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BERICHT/039: Aufbruchtage - Gartenbrot und Schrebernot ... (SB)


Kollektiver urbaner Landbau als soziale Bewegung

Workshop an der Universität Leipzig am 4. September 2014



"Ist ein solidarisches Eßverhalten möglich?" Die im Diskussionsworkshop der Referentin Elisabeth Meyer-Renschhausen im Rahmen der Internationalen Degrowth-Konferenz am 4. September in Leipzig aufgeworfene Frage hätte zeitgemäßer nicht sein können. Angesichts der düsteren Prognosen hinsichtlich der ökologischen Zukunft der Welt hat auch in den westlichen Industrienationen ein Umdenken begonnen. Im Strudel der Unsicherheiten werden plötzlich Fragen aufgeworfen, die vor einigen Jahrzehnten zumindest in dieser Form noch undenkbar gewesen wären: Ist der Kapitalismus mit seiner bedenkenlos ressourcenverschlingenden Verwertungslogik am Ende? Müssen neue Wege der Ökonomie gedacht und beschritten werden, die den materiellen Erfordernissen von Mensch und Natur dienen, anstatt der Zurichtung allen Lebens auf die Erwirtschaftung abstrakten Wertes? Wie könnte das drastische Absenken des ökologischen Fußabdrucks eines jeden einzelnen gelingen, um den Klimatod des Planeten zu verhindern?

Es geht um Konsum und Verbrauch und um die Gewißheit, daß die vertraute Art, wie wir unser Leben bisher gestaltet und organisiert haben, nicht mehr aufrechtzuerhalten ist. Jedes Detail materieller Daseinsbewältigung soll auf die Waagschale einer klimaverträglichen Bilanz gelegt werden. Was die Verfechter eines radikalen Umdenkens mit guten Argumenten plausibel machen können, erregt dennoch Besorgnis. Wie weit wird der Verzicht auf das Gewohnte gehen? Die Politiker beschwichtigen gern in dieser Frage, wollen sie doch ihre Wahlklientel nicht verschrecken, während Klimaexperten in TV-Diskussionsrunden eloquent zur Eile drängen. Der Einsicht in die notwendige Veränderung der Lebensweise steht die keineswegs unbegründete Sorge gegenüber, daß diese Remedur am meisten zu Lasten erwerbsarmer und auf Sozialtransfers angewiesener Menschen vorgenommen wird. Wer schon jetzt nichts übrig hat, um Rücklagen für harte Zeiten zu bilden, sondern die Erfordernisse des alltäglichen Lebens gerade eben bestreiten kann, muß befürchten, die Hauptlast des ökologischen Umbaus der Gesellschaft aufgebürdet zu bekommen.

Allmende-Kontor Gemeinschaftsgarten - Foto: © 2014 by Schattenblick

Vor den Mauern der Stadt ...
Foto: © 2014 by Schattenblick

Ernährungsouveränität von unten herstellen

Auf der Leipziger Degrowth-Konferenz wurde dieser Problematik umfassend Rechnung getragen, so auch im Diskussionsworkshop "Mutter Erde Essen", den Elisabeth Meyer-Renschhausen anbot. Neben ihrer Tätigkeit als Privatdozentin am Institut für Soziologie der FU Berlin ist die freischaffende Autorin als Leiterin der AG Kleinstlandwirtschaft, Mitglied der attac-Gruppe Solidarische Ökonomie sowie in der Initiative 100% Tempelhofer Feld aktiv. Um solidarisches Eßverhalten zu entwickeln, müßten wir unser Ernährungsverhalten verändern und lernen, unseren Planeten als Eine-Welt-Kontinuum zu sehen, in dem auch Tiere und Pflanzen als gleichwertige Lebewesen ihren Platz haben, so das Credo der langjährigen Aktivistin. In ihrem Workshop stellte sie bereits vorhandene Praktiken zur Ökologisierung unseres Eß- und Konsumverhaltens vor und diskutierte allen voran die infrastrukturell kurzen Wege einer solidarischen Landwirtschaft, die sowohl im globalen Süden als auch im Norden in den letzten Jahren konträr zur Agrarindustrie entwickelt wurde. Solidarisches Eßverhalten sei keine Pflicht zum Verzicht, sondern werde von der persönlichen Einsicht getragen, daß das von uns Konsumierte anderen Menschen fehlt und die Übersättigung des Konsums überhaupt erst die Probleme der Nahrungsmittelproduktion und -verteilung bis hin zur global administrierten und ganz offensichtlich unzureichenden Hungerbekämpfung in der Welt geschaffen habe.

Elisabeth Meyer-Renschhausen mahnte in ihrem Vortrag denn auch keine Einbußen in der Lebensqualität an, sondern plädierte, exemplarisch gemacht am Modell der solidarischen Landwirtschaft, dafür, daß Konsumentinnen und Produzentinnen von Nahrungsmitteln den konkreten Bedarf selbst bestimmen und die für die Produktion anfallenden Kosten gemeinsam tragen. Wie diese Regelung letzten Endes ausfällt, sei Verhandlungssache. Es könne ein Beitrag sein, der monatlich zu entrichten ist, oder als Kombination einer monatlichen Umlage der Gesamtkosten mit einer Beteiligung an der Ernte oder anderen notwendigen Arbeiten. Im Kern sollen die Risiken von allem gemeinsam - eben solidarisch - getragen werden.

Vor allem jedoch soll einer bedarfsorientiert produzierenden und lokal agierenden kleinbäuerlichen Landwirtschaft der Rücken gestärkt werden gegen weltweit agierende Agrarkonzerne und Tierfabriken. Die Monopolisierung der Nahrungsmittelproduktion in den Händen weniger Lebensmittelkonzerne hat weitreichende Folgen. Indem sie riesige Ackerflächen und Weideland in allen Teilen der Welt aufkaufen, schwindet durch Monokultivierung nicht nur die Artenvielfalt, es werden zudem zur Gewinnung neuen Kulturlandes auch die letzten großen Waldgebiete mit ungeahnten Folgen für die Ökosysteme und die davon betroffenen Menschen gerodet.

Stadtacker vor Flughalle auf Tempelhofer Feld - Foto: © 2014 by Schattenblick

Steinerne Ordnung
Foto: © 2014 by Schattenblick

Anhand einiger Dias anschaulich gemacht, vermittelte die Referentin einen Einblick in die Auseinandersetzungen um eine alternative, bäuerliche Landwirtschaft, die ihre Produkte saisonal anbaut und regional vertreibt. Die ökologische Belastung durch den motorisierten Güterverkehr kann weitgehend entfallen, wenn die Menschen konsumieren, was sie unmittelbar zum Leben brauchen. Je kleinteiliger die Strukturen zwischen Erzeugung und Verbrauch der Nahrung, desto geringer ist die Gefahr, durch Transport, Lagerung und Verteilungskämpfe zerstörerische Prozesse zu initiieren, an deren Ende Lebensmittel, die nicht verbraucht werden, in Mülltonnen oder Verbrennungsanlagen wandern. Selbst die Kontrolle darüber zu haben, was angebaut und gegessen wird, ist der Kern des Gedankens, der Urban Gardening zu einer inzwischen bundesweit praktizierten Ergänzung herkömmlicher Lebensmittelversorgung hat werden lassen.

Das Gärtnern auf öffentlichen Flächen inmitten der Großstadt könnte durchaus ein Ausgangspunkt politischen Handelns in dem Sinne sein, daß Parallelstrukturen der Subsistenz geschaffen werden und überhaupt ein Bewußtsein dafür entsteht, wo die billigen Lebensmittel herkommen und welchen Preis andernorts Menschen für die industriell organisierte Landwirtschaft, für die Privatisierung des Ackerbodens durch Großinvestoren und die Ausbeutung natürlicher Rohstoffe wie etwa das in Feldfrüchten enthaltene Trinkwasser zu zahlen haben. Äpfel Hunderte von Kilometern auf Überlandstraßen und Seewegen in hiesige Supermärkte zu transportieren, während nebenan auf altem Kulturland eine reiche Apfelernte eingefahren wird, ist ökologisch unverantwortlich und in Zeiten weltweiter Hungerkatastrophen ethisch nicht zu rechtfertigen.

So berichtete die Referentin aus Sicht ihrer 20jährigen Tätigkeit in der AG Kleinstlandwirtschaft und Gärten in Stadt und Land über die vielfältigen Kämpfe auf dem Gebiet der Lebensmittelsouveränität, die es zurückzuerlangen gelte. Mit einer Retrospektive eindrücklicher Bildmotive ließ sie auf der Leinwand Bürgerprotest Revue passieren, so die seit 2011 stattfindenden "Wir haben es satt!"-Demonstrationen gegen Agrarindustrie und Tierfabriken sowie den Protest gegen den Mega-Schlachthof in Wietze. Sie verwies dabei auf einen Aktivisten aus Griechenland, der auf dem Sommercamp 2013 in Wietze die Ansicht vertrat, die Wirtschaftskrise in seinem Land sei mit kleinbäuerlicher Landwirtschaft, kurzen Vertriebswegen und Direktverkauf zu bewältigen. Aufschlußreiches war auch über die Demonstrationen für kleinbäuerliche Landwirtschaft, die seit über zehn Jahren auch in Berlin organisiert werden, sowie den Marsch der Landlosen mit verschiedenen Aktionen wie dem "Kartoffeln pflanzen" auf dem Potsdamer Platz zu erfahren.

Windskater auf Rollbahn - Foto: © 2014 by Schattenblick

Flugbetrieb für Bodenständige
Foto: © 2014 by Schattenblick

Daß Widerstandsformen mitunter in Reaktion auf die Preissenkungspolitik entstehen, die im Rahmen supranationaler Handelsregimes durchgesetzt werden, erläuterte sie am Beispiel von La Via Campesina. Dieser weltweite Zusammenschluß von Kleinbauern und Landlosen wurde 1993 nahezu zeitgleich mit der WTO gegründet. Dies war schon deswegen bemerkenswert, so die Referentin, weil niemand mit diesem Bündnis gerechnet habe, zumal Kleinbauern gemeinhin als konservativ gelten und eine Verständigung wie etwa zwischen indischen und südamerikanischen Bauern nahezu ausgeschlossen schien. La Via Campesina setzt sich gegen den Verdrängungswettbewerb auf dem Markt mit eigenen Strategien und Kooperationsformen zur Wehr und fordert vehement weitreichende Landreformen zu Lasten der kapital- und flächenintensiven industriellen Landwirtschaft. Um die Ernährungssouveränität der Menschen zu gewährleisten, wird der Nahrungsmittelanbau für die lokale Bevölkerung und der Ausbau regionaler Handelsstrukturen propagiert. Ihre Forderungen werden durch den jüngsten, von 500 Wissenschaftlern im Auftrag der Vereinten Nationen und der Weltbank erarbeiteten Weltagrarbericht weitgehend gedeckt. Dort war man zu dem Ergebnis gekommen, daß die industrielle Landwirtschaft, insbesondere aufgrund ihres enormen Ressourcenverbrauchs und der kostenlastigen Abhängigkeit von Kunstdünger und Pestiziden, nicht in der Lage ist, die gesamte Menschheit zu ernähren. Statt dessen empfiehlt der Bericht die Wiederherstellung kleinbäuerlicher Strukturen, vor allem in Asien, Afrika und Lateinamerika.

Hochbeet mit Rotkohl - Foto: © 2014 by Schattenblick

Urban Gardening eßbar gemacht
Foto: © 2014 by Schattenblick

Solidarische Landwirtschaft und Urban Gardening in Berlin

Auch die Formen solidarischer Landwirtschaft in der Stadt reihen sich mit ihren Local-Food-Strategien in die Kleinbauernopposition ein. Städtische Landwirtschaft neu zu entdecken und zu fördern, sei, so die Referentin, konkreter Widerstand gegen das Wachstumsparadigma. So böten ungenutztes Brachland und Freiflächen in der Stadt reichhaltige Möglichkeiten zur Selbstversorgung. In dem Zusammenhang nannte sie die Projekte Bauerngarten von Max von Grafenstein und SpeiseGut von Christian Heymann als Beispiele partizipativen und gemeinschaftsorientierten Umgangs mit Nahrungsressourcen. Die angelegten Bauerngärten werden dabei in Parzellen aufgeteilt und verpachtet.

Max von Grafenstein sorgt dabei lediglich für die erste Bestellung mit Bio-Setzlingen im Frühjahr und für die Bewässerung, während der jeweilige Pächter erntet und bereitgestellte Setzlinge selbst nachpflanzt. Dagegen ist das Projekt SpeiseGut ein sogenanntes Community Supported Agriculture-Projekt (CAS), wo der Landwirt Obst und Gemüse lokal für eine bäuerliche Wirtschaftsgemeinschaft produziert und sich jeder Teilnehmer zur regelmäßigen Abnahme verpflichtet. Statt Ernteüberschüsse, wie in der Agrarwirtschaft üblich, zur Stabilisierung des Preises zu vernichten, werden sie an Partnerorganisationen zur Verarbeitung weitergegeben. Nach Meinung der Referentin könnten sich diese beiden Projekte bei einer Landnutzung von jeweils etwa zwei Hektar selbst tragen. Hingegen sei der nichtkommerzielle Versuch des Landwirtschaftsprojekts Karlshof bei Templin, wo man die Ernte gegen eine Geldspende verschenken wollte, mangels Nachfrage gescheitert.

Organisiertes Urban Gardening wird in Berlin seit etwa zehn Jahren betrieben. Die seit fünf Jahren bestehenden Prinzessinnengärten in Kreuzberg fassen zahlreiche Gemeinschafts- wie teilkommerzielle Initiativen zusammen und sind inzwischen in der Lage, sich durch ihre Aktivitäten selbst zu finanzieren. Mehr als 150 Freiwillige hatten in nur einer einzigen Saison eine ehemalige Brachfläche von über 6000 Quadratmetern in ein blühendes Gartenparadies verwandelt, das seit Sommer 2009 allen Besuchern frei zugänglich ist. Jeder, der durch das Gartentor eintritt, kann Ideen einbringen und an der Gestaltung mitwirken. Dem Entfaltungsraum sind keine Grenzen gesetzt. So hält ein Imker mitten in der Stadt seine Bienen und führt Schulkinder in die Honigproduktion ein, während eine schwedische Künstlerin 16 verschiedene alte Kartoffelsorten anbaut. Ein anderes Projekt aus der Berliner Stadtbegrünungsbewegung stellt der Park am Gleisdreieck dar, den man sich als modernen Designerpark vorstellen muß. Dazu gehören unter anderem der von bosnischen Flüchtlingsfrauen geführte Interkulturelle Garten Rosenduft sowie 16 Parzellen einer ehemaligen Kleingartenanlage, wo Nachbarn ihre Hochzeiten oder Geburtstage feiern oder offene Workshops zu Heilkräuterkunde veranstaltet werden.

Grafitti in Düsseldorfer Bahnunterführung - Foto: 2012 by Schattenblick

Ausbruch der Aufständigen
Foto: 2012 by Schattenblick

Widerstand gegen die Lebensfeindlichkeit der Stadtfabrik

Was die Menschen bewegt und anspornt, sich im Urban Gardening zu engagieren, ist mehr als ein Hobby oder Freiluftaktivismus. Ob nun Graffiti oder Transition Town, Blumen oder farbige Kunstgemälde an vergilbten Wänden, immer geht es darum, daß sich Menschen gegen das Betongrau ihrer städtischen Wirklichkeit auflehnen. Daß Abgase sich träge dahinschleppender Fahrzeugkolonnen, in den Himmel wachsende Türme aus Glas, Beton und Metall, Signalwelten aus Fußgängerampeln, Bildschirmen und Reklametafeln eine Lebenskultur dominieren, die alles andere als menschenzugewandt ist, keinen Ort der Besinnung kennt und im Gleichschritt monotoner Prozeßverläufe humane Apparate hervorbringt, die über Reize gesteuert und durch Verbote eingeschränkt werden, ist für sie nicht hinnehmbar. Schon bei der in Deutschland seit mindestens drei Jahrzehnten praktizierten Graffiti-Kunst geht es darum, der Konditionierung auf die anonyme Stadtfabrik die Eigenständigkeit und Freiheit durch den offiziellen Kulturbetrieb nicht regulierter Kunst entgegenzustellen. Nichts anderes geschieht, wenn ein Blumenbeet heimlich in der Nacht am Straßenrand angelegt wird, um mit den Blütenfarben von Tausendschön, Mädchenauge und Narzisse die funktional durchformatierte Architektur der Betonwüsten und Straßennetze aufzustören.

Dem Prozeßcharakter einer Stadtlandschaft, deren Abläufe der geldgetriebenen Betriebsamkeit des Wertschöpfungsprimats unterworfen sind und die nur Kunden und Klienten, An- und Abfahrten zu kennen scheint, Leben abzuringen, wird auch mit der Schaffung von Gemeinschaftsgärten versucht. In ihnen sollen soziale Begegnungsmöglichkeiten und praktische Fertigkeiten wiederentdeckt werden, die in einer auf Konkurrenz um Arbeitsplätze und Konsumgüter bestimmten Umwelt keinen Platz haben. Je vereinzelter der Mensch, desto beherrschbarer ist er. Über den eigenen Tellerrand hinaus zu blicken und einen Sinn für die Stärke kollektiven Handelns zu entwickeln, eröffnet ungekannte Handlungsmöglichkeiten. Wie kann es mir gutgehen, wenn es einem anderen schlecht geht, wenn er verfolgt, unterdrückt und ausgebeutet wird?

Auch wenn die in solchen Fragen aufscheinende politische Perspektive im Workshop zu solidarischem Eßverhalten lediglich gestreift wurde, so gründete der große Zuspruch zu dieser Veranstaltung zweifellos auch in dem Wunsch, die Isolation des Marktsubjekts durch eine solidarische Lebensweise zu überwinden. Es ist mehr als nur ein diffuses Gefühl, das Menschen dazu treibt, gegen die Kommerzialisierung ihrer Lebensräume und -grundlagen aufzustehen. So wies die Referentin darauf hin, daß Landgrabbing und damit der Ausverkauf der kleinbäuerlichen Landwirtschaft nicht nur ein Problem im globalen Süden oder in Brandenburg sei, wo nur noch etwa ein Drittel der Höfe Kernlandwirtschaft betreibe und der Großteil de facto der Energiewirtschaft zugeschlagen und von Banken und Investoren aufgekauft wurde. Auch in der Stadt müßten Kleingärtner gegen Bodenspekulanten und Börsenkurse kämpfen. Wer die weltweite Bewegung des Kapitals aufmerksam verfolge, so Meyer-Renschhausen, komme schnell zu dem Schluß, daß das überschüssige Geld der Banken längst nicht mehr in Waffen und Fonds investiert werde, sondern in Realien wie Immobilien oder Agrarflächen, was den Griff auf die Böden extrem anheize. Die Politik argumentiere zwar gern mit Wohnungsnotstand, aber zum einen wachse die Berliner Bevölkerung nicht so rasant, wie unterstellt wird, und zum anderen werde gerade billiger Wohnraum benötigt, den man durch eine Politik des Verkaufs sogenannter Liegenschaften an Meistbietende ohnehin nicht erhalte. Auf diese Weise trieben die Stadtherren die Bodenpreise künstlich in die Höhe mit der Folge, daß Landwirtschaft in der Stadt wie auch im bäuerlichen Umland kaum noch möglich sei.

Mittelpunkt des Gemeinschaftsgartens vor Häusersilhouette - Foto: © 2014 by Schattenblick

In guter Nachbarschaft ...
Foto: © 2014 by Schattenblick

Überhaupt werde ein regelrechter Behördenkrieg gegen die Berliner Gartenbewegung geführt. So seien die urbanen Gärtner dazu verpflichtet worden, in Kisten oder anderen Behältern anzubauen, weil der Boden angeblich zu schadstoffbelastet sei. Die Referentin sah darin eine Vorspiegelung falscher Tatsachen, weil die Bodenbelastung einerseits übertrieben werde und andererseits bestimmte Pflanzen wie Topinambur oder Sonnenblumen dem Boden innerhalb von drei Jahren Schadstoffe entziehen würden. Auch habe die Luftverschmutzung, die vor 25 Jahren so hoch war, daß niemand angebautes Gemüse auf dem Balkon hätte verzehren wollen, inzwischen deutlich abgenommen. Eine dichte Hecke um die jeweilige Anlage könne Lkw-Abgase sehr gut abhalten. Sie räumte jedoch ein, daß Kleingärten in der Nähe von Ausfahrtstraßen, die seit Jahrzehnten bleispeiendem Lkw-Verkehr ausgesetzt seien, nach wie vor mit erheblichen Problemen zu kämpfen hätten.

Einen besonderen Lichtpunkt in den Kämpfen um den städtischen Sozialraum stellt nach Ansicht der Referentin das Allmende-Kontor dar. Allmende als ein altüberliefertes Modell gemeinschaftlicher Sourcennutzung bezog sich früher auf in Gemeindeeigentum befindliches Weideland, Wald und Wasser. Das Allmende-Kontor ist eine der jüngsten Gründungen der AG Kleinstlandwirtschaft. Bei dem großen Gemeinschaftsgarten auf dem Tempelhofer Feld ginge es darum, dieses Prinzip des Gemeinwesens, das niemandem und doch allen gehöre, wieder in die Lebenswelt der Menschen zurückzubringen. In früheren Zeiten gehörte zur Allmende fast immer eine geschriebene Genossenschaftsverfassung, die verhindern sollte, daß einige wenige Personen gemeinschaftliche Güter ohne Rücksicht auf die anderen verbrauchen oder schädigen. Meyer-Renschhausen führte weiter aus, daß es in vielen Städten traditionell in der Mitte einen Common, in der Regel eine gemeinschaftliche Kuhweide wie beispielsweise der Boston Common, der heute als Park genutzt wird, gegeben habe.

Auf der Rollbahn zwischen Flughafengebäude und Neukölln - Foto: © 2014 by Schattenblick Auf der Rollbahn zwischen Flughafengebäude und Neukölln - Foto: © 2014 by Schattenblick

Weltumspannender Verkehr auf Schrittmaß gebracht
Fotos: © 2014 by Schattenblick

Die Tempelhofer Freiheit - Lichtung im Dschungel der Stadt

Auch das Tempelhofer Feld sei ein Beispiel für Gemeingut, wobei die einzelnen Gärten nach dem Allmendeprinzip bewirtschaftet und von einer konkreten Gruppe genossenschaftlich betreut werden, erklärte die Referentin. Nutzungskonflikte schloß sie nicht aus, doch garantiere die Übereinkunft, daß das Tempelhofer Feld allen Berlinern gleichermaßen zur Verfügung stehe. So hatten die Bürger der Stadt im Mai 2014 in einem Volksentscheid klar für den Erhalt des Tempelhofer Feldes votiert und damit dem strikten Wirtschaftskurs des Berliner Senats, der das Areal des ehemaligen Flughafens zum Bau neuer Wohnsiedlungen freigeben wollte, eine Absage erteilt.

Daß es überhaupt dazu kam, daß man das Tempelhofer Feld im Mai 2010 für die Bevölkerung freigegeben hat und für drei Areale Pionierprojekte ausgeschrieben wurden, war dem kämpferischen Engagement der Berliner geschuldet, die mit einer Vielzahl von Demonstrationen, Eingaben und Protestaktionen die öffentliche Nutzung des Gebietes einforderten. Das Land Berlin hatte das Gelände zwecks geplanter Neubebauung abgesperrt und erst einmal brachliegen lassen. Im Anschluß an die Freigabe entstand unter anderem das Projekt Allmende-Kontor als angelegter Gemeinschaftsgarten unter dem Leitbild der Integration der Nachbarschaften und des Dialogs der Religionen. Nach dem Abstimmungsergebnis im Volksentscheid wurde ein vom Verein "Demokratische Initiative 100% Tempelhofer Feld" vorgelegter Gesetzentwurf angenommen, der Elisabeth Meyer-Renschhausen zufolge jedoch nicht dauerhaft die Gewähr für eine hundertprozentige gemeinschaftliche Nutzung jenseits kommerzieller und spekulativer Interessen bietet, weil er möglicherweise zu viele Lücken und Interpretationsspielräume enthält.

So konnte die Stadtverwaltung durchsetzen, daß die Decke des Flughafens nicht aufgebrochen werden durfte, so daß die Gartenanlage auf Neuköllner Seite mit Hochbeeten bepflanzt werden mußte. Für die Gartenaktivisten stellte dies jedoch kein Hindernis dar, da man in Berlin auf eine jahrelange Erfahrung mit dem Urban Gardening zurückgreifen konnte. Alles, was sich zum Bepflanzen eignet, ob nun Gefäße, Fleischerkisten, selbst alte Turnschuhe, wurde kunstvoll arrangiert und in eine anheimelnde Kulisse verwandelt. Menschen verschiedenster Herkünfte und Bekenntnisse aus Neukölln wie auch ganz Berlin widmeten sich der Gestaltung des Gemeinschaftsgartens, so daß bereits innerhalb weniger Wochen ein blühendes Naherholungsgebiet mit Tausenden Blumen, bunten Gräsern und Zierbüschen hergerichtet werden konnte. Anders als bei den traditionsreichen Kleingärten verzichtete das Allmende-Kontor auf das Aufrichten ausgrenzender Zäune. Der Besucher betritt ein weites Areal bunt zusammengewürfelter und doch durch fließende Übergänge einladend gemachter Gärten. Die individuelle Charakteristik der einzelnen Beete hebt sich nicht in Konkurrenz zueinander ab, sondern vermittelt ganz im Gegenteil den Eindruck eines organischen Gesamtkunstwerks. Es gibt Nischen mit Sitzmöglichkeiten zum Plaudern, Begegnungsstätten, um sich kennenzulernen und auszutauschen.

Karte des Allmende-Kontor-Gemeinschaftsgartens - Foto: 2014 by Schattenblick

Orientierungshilfe im urbanen Wildwuchs
Foto: 2014 by Schattenblick

Nicht allein der erholsamen Kurzweil verpflichtet, stellt das Allmende-Kontor in den Augen der Referentin auch eine Art Labor für künftige Anbauweisen und Ernährungsalternativen dar, quasi ein riesiges Experimentierfeld, dessen Gemeinwohlansatz höchste Priorität genießt. In den Allmendegärten werde über neue Formen der Landwirtschaft, kurze Vertriebswege und die Schaffung einer menschenfreundlichen Zukunft in der Stadt nachgedacht. Entgegen dem selektiven Marktgesetz, das durch eine monokulturelle Begrenzung des Angebots gekennzeichnet ist, um Verfügbarkeiten und Handelsdominanzen durchzusetzen, könnten in den Gärten auch alte Pflanzen eingepflanzt und ausprobiert werden wie zum Beispiel die Melde als Spinatbaum. Dies wirke sich ungemein motivierend auf eine neue Ernährungskultur aus und sei vor dem Hintergrund des allgemeinen Artenschwunds förderlich für den Erhalt alter Sorten.

Flötenspieler und Gartenaktivisten - Foto: © 2014 by Schattenblick

Grüne Gemütlichkeit
Foto: © 2014 by Schattenblick

Kulturtechniken der gemeinschaftlichen Kooperation und das Wiederbeleben des dem Stadtmenschen verlorengegangenen Wissens, wie man beispielsweise einen Kompost anlegt oder den Boden nachhaltig bewirtschaftet, würden so eine Renaissance erfahren, deren praktischer Wert in Zeiten weltweiter Ernterückgänge außer Frage stehe. So engagiere sich im Allmende-Kontor eine erfahrene alte Landwirtin aus der Uckermark, die den jungen Menschen der Arbeitsloseninitiative des Schillerkiez unter anderem das Kompostieren beibringe. Es sei, so die Referentin, ein großer Erfolg, daß die Allmendegärten im Tempelhofgesetz verankert seien. Laut diesem bleibt das Wiesenmeer in der Mitte zum Schutz der Feldlerchen ungenutzt, der äußere Ring ist hingegen Projekten für Sport und Spiel sowie urbanen Gärten und Landwirtschaft vorbehalten. Doch noch seien viele Fragen offen. So werde man sich für einen neuen Flächennutzungsplan und auf Bezirksebene für neue Bebauungspläne einsetzen, um die fragliche Fläche als Landschafts- oder Naturschutzgebiet eintragen zu lassen. Es müsse verhindert werden, daß von seiten des Senats doch noch eine Bebauung gegen die Interessen der Anwohner und Berliner Bevölkerung durchgemogelt werde, denn das virtuelle Geld strebe danach, sich in privatem Besitz zu materialisieren.

Leserin auf Gartenbank - Foto: © 2014 by Schattenblick

Im Buch der Natur ...
Foto: © 2014 by Schattenblick

In der gesellschaftlichen Debatte hänge der städtischen Landwirtschaft nach wie vor der Freizeitgeruch an, als sei das gemeinschaftliche Gärtnern nichts anderes als ein Hobby und kein ökologischer Ansatz, die Ernährungsfrage auf eigene Füße zu stellen. So gebe es weder eine staatliche Projektförderung noch eine hinreichende rechtliche Absicherung. Die Referentin vertrat die Ansicht, daß man der Politik klarmachen müsse, daß der Anbau von Obst und Gemüse in der Stadt in Zukunft eine immer wichtigere Rolle spielen wird und muß, um die globale Öko- und Energiekrise und damit einhergehend die zukünftigen Engpässe in der Ressourcensicherung zu bewältigen. Sie verwies dabei auf Berechnungen, daß 30 Prozent des benötigten Gemüses von den stadteigenen Flächen kommen und 200 Quadratmeter eine ganze Familie - außer mit Brot, Fleisch und Milch - ernähren könnten. In den USA hätten sich schon zahlreiche Städte dazu entschlossen, mindestens 15 Prozent ihrer Fläche der städtischen Landwirtschaft zur Verfügung zu stellen. In Berlin betrage der Anteil derzeit gerade einmal 4,6 Prozent, in Frankfurt oder Hamburg hingegen sei er bedeutend größer. Doch müsse die innerstädtische Produktion lokaler biologischer Nahrungsmittel stärker intensiviert werden, um die Zukunftsprobleme in den Griff zu bekommen. Für die Referentin ist das Community Gardening angesichts der Ressourcenkrise und der Notwendigkeit, postfossile Überlebensmodelle zu entwickeln, ein wichtiger Mosaikstein hin zu einer kollektiven Weiterbildung der Ernährungsfrage und könnte darüber hinaus auch ein Anstoß sein für eine neue Essens- und Lebenskultur.

Tempelhofer Feld im Abendlicht - Foto: © 2014 by Schattenblick

Tempelhofer Freiheit postfossil
Foto: © 2014 by Schattenblick

Zweifellos wirft die politische Organisation gesellschaftlicher Reproduktion Fragen auf, die nicht mit den in Urban Gardening und solidarische Landwirtschaft gesetzten Hoffnungen übereinstimmen müssen oder diesen sogar zuwiderlaufen. Die Verfügungsgewalt durch staatliche Administration und privatwirtschaftlich organisiertes Kapital über die Ernährung ist untrennbar mit dem Interesse verknüpft, die Bevölkerung vermeintlich objektiven Sachzwängen und Handlungsnotständen zu unterwerfen. Dies im Blick zu behalten, wenn sich Menschen aufmachen, ihre soziale Wirklichkeit samt der damit verbundenen Widersprüche in die eigenen Hände zu nehmen, selbst gestalterisch einzugreifen, wo ansonsten behördliche Vorgaben und staatliche Direktiven Unterwerfung einfordern, ist im mindesten Falle eine strategische Notwendigkeit. Die Wiederaneignung der eigenen Lebenssicherung durch gemeinschaftliche und kommunale Selbstorganisation in Produktion und Distribution sind politische Anliegen, die desto mehr auf Widerstand stoßen werden, als sie das Interesse an übergeordneten Verfügungsverhältnissen in Frage stellen. Zu antizipieren, was einem ansonsten auf die Füße fällt, sollte bei aller Freude am Gärtnern nicht vergessen werden.

Arrangement mit Blumen und ausrangierten Gegenständen - Foto: © 2014 by Schattenblick

Im Garten geheimer Kinderwünsche
Foto: © 2014 by Schattenblick


Bisherige Beiträge zur Degrowth-Konferenz in Leipzig im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → BÜRGER/GESELLSCHAFT → REPORT:

BERICHT/028: Aufbruchtage - Brauch- und Wuchskultur auf die Gegenspur ... (SB)
BERICHT/029: Aufbruchtage - Schuld und Lohn ... (SB)
BERICHT/030: Aufbruchtage - Umkehr marsch ... (SB)
BERICHT/031: Aufbruchtage - Kapital gezähmt ... (SB)
BERICHT/032: Aufbruchtage - Quadratur des Kreises und wie es doch zu schaffen ist ... (SB)
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12. November 2014


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