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BERICHT/067: Klimacamp trifft Degrowth - Blick auf das braune Sterben ... (SB)


Die Hauslosigkeit Borschemichs schreckt sogar Tote

Klimacamp und Degrowth-Sommerschule im Rheinischen Braunkohlerevier 2015


Über 1100 Jahre nach seiner ersten urkundlichen Erwähnung hat sich das niederrheinische Dorf Borschemich für kurze Zeit verdoppelt. Seit 2006 wird Neu-Borschemich auf einem 34 Hektar großen Gelände im Norden der Stadt Erkelenz aufgebaut. Nur zehn Kilometer Luftlinie trennen das alte, in absehbarer Zeit im Braunkohletagebau Garzweiler untergehende und das neue, quasi am Reißbrett entstandene Dorf. Obwohl die alten Straßennamen ebenso erhalten bleiben wie einige Sakralbauten, die an der Kirche St. Martinus standen, in Neu-Borschemich wiedererrichtet werden, sind diese Orte so grundverschieden, daß sich die Kluft zwischen ihnen nicht in Wegmaßen erfassen läßt.


Kirche von der Straße aus gesehen - Foto: © 2015 by Schattenblick

Kirche St. Martinus mit alter Magnolie
Foto: © 2015 by Schattenblick


Hinweisschild, Standbild mit Kreuz, Grabmarkierung - Fotos: © 2015 by Schattenblick Hinweisschild, Standbild mit Kreuz, Grabmarkierung - Fotos: © 2015 by Schattenblick Hinweisschild, Standbild mit Kreuz, Grabmarkierung - Fotos: © 2015 by Schattenblick

Nach dem Auszug der Toten ...
Fotos: © 2015 by Schattenblick

Umsiedlungen ganzer Bevölkerungen zugunsten der Raumforderung industrieller Großprojekte wird gemeinhin mit der Ära stürmischer Produktivkraftentwicklung etwa in der Sowjetunion oder den USA verbunden. Die zentral geplante Zurichtung natürlich und kulturell über lange Fristen gewachsener Landschaften für die Förderung von Energieressourcen und mineralischen Rohstoffen oder für Bewässerungsprojekte wie auch den Aufbau sogenannter Cluster im IT- oder Logistiksektor folgt einer administrativen Ratio, die häufig genug im Widerspruch zu den Interessen der davon betroffenen lokalen Bevölkerung steht. Heute erweist sie sich zudem immer unvereinbarer mit der sozialökologischen Erfordernis, verlustarme Strukturen kleinräumlicher Art in Produktion und Reproduktion zu etablieren.

Allen vollmundigen Behauptungen vom unabdinglichen Erreichen der auf dem UN-Klimagipfel in Paris ausgewiesenen Klimaschutzziele zuwider soll die Förderung und Verstromung der besonders klimaschädlichen Braunkohle im Rheinischen Braunkohlerevier noch mehrere Jahrzehnte fortgesetzt werden. Fristen bis 2050 sind für die Kohleverstromung in NRW im Gespräch, und das angesichts einer Beschleunigung des Klimawandels, die an anderen Orten der Welt längst Menschenleben kostet.


Szenen der Kreuzigung Jesu - Fotos: © 2014 by Schattenblick Szenen der Kreuzigung Jesu - Fotos: © 2014 by Schattenblick Szenen der Kreuzigung Jesu - Fotos: © 2014 by Schattenblick

Kreuzigungsbilder vor dem Abtransport nach Neu-Borschemich
Fotos: © 2014 by Schattenblick

Leere Votivsäulen, Friedhofszenario - Fotos: © 2015 by Schattenblick Leere Votivsäulen, Friedhofszenario - Fotos: © 2015 by Schattenblick

Einsamkeit hat keinen Namen
Fotos: © 2015 by Schattenblick

Für Borschemich ist es auf jeden Fall zu spät. Inzwischen nagen die Abrißbagger am Ortskern, haben den idyllischen Park hinter der Kirche mit seinen verwunschenen Grotten und lauschigen Winkeln eingeebnet, und auch das altehrwürdige ehemalige Wasserschloß Haus Paland wurde dem Erdboden gleichgemacht. Das satte Grün der Bäume fiel den Kettensägen zum Opfer, niemals mehr wird der Wind an diesem Ort durch die Blätter streichen und die nach Blüten und Fichtenharz duftende Luft verströmen. Die letzten noch hartnäckig ausharrenden Bewohner müssen den Ort nun wohl oder übel verlassen, denn der Zahn der Schaufelradbagger frißt sich weit schneller in die Landschaft hinein als der einer Zeit, die so langsam vergeht, daß menschliche Siedlungen über die Jahrhunderte Bestand haben.

Uneingedenk der mitunter jähen Wechsel, die Machtwechsel und Kriege oder Naturkatastrophen über ein Dorf wie Borschemich bringen können, wächst doch für die dort lebenden Menschen eine Vertrautheit heran, die tiefere Wurzeln schlägt als die bloße Zufälligkeit des globalisierten Menschen, der heute in diesem und morgen in jenem Hotelzimmer erwacht. Bodenständigkeit klingt in den Ohren der auf maximale Leistung im Wettbewerb um Ertrag und Erfolg getrimmten Ich AG wie ein Anachronismus aus Zeiten einer Heimatverbundenheit, die in Deutschland vom Blut-und-Boden-Mythos der Nazis langfristig kontaminiert wurde. Daß eine sozial- und lebensräumliche Kontinuität dem Menschen Halt und Sicherheit geben kann, daß die Vertrautheit eines Ortes auf innige Weise mit persönlichen Erlebnissen und Erfahrungen verbunden ist, die mit dessen Verschwinden nach ihrem zeitlichen Vergehen ein zweites Mal aus der Erinnerung getilgt werden, soll für den betriebswirtschaftlich optimierten Lohnempfänger keine Rolle mehr spielen.


Verbliebene Gräber - Foto: © 2015 by Schattenblick

Warten auf den Abtransport zur hoffentlich letzten Ruhestätte
Foto: © 2015 by Schattenblick


Freifläche auf ehemaligen Gräbern - Foto: © 2015 by Schattenblick

Viel Platz, aber keine Menschen ...
Foto: © 2015 by Schattenblick

Analog dem abstrakten Tauschwert des Geldes, dem alles gleichgültig ist außer seinem jeweiligen Zählwert, soll sich der Mensch ganz über die In- und Output-Logik ökonomischer Kalkulationen definieren lassen. Reist die Ware nicht ohnehin an den Ort der günstigsten Kostenbilanz ihrer Fertigung, wird der Mensch mobilgemacht für den Einsatz an jedem Ort und zu jeder Zeit, die die Rationalisierung des Kostpreises der Arbeit vorgibt. Unverwechselbares wie ein Ort, der ebensowenig verpflanzt werden kann wie ein Jahrhunderte alter Baum, soll im globalisierten Kapitalismus der Maxime profitabler Geldverwertung auf der Rechnungsgrundlage des im kleinsten Krämerladen und Straßenstand allgegenwärtigen Weltmarktes weichen. Im Ergebnis trifft der Mensch, wo auch immer er hingeht, auf die uniforme Architektur und die durchorganisierte Warenästhetik transnational agierender Konzerne. Zwar können die geographischen Unterschiede zwischen Hamburg und Harare, zwischen Feuerland und Spitzbergen, nicht eingeebnet werden, doch die Ladenketten, Systemgastronomien und Verkehrsinfrastrukturen geben immer weniger Anhaltspunkt, wo genau der Mensch sich gerade befindet.

Wie tief der Bruch bei der Umsiedlung eines Ortes reicht, wird insbesondere dort deutlich, wo die Menschen sich nicht den ökonomischen Bezügen des alltäglichen Überlebenskampfes unterwerfen, sondern existenzielle Fragen berührt werden. Für viele sind das die Orte, an denen sie ihren Glauben praktizieren und wo sie die letzte Ruhestätte finden. So hat die Umbettung der auf dem Friedhof von Borschemich begrabenen Menschen einen Ort düsterer Hauslosigkeit hinterlassen, an dem nicht einmal mehr die Toten sein wollen. Nach ihrer mit allen erforderlichen Ritualen begangenen Umbettung kommt auch niemand mehr, der seiner verstorbenen Angehörigen gedenken will. Wie der Friedhof wurde auch der Park hinter der Kirche St. Martinus mit seinen Grotten und Denkmälern bis zuletzt von ehemaligen Bewohnern des Ortes besucht. Was bleibt, ist der Kahlschlag des fossilen Produktivismus, den der Mensch in seiner Lebensfeindlichkeit nur fliehen kann, um sich andernorts am Brand der Erde zumindest körperlich zu erwärmen.


Vorder- und Rückseite des Gebäudes - Fotos: © 2014 by Schattenblick Vorder- und Rückseite des Gebäudes - Fotos: © 2014 by Schattenblick

Haus Paland in besseren, aber absehbar verlorenen Zeiten
Fotos: © 2014 by Schattenblick


Schutthaufen mit Bagger - Foto: © 2015 by Susanne Fasbender

Haus Paland im Dezember 2015
Foto: © 2015 by Susanne Fasbender

Im kommenden Jahr 2016 wird auch von der Kirche nichts mehr übrigbleiben. Ob sich die Borschemicher bei allem Komfort, die die moderne bauliche Ausstattung ihres Exils zweifellos bietet, heimisch fühlen werden, ist zu bezweifeln. Der neue, rechtwinklig ummauerte Friedhof, wo die Verstorbenen noch exakter als zuvor in Reih und Glied liegen, könnte die Simulation des unwiderbringlich verlorenen nicht besser auf den Punkt ihres Scheiterns bringen. Wo der Mensch noch einen Rest an nicht tausch- und wechselbarer Subjektivität bewahrt, wird ihm diese Eigenständigkeit wenn nicht im Leben, dann im Tode abspenstig gemacht. Als Verfügungsmasse fremder Interessen, in diesem Fall des Energiekonzerns RWE Power, der den Industriestandort NRW auch dann noch mit Kohlestrom versorgen soll, wenn die erneuerbaren Energieerzeuger die zerstörerische Braunkohleverstromung längst ersetzen könnten, bleibt ihnen als Konsequenz nichteingestandener Ohnmacht, gute Miene zum bösen Spiel zu machen.

Mit einigen Bildern aus den Ortsbegehungen der Schattenblick-Redaktion im Mai 2014 und Juni 2015 soll ein Zeichen dafür gesetzt werden, daß das Unwiderbringliche so lange nicht verloren ist, als Menschen darum kämpfen, der Wiederholung ewig gleicher Fehler Einhalt zu gebieten.


Flieder, leere Grotte, Kirche im Juni 2015 - Fotos: © 2015 by Schattenblick Flieder, leere Grotte, Kirche im Juni 2015 - Fotos: © 2015 by Schattenblick Flieder, leere Grotte, Kirche im Juni 2015 - Fotos: © 2015 by Schattenblick

Verwunschener Park, verwaiste Grotte
Fotos: © 2015 by Schattenblick


Gelände des Kirchenparks nach Abholzung - Foto: © 2015 by Susanne Fasbender

Baumstümpfe, wo einst der Flieder blühte - Kirchenpark im Dezember 2015
Foto: © 2015 by Susanne Fasbender

Ortsbegehung im Braunkohleabbaugebiet Garzweiler am 25. Mai 2014

Kohle, Gifte, Emissionen - Industrie vor Menschenrecht, Teil 1-3 (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umrb0077.html
http://www.schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umrb0078.html
http://www.schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umrb0079.html


Klimacamp und Degrowth-Sommerschule 2015 im Schattenblick
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26. Dezember 2015


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