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BERICHT/049: Aufbruchtage - Januskopf und Bündnis ... (1) (SB)


Frag' nach beim Bundestag (1)

Wachstums-Enquetekommission - Teil des Problems oder der Lösung?

Podiumsveranstaltung am 3. September 2014 in Leipzig



An der Säule zum Ruhme französischer Bürger, die in der Julirevolution von 1830 für die Freiheit gekämpft haben, aufgesprühter Décroissance-Schriftzug - Foto: By user: Lalupa (Own work) [Public domain], via Wikimedia Commons

Mit dem Potential zur Subversion? "Décroissance" auf der Juli-Säule am Pariser Place de la Bastille am 23. März 2006
Foto: By user: Lalupa (Own work) [Public domain], via Wikimedia Commons

Die Menschheit steht im Begriff, ihr Schiff auf Sand zu setzen, und zwar unwiderruflich. So in etwa lautet, auf den denkbar kürzesten Nenner heruntergebrochen, das Credo der wachstumskritischen Klimaschutz- bzw. Klimagerechtigkeitsbewegung, die keineswegs ein Alleinstellungsmerkmal dafür beanspruchen könnte oder auch nur wollte, als einziger gesellschaftlicher Akteur die menschengemachten Gefahren für das Überleben der in bestimmten Weltregionen lebenden Menschen, wenn nicht langfristig der gesamten Menschheit realisiert und zum Angriffspunkt der Aktivitäten gemacht zu haben. Mehr und mehr wird auch in Politik und Gesellschaft, Wissenschaft und Wirtschaft die Auffassung vertreten, daß eine Reduzierung der bisherigen, zerstörerische Wirkungen vielfältigster Art generierenden Produktions- und generellen Lebensweise unverzichtbar sei. Und immer lauter wird der Ruf kritischer Bürgerinnen und Bürger nach einer - dringend zu Gebote stehenden - fundamentalen Umkehr, genauer gesagt einer sozial-ökologischen Transformation.

Diesem Trend scheint sich auch die Bundesregierung nicht völlig zu verschließen. So erklärte Bundeskanzlerin Angela Merkel am 24. November vergangenen Jahres, daß es kein Wachstum um jeden Preis geben dürfe und schon gar nicht um den der Umweltzerstörung. Nachhaltigkeit, also das Prinzip, nicht mehr zu verbrauchen, als regeneriert werden könne, sollte ein Leitgedanke bei den täglichen politischen Entscheidungen sein. Wachstum und Nachhaltigkeit seien gleichwohl keine Gegensätze, lasse sich doch durch technische Innovationen für eine größere Energieeffizienz Wachstum erzeugen, so die Sichtweise der Kanzlerin. Mit Blick auf die von ihr so bezeichneten Schwellen- und Entwicklungsländer erklärte sie, daß den Industriestaaten vorgeworfen werde, an diesen Raubbau betrieben zu haben und nun auch von ihnen Nachhaltigkeit einzufordern - dies zusammenzubringen, sei Aufgabe der Entwicklungspolitik. Desweiteren vertrat Merkel die Auffassung, daß das Bruttoinlandsprodukt als Meßgröße für die Definition von Lebensqualität nicht ausreiche und plädierte dafür, weitere Indikatoren hinzuzuziehen, was in bezug auf Bildungs- und Forschungsinvestitionen bereits geschehen sei. Die Kanzlerin kündigte an, daß die Bundesregierung einen "Dialogprozeß zur Lebensqualität" vorbereite. [1]


Nachhaltigkeit und Wachstumskritik im Namen der Bundesregierung?

Könnte dies seitens der wachstumskritischen Gemeinde, die sich unter dem - vorläufigen - Arbeitsbegriff "Degrowth" zusammengefunden hat und von Konferenz zu Konferenz im Wachsen begriffen ist, mit einem vorsichtigen Optimismus honoriert werden? Immerhin scheint dies kaum nach einer Regierungschefin zu klingen, die auf Gedeih und Verderb den bisherigen Politik- und Wirtschaftsstil fortzusetzen gewillt ist. Macht sie das aber schon zu einer Wachstumskritikerin, womöglich sogar einer Degrowtherin? Wenngleich es gewisse inhaltliche Überlappungen mit den Anhaltspunkten, Konzepten und Fragestellungen, die auf der 4. Internationalen Degrowth-Konferenz, die in Leipzig zwischen dem 2. und 6. September 2014 stattfand, thematisiert und zur Diskussion gestellt wurden, zu geben scheint, steht doch außer Frage, daß der Kanzlerin mehrheitlich entgegengehalten worden wäre, daß sie jegliche Kapitalismuskritik, ohne die nach Auffassung der über dreitausend Teilnehmenden die anstehenden Probleme nicht angegangen werden könnten, vermissen lasse.

Einmal unterstellt, es gäbe tatsächlich eine gemeinsame Schnittmenge zwischen zivilgesellschaftlicher Wachstums- bzw. Kapitalismuskritik und den Verlautbarungen regierungsamtlicher Verantwortungsträger, wäre umso dringender die Frage nach dem Verhältnis von Staat und Kapital zu den deren Deutungs- und Gestaltungshoheit in Frage stellenden und damit herausfordernden Kritikern und Kritikerinnen zu stellen. Sitzen "wir" tatsächlich alle in einem Boot oder stellt die Verwendung dieses Personalpronomens in einem solchen Zusammenhang eine gezielte Irreführung dar, indem ein für alle Menschen übereinstimmendes, gleiches und gemeinsames Interesse unterstellt wird, das zu wahren und durchzusetzen sich die westliche Staatenelite wie selbstverständlich für berufen erklärt?

Der bisherige Verlauf der Krisenbewältigung und Hungerbekämpfung hat ungeachtet vollmundiger Absichtsbekundungen deutlich gemacht, daß das Überleben privilegierter Eliten im globalen Maßstab umso rigoroser zu Lasten anderer Menschen und Regionen durchgesetzt wird, je deutlicher Nahrungsmangel, Ressourcenknappheit und Umweltzerstörungen zu Tage treten. Da von einem "wir" zu sprechen, unterschlägt die Tatsache, daß der - wenn auch relative, das heißt für die armen und marginalisierten Menschen in den reichen Staaten des globalen Nordens zunehmend prekärer werdende - Wohlstand nicht beschrieben und verstanden werden kann ohne das Raub- und Ausbeutungsverhältnis zu den Ländern des Südens. Mag dieses auch noch so sehr in ökonomisierte und verrechtlichte Verläufe eingebettet sein auf der Basis des bezichtigenden Versprechens, daß die sogenannten Schwellen- und Entwicklungsländer zu den Reichtumsregionen aufschließen könnten, so sie nur bereit und fähig wären, ihre Entwicklungsdefizite auszugleichen, steht doch, zumindest aus Sicht der Verlierer, außer Frage, wer da wem nicht die Butter, sondern das Brot nimmt.

Steht da nicht zu befürchten, wenn, die heute schon drastischen Folgen des sogenannten Klimawandels vor Augen, dieses Wir verstärkt ins Feld geführt wird und die fraglos bestehenden Umwelt- und Klimawandelbedrohungen und -schädigungen mit einem so dicken Strich an die Leinwände des Weltgeschehens gepinselt werden, daß den Stimmen all derjenigen, zu deren Lasten besagte Elitengesellschaften ihr Überleben organisieren, jegliches Gehör genommen wird?


Das Reichstagsgebäude im Mittelpunkt, vorne Grünanlagen, im Hintergrund Blick auf Berlin - Foto: By Rainer Zenz at de.wikipedia (Transferred from de.wikipedia) [Public domain], from Wikimedia Commons

Den beanspruchten Stellenwert Deutschlands symbolisiert das Reichstagsgebäude seit Kaisers Zeiten - Aufnahme von 1894
Foto: By Rainer Zenz at de.wikipedia (Transferred from de.wikipedia) [Public domain], from Wikimedia Commons


Hoffnungsträgerin Enquetekommission

Auf der Leipziger Degrowth-Konferenz konnten aufmerksame Mitstreitende den Eindruck gewinnen, daß von etlichen Teilnehmenden mit Genugtuung registriert und einer gewissen Portion Optimismus beantwortet wurde, daß wachstumskritische Argumente, Anregungen und Forderungen "in der Politik" durchaus auch zur Kenntnis genommen werden. Für einen Teil der Protagonisten und Protagonistinnen des Degrowth-Konzeptes schien der Eindruck entstanden zu sein, konstruktiv auf "die da oben" einwirken zu können, wenngleich die Auffassung vorherrschte, daß von einem echten Durchbruch oder dem für unverzichtbar erklärten transformativen Wandel selbstverständlich noch nicht die Rede sein könne.

Zu dieser Thematik gesellte sich eine Podiumsdiskussion mit der Frage: "Was hat die Wachstums-Enquetekommission des Bundestags gebracht und wie weiter damit?" Bekanntlich hatte der (vorherige) Bundestag am 1. Dezember 2010 die Einsetzung einer Enquetekommission mit dem Titel "Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität - Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft" beschlossen auf der Basis eines von den Bundestagsfraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen gestellten Antrages. Die Kommission konstituierte sich im Januar 2011 und beendete ihre Arbeit mit einem im Juni 2013 vorgelegten Abschlußbericht. Ein einheitliches, das heißt von allen Mitgliedern (17 Bundestagsabgeordnete aller Fraktionen inklusive der Linken sowie 17 von den Fraktionen bestellte externe 17 Sachverständige) gemeinsam getragenes, einhelliges Ergebnis gab es dem Vernehmen nach nicht, am weitesten gediehen schien noch die Arbeit an der Weiterentwicklung möglicher Indikatoren zur Bemessung von Wohlstand und Wachstum gewesen zu sein. [2]

Wenn also weder die Arbeit der Kommission und ihrer zu spezifischen Themenstellungen tätigen fünf Projektgruppen noch der schriftliche Abschluß dieser Bemühungen einen klaren Appell gegen den fortgesetzten Wachstumszwang enthält oder Politikempfehlungen, die einen rigorosen Ausstieg aus dem ebenso umweltzerstörenden wie sozialunverträglichen "Weiter So" einfordern, welchen Nutzen - wenn überhaupt - können dann Wachstumskritiker und -kritikerinnen des Degrowth-Diskurses aus ihr ziehen? Verstehen diese sich als Initiatoren oder verstärkende Elemente eines die "Grenzen des Wachstums" angemessen berücksichtigenden Politikwandels, in dem sie "in die Politik" hineinwirken wie beispielsweise durch ihre Expertise, wie sie in dem über 800 Seiten starken Abschlußbericht der Enquetekommission Aufnahme gefunden hat, wenn auch, da zwischen den Kommissionsmitgliedern häufig kein Konsens zu erzielen war, in Sondervoten?


Mit Deutschlandfahnen beflaggtes Reichstagsgebäude im Sonnenschein - Foto: By Wolfgang Pehlemann (Own work) [CC BY-SA 3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)], via Wikimedia Commons

Ein bißchen Degrowth würde dem Ansehen des deutschen Parlaments nicht schaden
Foto: By Wolfgang Pehlemann (Own work) [CC BY-SA 3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)], via Wikimedia Commons

Sind "wir" tatsächlich "Bundestag"? Oder könnte sich gerade auch die Tätigkeit eines parlamentarischen Gremiums wie der Enquetekommission ungeachtet der Relevanz der aufgeworfenen Fragen als Bestandteil strategischer Manöver herausstellen, die darauf abzielen, eine Radikalisierung wachstums- wie kapitalismuskritischer Strömungen und Bewegungen in den wissenschaftlichen wie zivilgesellschaftlichen Bereichen durch eine möglichst vollständige Ein- und Anbindung aller Akteure bereits im Ansatz zu unterbinden? Die alte Gretchenfrage, wie hältst du es mit dem Staat, taucht da schon gar nicht mehr auf. Sie wurde in den Blütezeiten der bundesdeutschen Linken noch einfach und unmißverständlich beantwortet, weil Staat und Kapital als zwei miteinander aufs engste verwobene Komponenten einer Verfügungsgewalt, die von ihrem systemischen Ansatz her gar nicht anders kann, als die Verwertung von Mensch und Natur in immer neue Bahnen zu lenken und auf diese Weise Mangel und Zerstörung zu produzieren, wo sie vorgibt, mit ökonomischem Wachstum Wohlstand für alle generieren zu können, begriffen wurden.

Auf der Degrowth-Konferenz stand das, wenn man so will, parlamentarische Standbein der Wachstumskritik zwar nicht im Mittelpunkt des Geschehens, so aber doch an einigermaßen prominenter Stelle, wurde der Enquetekommission des Bundestages doch eigens eine Podiumsveranstaltung im Audimax der Universität Leipzig gewidmet. Daß dieser Kongreßtag, der 3. September, unter den Generaltitel "Den Krisen begegnen: Kritik und Widerstand" gestellt worden war, ließ auch für diese Veranstaltung einen kritischen, womöglich auch selbstkritischen Tenor erwarten, zumal auf dem Podium ausschließlich Bundestagsabgeordnete Platz genommen hatten, die sich in der Enquete als aufgeschlossen gegenüber den drängenden Fragen der Wachstumskritik gezeigt hatten.

Wie ihren Äußerungen zu entnehmen war, hatte es in der Kommission und ihren fünf Projektgruppen gleichermaßen Wachstumskritiker und -kritikerinnen wie auch -befürworter und -befürworterinnen gegeben, so daß sich die Trennlinien keineswegs an den Parteizugehörigkeiten hätten festmachen lassen. Wie Prof. Dr. Matthias Zimmer (CDU) darlegte, habe es in allen Parteien kritische wie befürwortende Stimmen gegeben, einzig die FDP sei in dieser Frage nicht gespalten gewesen, was vielleicht auch ihre "schmerzliche Abwesenheit" an diesem Abend hätte erklären können, seien die Liberalen doch 2011 auf einen bedingungslosen Wachstumskurs eingeschwenkt.

Im übrigen sei es Zimmer zufolge so gewesen, daß die Hinterfragung des Wachstumsbegriffs, die aus den unterschiedlichsten Überzeugungen heraus erfolgte - ökologischen, christlichen oder welchen des Postwachstums -, dazu geführt habe, daß man sich der Parteizugehörigkeiten nicht mehr so sehr versichern konnte, wie es sonst immer der Fall sei, was am Ende dazu geführt habe, daß an vielen Stellen der Erkenntnis freier Lauf gelassen wurde.

An der Degrowth-Podiumsdiskussion hätte neben Prof. Zimmer, dem stellvertretenden Kommissionsvorsitzenden, auch die Vorsitzende selbst, Daniela Kolbe (SPD), teilnehmen sollen, die es allerdings nicht rechtzeitig geschafft hatte, nach Leipzig zu kommen. Kolbe hatte die Veranstaltung gemeinsam mit Hermann Ott vom Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie GmbH, der als Bundestagsabgeordneter von Bündnis 90/Die Grünen an der Enquetekommission teilgenommen hatte, vorbereitet. Als Dritte im Bunde nahm zwischen Ott und Zimmer als Repräsentantin der Linkspartei deren verkehrspolitische Sprecherin Sabine Leidig auf dem Podium Platz.


Die drei ehemaligen Kommissionsmitglieder stecken die Köpfe zusammen - Foto: © 2014 by Schattenblick

In trauter Runde - Hermann Ott, Sabine Leidig und Matthias Zimmer (v.l.n.r.)
Foto: © 2014 by Schattenblick


Revitalisierung der sozialen Marktwirtschaft im Rahmen von Degrowth?

Im Programmheft der Degrowth-Konferenz war die Enquetekommission auf den kurzen Nenner "Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität" gebracht worden. [3] Ihr vollständiger Titel lautete "Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität - Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft", was für den Degrowth-Diskurs von besonderem Interesse ist, weil sich aus der Festlegung auf dieses ökonomische Konzept ablesen läßt, daß die Enquetekommission in ihren Fragestellungen und ihrer Tätigkeit von bestimmten Voraussetzungen ausgeht, die schwerlich in Übereinstimmung zu bringen sind mit dem antikapitalistischen Tenor, der unter den Konferenz-Teilnehmenden vorherrschte.

Was hat es nun mit der Sozialen Marktwirtschaft auf sich? Sie stellt, wie beim Bundeswirtschaftsministerium nachzulesen ist, seit Mitte des vorigen Jahrhunderts das Konzept dar, an dem sich die bundesdeutsche Wirtschaftspolitik orientiert und dessen zentrale Idee darin besteht, "die Freiheit aller, die als Anbieter oder Nachfrager am Markt teilnehmen, zu schützen und gleichzeitig für sozialen Ausgleich zu sorgen". Der Begriff wurde erstmals von Alfred Müller-Armack, 1952 Leiter der wirtschaftspolitischen Grundsatzabteilung im Bundeswirtschaftsministerium und ab 1958 Staatssekretär für Europapolitik, schriftlich niedergelegt. [4]

Kritiker dieser Spielart kapitalistischer Ökonomie haben ihr stets entgegengehalten, daß es sich bei dem Versuch, einen freien Markt zu garantieren und zugleich für dessen soziale Unwuchten einen Ausgleich zu schaffen, um die Quadratur des Kreises handele, die bestenfalls in der Lage sei, befristete Befriedungserfolge zu zeitigen. Ihre Wurzeln wurden im Ideen- und Akzeptanzstreit mit dem realexistierenden oder auch nur konzeptionell-utopisch beanspruchten Sozialismus verortet, weshalb kurz gesagt die soziale Marktwirtschaft von Kritikern als Antwort des Kapitalismus auf die kommunistische bzw. sozialistische Herausforderung verstanden wurde. Dem Argument, daß sie doch nachweislich in der Nachkriegszeit der Bundesrepublik Deutschland funktioniert und ihre Versprechen eingelöst habe, wurde entgegengehalten, daß diese Effekte zum einen auf die sogenannten Wiederaufbauhilfen der USA zurückzuführen seien, die sich die politische, wirtschaftliche und militärische Einbindung des westlichen deutschen Teilstaats einiges kosten ließen, was zum anderen nicht darüber hinwegtäuschen könne, daß die soziale Besserstellung westdeutscher Produzenten und Produzentinnen, sprich der Arbeiterklasse, ohne die neoimperialistische Ausbeutung der Gesellschaften des bestenfalls de jure entkolonialisierten globalen Südens nicht hätte erwirtschaftet werden können.

Wie auch aus Erläuterungen des Bundeszentrale für politische Bildung hervorgeht, wird unter Sozialer Marktwirtschaft eine Wirtschaftsordnung verstanden, "die auf der Basis kapitalistischen Wettbewerbs dem Staat die Aufgabe zuweist, sozialpolitische Korrekturen vorzunehmen und auf sozialen Ausgleich hinzuwirken." [5] Die inhaltliche Einengung einer Bundestags-Enquetekommission auf den Rahmen eines kapitalistischen Ökonomiekonzepts wirft Fragen nach den vermeintlichen und tatsächlichen Absichten auf, wenn die Arbeit eines solchen Gremiums auf einer erklärtermaßen kapitalismuskritischen Konferenz unreflektiert-wohlwollend dargestellt wird. Wie stellen sich die Repräsentantinnen und Repräsentanten des Degrowth-Diskurses zu der Rolle des Staates ganz generell, aber auch in Wachstumsfragen?


Wird der Staat in Sachen Kapitalismuskritik übergriffig?

Bedeutet Kapitalismuskritik à la Degrowth, an den Staat zu appellieren und auf seine politikgestaltenden Gremien einwirken zu wollen, damit diese dem Kapitalismus Fesseln auferlegen, um ihn sozial- und ökologisch verträglich zu erneuern? Wäre es unter Degrowth-Aspekten vielleicht sogar konstruktiv, die Verfügungsgewalt über Produktions- wie Reproduktionsfragen vollständig in die Hände eines am besten gleich global aufgestellten Regulationsapparates zu legen und diesen mit weitestreichenden Zugriffsbefugnissen auszustatten, damit das wie auch immer zu definierende Optimum in Sachen sozial-ökologische Transformation realisiert werden kann? Stünde aber nicht ein solcher, sozusagen globalisierter Ansatz in krassem Widerspruch zu den widerständigen Positionen der Globalisierungs- und Wachstumskritiker und der vielen ihre Autonomie behauptenden Initiativen und Organisationen?


Die Moderatorin am Rednerpult mit der Aufschrift 'Universität Leipzig' - Foto: © 2014 by Schattenblick

Prof. Dr. Angelika Zahrnt
Foto: © 2014 by Schattenblick

Von Irritationen angesichts derartiger Spannungsfelder war auf der gutbesuchten Podiumsdiskussion zum Thema Wachstums-Enquetekommission nichts zu vernehmen. Hier schienen Harmonie und Einträchtigkeit vorzuherrschen nicht nur zwischen den (wachstumskritischen) ehemaligen Kommissionsmitgliedern unterschiedlichster Parteienherkunft, sondern auch zwischen Podium und Publikum und, nicht zu vergessen, Prof. Dr. Angelika Zahrnt [6], Ehrenvorsitzende des BUND und Mitglied im Rat für Nachhaltige Entwicklung des Bundestages, die die Diskussionsveranstaltung sachkundig und engagiert moderierte. Unter den Zuhörenden mag es für den einen oder anderen überraschend gewesen sein zu vernehmen, daß die beiden Referenten und die Referentin die konkreten Ergebnisse der Kommissionsarbeit insgesamt als recht gering einschätzten, ohne daß dies die - zumindest bis zu dieser Veranstaltung anhaltende - gute Stimmung hätte eintrüben können.

Wie sie im einzelnen zu den von Prof. Zahrnt aufgeworfenen Fragen beispielsweise danach, was die Wachstumsdebatte im parlamentarischen Raum gebracht und ob sie darüber hinaus in die Gesellschaft hineingewirkt habe oder auch danach, ob in den Fraktionen seitdem der Wachstumszwang verstärkt in Frage gestellt und über eine Postwachstumsgesellschaft nachgedacht werde, Stellung genommen haben, wird in den folgenden Teilen dieses Berichts aufgegriffen. Dabei wird im 2. Teil das Hauptaugenmerk auf die Tätigkeit der Projektgruppe 3 zum Thema "Wachstum, Ressourcenverbrauch und technischer Fortschritt - Möglichkeiten und Grenzen der Entkopplung" gelegt, während im dritten und abschließenden Teil die Ergebnisse aus Projektgruppe 5 zum Thema "Arbeitswelt, Konsumverhalten und Lebensstile" im Vordergrund stehen.

(wird fortgesetzt)


Fußnoten:

[1] Merkel: Wachstum und Nachhaltigkeit keine Gegensätze, Pressemitteilung des Bundespresseamtes vom 22.11.2014
https://www.bundesregierung.de/Webs/Breg/DE/Service/Kontakt/Kontakt_node.html

[2] Siehe auch den dreiteiligen Bericht zu Fragen des Bruttoinlandsprodukts im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → BÜRGER/GESELLSCHAFT →
BERICHT/043: Aufbruchtage - Mit beschränkter Haftung ... (1) (SB)
BERICHT/044: Aufbruchtage - Mit beschränkter Haftung ... (2) (SB)
BERICHT/047: Aufbruchtage - Mit beschränkter Haftung ... (3) (SB)

[3] Broschüre "degrowth Programm 2014", Herausgeber: Degrowth-Konferenz c/o Konzeptwerkstatt Neue Ökonomie, S. 29

[4] http://www.bmwi.de/DE/Themen/Wirtschaft/soziale-marktwirtschaft.html

[5]Quelle: Schubert, Klaus/Martina Klein: Das Politiklexikon. 5., aktual. Aufl. Bonn: Dietz 2011. Zit. nach:
http://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/politiklexikon/18224/soziale-marktwirtschaft

[6] Prof. Dr. Angelika Zahrnt ist Mitherausgeberin von zwei Büchern zum Thema Wachstum bzw. Wachstumskritik: "Postwachstumsgesellschaft - Konzepte für die Zukunft" (mit Irmi Seidl, der Leiterin der Forschungseinheit Wirtschafts- und Sozialwissenschaften der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft) und "Gutes Leben einfach machen" (mit Prof. Dr. Uwe Schneidewind, Präsident und wissenschaftlicher Geschäftsführer am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie GmbH und Sachverständiger der Wachstums-Enquetekommission des Bundestages).


Bisherige Beiträge zur Degrowth-Konferenz in Leipzig im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → BÜRGER/GESELLSCHAFT → REPORT:

BERICHT/028: Aufbruchtage - Brauch- und Wuchskultur auf die Gegenspur ... (SB)
BERICHT/029: Aufbruchtage - Schuld und Lohn ... (SB)
BERICHT/030: Aufbruchtage - Umkehr marsch ... (SB)
BERICHT/031: Aufbruchtage - Kapital gezähmt ... (SB)
BERICHT/032: Aufbruchtage - Quadratur des Kreises und wie es doch zu schaffen ist ... (SB)
BERICHT/033: Aufbruchtage - Mensch- und umweltfreundlicher Verkehr ... (SB)
BERICHT/034: Aufbruchtage - Die Praxis eines jeden ... (1) (SB)
BERICHT/035: Aufbruchtage - Die Praxis eines jeden ... (2) (SB)
BERICHT/036: Aufbruchtage - Die Praxis eines jeden ... (3) (SB)
BERICHT/037: Aufbruchtage - die Weckruferin ... (SB)
BERICHT/038: Aufbruchtage - globalisierungs- und kapitalismusfreie Demokratie (SB)
BERICHT/039: Aufbruchtage - Gartenbrot und Schrebernot ... (SB)
BERICHT/040: Aufbruchtage - Sozioökologische Auswege ... (SB)
BERICHT/041: Aufbruchtage - mit dem Schnee schmilzt das Leben ... (SB)
BERICHT/042: Aufbruchtage - Klassenkampf und Umweltfront ... (SB)
BERICHT/043: Aufbruchtage - Mit beschränkter Haftung ... (1) (SB)
BERICHT/044: Aufbruchtage - Mit beschränkter Haftung ... (2) (SB)
BERICHT/044: Aufbruchtage - Mit beschränkter Haftung ... (2) (SB)
BERICHT/045: Aufbruchtage - Vielfalt für die Menschen ... (1) (SB)
BERICHT/046: Aufbruchtage - Vielfalt für die Menschen ... (2) (SB)
BERICHT/047: Aufbruchtage - Mit beschränkter Haftung ... (3) (SB)
INTERVIEW/056: Aufbruchtage - Hoffen auf den Neubeginn ...    Tadzio Müller im Gespräch (SB)
INTERVIEW/057: Aufbruchtage - Zwei Seiten einer Medaille ...    Nicola Bullard im Gespräch (SB)
INTERVIEW/058: Aufbruchtage - Sozialökonomie ...    Éric Pineault im Gespräch (SB)
INTERVIEW/059: Aufbruchtage - Entfremdungsfreies Schaffen ...    Stefan Meretz im Gespräch (SB)
INTERVIEW/060: Aufbruchtage - Neue Formen des Protestes ...    Bengi Akbulut im Gespräch (SB)
INTERVIEW/061: Aufbruchtage - Gemeinschaft wecken ...    Barbara Muraca im Gespräch (SB)
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INTERVIEW/065: Aufbruchtage - Pflanzen, Wohnen, Leben ...    Gerda Münnich im Gespräch (SB)
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INTERVIEW/068: Aufbruchtage - Druck von unten ...    Federico Demaria im Gespräch (SB)
INTERVIEW/069: Aufbruchtage - palaverdemokratisch ...    Christopher Laumanns im Gespräch (SB)
INTERVIEW/070: Aufbruchtage - Eine Frage des Systems ...    Steffen Lange im Gespräch (SB)
INTERVIEW/071: Aufbruchtage - ohne Staat und menschenfreundlich ...    David Barkin im Gespräch (1) (SB)
INTERVIEW/072: Aufbruchtage - ohne Staat und menschenfreundlich ...    David Barkin im Gespräch (2) (SB)
INTERVIEW/073: Aufbruchtage - Rückbesinnung, Neuanfang ...    Horst Arndt-Henning im Gespräch (SB)
INTERVIEW/075: Aufbruchtage - und wenn, für alle Menschen ...    Lucia Ortiz im Gespräch (SB)

19. März 2015


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