten als untergewichtig.

Weltweit gehört Indien zu den wenigen Staaten, die ein Wirtschaftswachstum aufweisen. Müßte dann nicht, wenn das Wachstumsversprechen auch nur einen Funken Substanz hätte, eine Verringerung des Hungers und gravierenden Nahrungsmangels festzustellen sein? Tatsächlich haben sich die im vergangenen Jahr von der Regierung per Gesetz ergriffenen Maßnahmen zur Gewährleistung der Ernährungssicherheit als weitgehend wirkungslos erwiesen, das Sozialsystem Indiens gilt als repressiv, da es die Menschen der untersten Schichten bzw. Kasten benachteiligt. Immer mehr Kleinbauern verlieren ihr Land, ein vorgeblich zu ihrem Schutz erlassenes Gesetz (Forest Rights Act) erbrachte nicht die versprochene Wirkung.

Diese Realität Indiens wird durch die Folgen des Klimawandels noch verschärft, und zwar nicht erst morgen, sondern schon heute. Anläßlich der UN-Klimakonferenz, die am 23. September in New York begonnen hatte, war in Neu-Dehli für die Rettung des Planeten demonstriert und von der indischen Regierung ein schnelles und umsichtiges Handeln gefordert worden. Der im Mai neugewählte indische Regierungschef Narendra Modi ließ sich auf dem Klimagipfel von Umweltminister Prakash Javedekar vertreten. An ihrer Marschroute ließ die neue hindunationalistische Regierung keinen Zweifel, hatte sie doch erklärt, die wirtschaftliche Entwicklung des Landes sei wichtiger als der Umweltschutzaspekt. Am Wachstumskonzept wird sie rigoros festhalten, ungeachtet der katastrophalen Ernährungslage der indischen Bevölkerung und der absehbaren Folgen des Klimawandels. Auf der Klimakundgebung in Delhi hatten Überlebende der Überflutungen in Jammu und Kaschmir gesprochen, die noch völlig unter den Eindruck des Erlebten standen. Wie 80.000 ihrer Landsleute hatten sie alles verloren durch eine Wasserwalze, die 2500 Dörfer vernichtete. Die indische Menschenrechtsaktivistin Vandana Shiva kritisierte Politik und Medien, weil Überflutungen, Erdrutsche und ähnliches als "Naturkatastrophen" bagatellisiert werden, obwohl sie von Menschen gemacht sind, die im Namen der wirtschaftlichen Entwicklung Raubbau an der Natur betreiben.

Doch Indien "brennt" nicht nur in sozialer wie ökologischer Hinsicht. Nach den Parlamentswahlen im Mai übernahm mit der Indischen Volksvereinigung (Bharatiya Jana Sangh, BJS) eine Partei die Regierung, die als politischer Arm der hindunationalistischen Bewegung gilt, in der die Bundeszentrale für politische Bildung eine Gefahr für die Demokratie Indiens zu sehen scheint [4]:

Es lässt sich also festhalten, dass der Hindunationalismus - der sich in den 30er und 40er Jahren stark am europäischen Faschismus und Nationalsozialismus orientierte - keineswegs auf einer friedfertigen Philosophie aufbaut.
Bis heute machen Vertreter des Hindunationalismus kein Hehl aus ihrer Bewunderung für Mussolini und Hitler. Sie sind zudem getrieben von der Idee, eine Hindu-Nation zu schaffen, die sich von der 1947 in die staatliche Unabhängigkeit entlassenen säkularen und demokratischen Republik Indien unterscheidet. Ein Versuch, den Weg in diese Richtung zu ebnen, war die Ermordung Mahatma Gandhis am 30. Januar 1948 durch einen Hindunationalisten. Gandhi galt als Mann des Friedens und der Gewaltfreiheit.

Am 9. September stattete Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier Indien einen Besuch ab mit dem Ziel, die Beziehungen Deutschlands zu dem Land, das zu China in Rivalität steht, zu intensivieren. Das wirtschaftliche Interesse lag in der Sicherung neuer Absatzmärkte für deutsche Unternehmen, außen- wie militärpolitisch zielt die von Berlin verfolgte Politik auf eine Einbindung Indiens in das westliche Bündnis ab. 2002 hatten die USA und die EU im Zusammenhang mit Pogromen in dem damals von ihm regierten Bundesstaat Gujarat gegen den jetzigen Ministerpräsidenten Narendra Modi wegen der antimuslimischen Positionen seiner BJP ein Einreiseverbot verhängt.

Nach den ersten hundert Tagen der Regierung Modi äußerte Ashish Kothari deutliche Kritik. Diese hundert Tage hätten Indien dem ökologischen und sozialen Selbstmord nähergebracht, so seine am 27. September veröffentlichte Einschätzung. Der Umweltwissenschaftler begründete dies mit einem systematischen und breitangelegten Angriff der neuen Regierung auf dem Schutz der Umwelt gewidmete Gesetze, Vereinbarungen und Institutionen, weitere Maßnahmen dieser Art würden noch folgen. Kothari zufolge gehen die indische Zentralregierung wie auch die der Einzelstaaten auf mehreren Ebenen gezielt gegen Nichtregierungsorganisationen vor, die sich für soziale oder Umwelt-Belange engagieren. [5]

Referent vor Schaubild mit der Aufschrift 'Radical Ecological Democracy - Learnings from India Towards a Sustainable and Equitable World' - Foto: 2014 by Schattenblick

Von Indien lernen ...
Foto: 2014 by Schattenblick


Radikal-ökologische Demokratie - ein Vorschlag aus Indien für eine nachhaltige und sozialgerechte Zukunft

Unter dem Titel "Churning the Earth" [6] hat Ashish Kothari gemeinsam mit dem indischen Umweltökonom Aseem Shrivastava ein Buch veröffentlicht, in dem sie das vorherrschende Wachstums- wie auch das Entwicklungskonzept gleichermaßen kritisieren und einen Vorschlag für eine radikal-ökologische Demokratie in Indien unterbreiten. Dies war auch die Qintessenz von Kotharis auf der Leipziger Degrowth-Konferenz gehaltenem Referat unter dem Titel: "Radical Ecological Democracy: A South Asian Quest for a Sustainable and Equitable Future" (Radikal-ökologische Demokratie - Erkenntnisse aus Indien für eine nachhaltige und gleichberechtigte Welt).

Für Ashish Kothari beinhalten die Begriffe "Entwicklung" bzw. "Globalisierung" zwei Aspekte. Der eine betrifft den Widerstand gegen die gegenwärtig vorherrschenden Ideologien und Prozesse, durch den wir uns den Raum und die Zeit verschaffen können, um Alternativen, die den zweiten Aspekt darstellten, zu erarbeiten und aufzubauen. Es gäbe bereits viele Initiativen, die sich für die Erfüllung der Grundbedürfnisse engagierten. Er habe von ihnen lernen und ihre Arbeit dokumentieren können. Bei ihnen handelt es sich um Gemeinschaften, die sagen: "Wir haben lange genug gewartet, daß die Regierung bzw. die Konzerne ihre Versprechen erfüllen, was sie - in den allermeisten Fällen - jedoch nicht tun. Deshalb werden wir selber aktiv, fordern aber zugleich unsere Regierung auf, ihrer Verantwortung nachzukommen." Zu den Grundbedürfnissen der Menschen gehört nicht allein die Versorgung mit Trinkwasser und Nahrungsmitteln sowie ein Dach über dem Kopf und medizinische Hilfe, sondern auch die Möglichkeit zu lernen, die Stimme zu erheben und sich an politischen Entscheidungen zu beteiligen.

Da in Indien Essen sehr wichtig sei, habe er seinen Vorschlag in Form eines Rezeptes aufbereitet, so Kothari. Die erste und wichtigste Zutat wäre eine neue Politik, sprich ein Modell direkter und radikaler Demokratie. Um ein Beispiel zu geben, schilderte der Referent ein Dorf in Zentralindien, in dem die Menschen sagen: "Unsere Regierung ist die in Mumbai, die wir gewählt haben, aber bei uns im Dorf sind wir die Regierung. Niemand außer uns trifft hier eine Entscheidung." Das gilt auch für Maßnahmen, die von einer Regierungsstelle beschlossen wurden und das Dorf betreffen: Ohne Zustimmung der Dorfversammlung sind sie nicht gültig. Das funktioniert schon seit 30 Jahren so. Die Dorfversammlung besteht aus allen Menschen, die in dem Ort leben, auch den Frauen und Kindern. Alle Entscheidungen werden gemeinsam getroffen.

Die Dorfversammlung stellt auch sicher, daß sie über die erforderlichen Informationen verfügt, um eine bestimmte Entscheidung treffen zu können. Dazu wird auf das eigene Wissen, die Traditionen vor Ort ebenso zurückgegriffen wie auf auswärtige Experten, die eigens zu solchen Zwecken eingeladen werden. In dem genannten Dorf war es in den zurückliegenden Jahren auf diese Weise gelungen, die Kontrolle über einen großen Teil des umliegenden Waldes vollständig zurückzugewinnen und damit ein Kapitel kolonialer Geschichte endgültig abzuschließen. Jetzt befindet sich der 1800 Hektar große Wald in der Hand der kleinen Gemeinschaft, die nun durch eine nachhaltige Bambus-Ernte für sich Geld verdienen kann. Über 10 Millionen Rupien konnten eingenommen und in einen Fonds eingezahlt werden, der dafür benutzt wird, die Ernährungs-, Wasser- und Energieversorgung für alle sicherzustellen.

Von diesem Dorf ausgehend forderte der Referent die Zuhörenden auf, sich viele weitere Beispiele einer neuen Politik in Indien, aber auch weltweit vorzustellen, von einer direkten Demokratie, bei der die Macht von ländlichen wie städtischen Graswurzel-Gemeinschaften ausgehe und dann auf größere Kreise einwirke. Dies wäre eine "eingebettete" Demokratie, in der die Delegierten und Repräsentanten zwar wichtig, aber den Menschen vor Ort verpflichtet seien, was durch das Recht auf Widerruf und Beteiligung, öffentliche Anhörungen, Bürgerbegehren und dergleichen mehr gewährleistet werde.

Die gegenwärtige Form der sogenannten Demokratie würde dadurch vollkommen umgekrempelt werden. Ashish Kothari wies darauf hin, daß ein solches direktdemokratisches Politikverständnis die derzeitigen politischen Machtverhältnisse herausfordern würde. Bei der Suche nach einer in sozialer, kultureller wie ökologischer Hinsicht verantwortungsbewußteren Regierungsform stelle sich die Frage, ob die bestehenden nationalstaatlichen Grenzen überhaupt noch einen Sinn ergäben. Sollten wir uns vom Konzept des Nationalstaats verabschieden und darüber nachdenken, wie Entscheidungen getroffen werden könnten unter Berücksichtigung der Belange der vielen verschiedenen Völker, ihrer Kultur und Herkunft?

Die zweite Zutat für eine radikal-ökologische Demokratie jenseits von Entwicklung und Wachstum betrifft die Wirtschaft. Kothari stellte "Earthshastra", eine Wortzusammenfügung aus Englisch und Hindi, vor, was so viel wie "economics of permanence" (auf deutsch in etwa: dauerhafte Wirtschaft) bedeute, wie J. C. Kumarappa, ein als antiimperialistisch geltender indischer Ökonom, der in den 1930er Jahren eng mit Mahatma Ghandi zusammengearbeitet hatte, es formulierte. Kothari erläuterte diese Idee einer neuen Wirtschaft am Beispiel einer Textilkooperative in Westindien. Mehrere tausend Frauen haben eine Produktionsfirma gegründet und in gewissem Ausmaß die Kontrolle über den lokalen Markt übernommen. Die Entscheidungen, beispielsweise über das Einkommen, das die Frauen erzielen, werden demokratisch getroffen, d.h. alle bekommen den gleichen Verdienst. Viele Dörfer in Indien, die teilweise schon halb verlassen waren, haben sich aus eigener Kraft wieder aufgebaut, indem sie die lokale, traditionelle Ökonomie wiederbelebt oder auch neue Kooperativen gebildet haben.

Die Landflucht konnte dadurch schon vermindert oder sogar gestoppt werden. Die Migration vom Land in die Stadt ist ein weltweites Phänomen, es könne dazu kommen, daß die meisten Menschen in Megacities leben. Die Beispiele aus Indien zeigen, daß diese Entwicklung nicht unvermeidlich ist. In den Dörfern können Lebensverhältnisse geschaffen werden, die das Wegziehen aus Gründen der Not reduzieren. Es gibt sogar schon Dörfer, in die die Menschen aus den Städten zurückkehren, weil sie dort jetzt wirtschaftliche Optionen vorfinden, die ihnen ein Leben in Würde ermöglichen. Die neue Art zu wirtschaften beinhaltet eine Regionalisierung der Produktion und, was die Grundbedürfnisse betrifft, eine Selbstversorgung in Eigenverantwortung, wobei in einem kollektiven Prozeß die Kontrolle über Produktion und Konsumtion übernommen werde. Dies habe zur Folge, daß wir alle an dem einen oder anderen Punkt gleichermaßen Konsumenten und Produzenten - also Prosumenten - werden.

Bei der neuen Wirtschaft gehe es auch um eine Demonetarisierung, was nicht bedeutet, Geld komplett abzuschaffen, aber seinen hegemonialen Auswirkungen entgegenzutreten. Dabei werde mehr Gewicht auf lokale Tauschsysteme und -währungen gelegt sowie auf Formen des Teilens und Bekümmerns, die nicht auf Geld beruhten. Selbstverständlich müßten auch die ökologischen Grenzen der Erde berücksichtigt werden. Mit dem Zitat "Wenn Menschen hungern müssen, fehlt es nicht an Lebensmitteln, sondern an Gerechtigkeit" unterstrich der Referent seine Auffassung, daß die wirtschaftliche von der sozialen Frage nicht zu trennen sei.

In Südindien gibt es eine von Kleinbäuerinnen aus rund 80 Dörfern gebildete Kooperative, die kollektive Formen des Anbaus und der Nutzung von Ressourcen entwickelt und die traditionelle Vielfalt des Saatguts wiederentdeckt hat. In Abstimmung mit den Konsumenten wird dort biologischer Anbau betrieben. Es ist gelungen, Land für die Bäuerinnen zu erstreiten und in den Dörfern ein Verteilungssystem zu schaffen, das auch arme Menschen mit relativ preisgünstigen Nahrungsmitteln versorgt. Diese Kooperative hat einen umfassenden Wandel herbeigeführt und die dörfliche Wirtschaft und Gemeinschaft wiederbelebt. Der Status dieser Bäuerinnen als Dalits, wie die sogenannten Unberührbaren und am meisten unterdrückten Menschen in der indischen Gesellschaft genannt werden, hat sich fundamental verändert. Die Frauen dieser Kooperative sind inzwischen sogar Filmemacherinnen, sie betreiben ein Gemeinschaftsradio und unterhalten eigene Schulen.

Es geht also nicht nur um eine nachhaltige Landwirtschaft, sondern einen gleichermaßen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Wandel. Auf diesem Weg entsteht eine sozial gerechtere Gesellschaft. Als dritte Zutat benannte der Referent Gleichberechtigung zwischen Klassen, Kasten, den Geschlechtern und verschiedenen ethnischen Gruppen, den als behindert oder nicht behindert geltenden Menschen sowie auch im Verhältnis zwischen den Menschen und der übrigen Natur. Wissen bzw. Bildung stellen Kotharis Darstellung zufolge die vierte und letzte Zutat dar, wobei die Vielfalt sehr wichtig sei. Den Kindern seien bislang völlig falsche Dinge beigebracht worden; sie lernten, daß "ich", "ich" und "meins" wichtig seien. Doch es gäbe bereits Beispiele dafür, wie versucht werde, daran etwas zu ändern und ein Denken und Handeln im Kollektiv voranzubringen - Dorfälteste beispielsweise, die die Kinder mit den Geschöpfen und Pflanzen des Waldes vertraut machten. Forschung und Technologie sollten auf demokratische Weise betrieben werden, indem das Wissen allen zur Verfügung gestellt und nicht monopolisiert werde. Auch dafür gäbe es in Indien schon viele Beispiele.

Ashish Kothari vor Schaubild mit der Aufschrift 'Resistance is part of the alternative' - Foto: 2014 by Schattenblick

Keine Alternative ohne Widerstand
Foto: 2014 by Schattenblick

Damit wären die Zutaten für "Eco-swaraj", das indische Wort für eine radikale und ökologische Demokratie, beisammen, es fehlten nur noch die Gewürze. Radikal bedeutet nicht, extrem zu sein, sondern zu den Wurzeln zu gehen, und so drehe sich im Grunde alles darum, die Kontrolle über die politische Entscheidungsfindung zu gewinnen und auf eine ökologisch vernünftige und sozial gerechte Weise auszuüben. Anstelle einer Regierung oder eines Unternehmens sollte die kollektive Gemeinschaft im Mittelpunkt stehen. Die noch fehlenden "Gewürze" verortete der Referent überall dort, wo Menschen anfingen, sich miteinander zu vernetzen und Werte bzw. Prinzipien wie die radikal-ökologische Demokratie oder Degrowth, vielleicht auch noch etwas ganz anderes aus einem noch anderen Teil der Welt, zu verfolgen.

Für Ashish Kothari besteht die wirkmächtigste Idee in der weltweiten Verbindung all dieser Ansätze, die zwar aus den unterschiedlichsten ideologischen, ökologischen und politischen Zusammenhängen stammten, aber gemein hätten, eine ganzheitliche Transformation in Sachen Nachhaltigkeit, Gleichheit und Gerechtigkeit anzustreben, ohne sich mit einer grüngefärbten Ökonomie abspeisen zu lassen oder das bisherige System zu akzeptieren. Wir bräuchten einen fundamentalen Wandel über alle Grenzen zwischen rot und grün, Tradition und Moderne, dem globalen Süden und dem Norden, zwischen Vernunft und Spiritualität, zwischen indigenen und anderen Völkern hinweg. Bei einem solchen Dialog dürfe nicht außer acht gelassen werden, daß es auch gravierende Unterschiede gibt wie die geradezu generalstabsmäßige Ausplünderung des Südens.

Das sei auch der Grund, warum die Idee von Degrowth in den Ländern des globalen Südens keine nennenswerte Resonanz finden werde. Er selbst stimme nicht mit der Auffassung vieler Kollegen überein, daß wir Wachstum bräuchten, so Kothari. Es müsse eine eigenes Vokabular entwickelt werden, wofür es bereits eine Vielzahl konzeptioneller Vorschläge und Begriffe gäbe wie zum Beispiel "post-growth" (Post-Wachstum) oder auch "a-growth" (Nicht-Wachstum), wie es der französische Ökonom und Philosoph Serge Latouche, einer der Vorreiter von Degrowth, formulierte. Wichtig wäre auch, erklärte Kothari, nicht um Degrowth zu bitten und über alternative Wege zu einem "Eco-swaraj" bzw. dem "Guten Leben" zu sprechen. Je nachdem, wie die Bedürfnisse des Menschen definiert werden, könne dies aus Wachstum oder Degrowth resultieren. Der indische Umweltwissenschaftler schlug einen Dialog über die unterschiedlichen Ansätze inklusive der Frage vor, ob es einen Staat geben und wie er beschaffen sein sollte. Wer diesen gesellschaftlichen Diskurs anführen würde, ob politische Aktivisten, Bürgerinitiativen, etablierte Parteien, Gewerkschaften oder Wissenschaftler, ließ er offen.

Der Referent erklärte, daß er die Globalisierung nicht generell, sondern in ihrer privatisierten, von der Finanzwelt regierten Form ablehnen würde. Dem stünde eine andere Entwicklungsoption gegenüber, die eine 5000jährige Geschichte aufweise. Auf einem Markt in Leipzig habe er Mangos aus Indien gesehen. Ein solcher Austausch, auch in kultureller Hinsicht, sei doch phantastisch, so Kothari. Die große Frage sei, wie wir die finanzregierte Globalisierung verändern und aus dem, was wir im einzelnen bereits täten, eine so große politische Masse herstellen können, daß eine breitere Transformation ermöglicht und eine andere Globalisierung wahr werden könne.

Demonstranten und ein Transparent mit der Aufschrift 'Gutes Leben für alle' - Foto: © 2014 by Schattenblick

Credo einer Konferenz - Aktionsdemo am 6. September 2014 in Leipzig
Foto: © 2014 by Schattenblick


Fußnoten:


[1] Buen Vivir. Das Gute Leben jenseits von Entwicklung und Wachstum. Von Eduardo Gudynas in einer Übersetzung von Birte Pedersen und Miriam Lang. Als Broschüre in der Reihe "Analysen" der Rosa Luxemburg Stiftung erschienen.

[2] Das Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) ist die weltweit führende internationale Einrichtung für die Beobachtung des Klimawandels. Sie wurde 1988 vom Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) und der Weltorganisation für Meteorologie (WMO) eingerichtet und mit der Aufgabe betraut, aus wissenschaftlicher Sicht über den aktuellen Wissensstand zum Thema Klimawandel und seinen möglichen umweltbezogenen und sozio-ökonomischen Folgen zu informieren.

[3] Große Armut und zunehmende Ungleichheit. Die Kehrseite von Wachstum und wirtschaftlicher Entwicklung in Indien. Von Bharat Dogra, Übersetzung: Stefan Mentschel. Bundeszentrale für politische Bildung, 29.3.2014
http://www.bpb.de/internationales/asien/indien/189202/grosse-armut-und-zunehmende-ungleichheit

[4] Kampfansage an die Demokratie. Hindunationalisten schüren Vorurteile gegen Minderheiten in Indien. Von Teesta Setalvad, Übersetzung: Stefan Mentschel. Bundeszentrale für politische Bildung, 7.4.2014
http://www.bpb.de/internationales/asien/indien/44485/hindunationalisten

[5] http://www.epw.in/authors/ashish-kothari

[6] Churning the Earth. The Making of Global India. Von Aseem Shrivastava und Ashish Kothari, Penguin Books India, 15. Mai 2012


Bisherige Beiträge zur Degrowth-Konferenz in Leipzig im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → BÜRGER/GESELLSCHAFT → REPORT:


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12. November 2014


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