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BERICHT/085: Lebenskultur fordert Straße zurück ... (SB)


Warum ein Pastor die Willy-Brandt-Straße besetzte

von Julia Barthel und Jan Wenzl


Die St. Katharinenkirche, in der Pastor Frank Engelbrecht arbeitet, liegt an einem seltsamen Ort. Direkt zwischen der Innenstadt mit ihren großen Geschäftsstraßen und der alten Speicherstadt am Hafen steht das älteste Bauwerk in Hamburg, umgeben von Kopfsteinpflaster auf einem idyllischen Kirchhof. Direkt neben diesem Kirchhof braust der Verkehr auf der Willy-Brandt-Straße vorbei mit der Lautstärke einer Autobahn. Rund 60.000 Fahrzeuge jagen hier pro Tag durch und machen die Überquerung der großen Straße zu einem Alptraum für Fußgänger und Fahrradfahrer. Die Hauptkirche St. Katharinen steht isoliert zwischen der Speicherstadt und der Innenstadt. Wie eine Insel in einem Meer aus Bürogebäuden und Autoverkehr. Das soll sich ändern!

"Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir" (Hebräer 13, 14). Auf diesen Schriftzug über dem Eingang zur Kirche stößt der Besucher, wenn er den Turm von St. Katharinen betritt. Er ist bezeichnend für eine moderne Stadtentwicklung, in der Funktionalität und Wirtschaftlichkeit stets Vorrang vor anderen Bedürfnissen der Menschen hatten. Mit dem Bau der Speicherstadt verloren schon im Jahr 1883 tausende von Menschen ihre Wohnungen zu Gunsten eines hochmodernen Lagerhausquartiers am Hamburger Hafen. Die ehemals dicht besiedelte Altstadt begann einer funktionalen Stadtplanung zu weichen. Auf die großflächigen Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg folgte der Bau einer autogerechten Stadt. Breite Verkehrsadern wie die Willy-Brandt-Straße ersetzen seither die Wege auf denen sich die Menschen früher vom Zentrum der Stadt zur Kirche bewegen konnten. Man könnte hier von Unglück oder Fügung sprechen, aber tatsächlich stecken hinter dieser Stadtplanung in erster Linie wirtschaftliche und verkehrspolitische Interessen. Heute besteht die Hamburger Altstadt aus vereinzelten Fragmenten und wird von Bürogebäuden, Einzelhandel und Autoverkehr dominiert.

"Das muss aber nicht so bleiben!" findet Frank Engelbrecht, Pastor an der Hauptkirche St. Katharinen. Aber wie kann man eine zukünftige Stadt finden, die nach den Bedürfnissen der Menschen tickt, die hier leben und arbeiten? Engelbrecht hat dafür einen Weg gefunden, der auf keiner Karte verzeichnet ist: Den Katharinenweg. Er führt von der Figur der heiligen Katharina am Rathausmarkt bis zur St. Katharinenkirche, reicht aber im Geiste noch weit darüber hinaus bis in den Süden von Hamburg. Dieser Weg markiert eine Verbindung zwischen der Innenstadt und der Altstadt von Hamburg bis in die moderne HafenCity hinein.


Foto: © 2016 Elbe & Flut / Thomas Hampel

Prozession mit Musik auf dem Katharinenweg am Tag des Offenen Denkmals
Foto: © 2016 Elbe & Flut / Thomas Hampel

Vom 11. September bis zum 2. Oktober 2016 wird der Katharinenweg neu gedacht und neu bespielt. Mit Kunst im öffentlichen Raum, Performances inmitten der Fußgänger und einem Straßenfest, auf dem Musik und Gemeinschaft gegen den Verkehrslärm der Stadtautobahn in Stellung gebracht werden. Es heißt so schön: "Wege entstehen dadurch, dass man sie geht" und in diesem Sinne geht es darum, einen neuen Weg zu erproben, wie der öffentliche Raum im Zentrum von Hamburg anders genutzt werden kann als bisher: Als Spielraum und Leinwand, zum Singen und Tanzen, zum Bleiben und Entspannen für alle Menschen mit guten Ideen. Die Tatsache, dass der öffentliche Raum im Grunde allen Stadtbewohnern frei steht und die vorhandenen Strukturen nicht in Stein gemeißelt sind, vermittelt sich aber nur durch die unmittelbare Erfahrung. Deswegen stand der Katharinenweg 2016 unter dem Motto: Einfach losgehen und machen!

Schon beim Ausstieg aus der U-Bahn Rathaus stieß man direkt auf den ersten Bruch im gewohnten Stadtbild, das aus dicht gepacktem Einzelhandel und engen, zugeparkten Straßen besteht. Hier schlug für zwei Tage Hartmut Gerbsch mit der Aktion PARK PLATZ seine Zelte auf und verwandelte einen Parkplatz mit Rollrasen und Gartenstühlen in eine temporäre Grünfläche. Inspiriert war die Aktion vom internationalen Parking Day, welcher jährlich am dritten Freitag im September ausgerufen wird. Hierbei sind Künstler, Aktivisten und Bürger aufgerufen, Verkehrsflächen für einen Tag auf alternative Weise zu nutzen und so dem öffentlichen Raum eine neue Bedeutung zu verleihen. Diesem Anspruch konnte Hartmut Gerbsch mit seiner neu geschaffenen Grünfläche voll gerecht werden. Der PARK PLATZ wurde über zwei Tage hinweg zu einem spannenden Diskussionsforum, an dem sich selbst Hamburger Politiker beteiligten. Eine interessante Bespielung mit einem Konzert der Hamburger Band "Tornado" und durch eine dreiköpfige Zittergruppe zeigte zudem, welches Potential ein Raum hat, wenn seine Nutzung nicht ausschließlich auf wirtschaftliche Interessen beschränkt wird.


Foto: © 2016 Elbe & Flut / Thomas Hampel

Die lebende Installation PARK PLATZ von Hartmut Gerbsch
Foto: © 2016 Elbe & Flut / Thomas Hampel

Folgt man dem Katharinenweg weiter, stößt man recht bald auf die Willy-Brandt-Straße, die wie ein Super-Highway aus einer utopisch anmutenden 50er Jahre Architekturskizze das Hafenviertel von dem Rest der Altstadt trennt. Direkt anliegend türmt sich das Gebäude der Commerzbank in charmant grauem Stahlbeton auf. Man könnte meinen, es sei der gleichen Vision entsprungen, so gut schmiegt es sich hier in das zerklüftete Stadtbild ein. Um diesem architektonischen Ensemble einen herben Bruch entgegen zu setzen, installierte der Künstler Philip Schewe "Loch Neß".

Eine großflächige Verhüllung des Commerzbank Gebäudes, die einen surreal anmutenden Wal zeigt, welcher symbolisch über den Abgrund der Willy-Brand-Straße springt.

Das opulente Bild mit zwei tanzenden Meerjungfrauen im Vordergrund ist in seiner bewusst gewählten Kommentarlosigkeit jedoch kaum von einer modernen Werbefläche zu unterscheiden. So setzt diese Installation zwar ein markantes Zeichen für die künstlerische Nutzung von Oberflächen im städtischen Raum, doch eine Kritik an der urbanen Wirklichkeit vor Ort lässt sich daraus nicht direkt ablesen.


Foto: © 2016 by Julia Barthel

Großflächige Installation "Loch Neß" an der Commerzbank Fassade
Foto: © 2016 by Julia Barthel

Hat man es geschafft, die Straße trotz sporadischer Grünphasen für Fußgänger zu überqueren, kommt man einige Meter weiter zur Katharinenkirche. Die älteste der Hamburger Hauptkirchen hat eine lange Geschichte von Zerstörung und Aufbau hinter sich. Unter anderem wurden durch die Luftangriffe des zweiten Weltkrieges die Kirchenfenster vollständig zerstört, wobei das Fensterglas zusammenschmolz und im Schutt verschwand. Diese geschmolzenen Fensterscheiben wurden von den Künstlern Alexandra Ewerth und Uwe Nitsche mit der Installation "Ans Licht gebracht" zu neuem Leben erweckt. In einer ausgehobenen Grube auf dem Kirchhof werden 400 Jahre alte Bruchstücke eines Kirchenfensters beleuchtet und in Szene gesetzt. Sie stehen symbolisch für das bunte, einst lichtdurchflutete Tauffenster, das vor der Zerstörung durch den Krieg die Katharinenkirche schmückte. Die Installation zeigt in ihrer unaufdringlichen, geradezu archäologischen Darbietungsform einen interessanten und stillen Bezug zur Vergangenheit des Raumes.

Betritt man die Kirche, mit den gekalkten Wänden und schnörkellosen Holzbänken, die ihrer Geschichte als Anlaufpunkt für Seefahrer und Hafenbewohner noch immer Gültigkeit verleihen, stößt man auf etwas Unerwartetes. Fast selbstverständlich stehen alte Kirchenbänke und Stühle aufeinandergestapelt, verwoben und verdreht im Nordschiff. Teils scheinen sie der Schwerkraft zu trotzen und merkwürdige Geräusche hallen aus der verschlungenen Konstruktion, die sich ständig zu verändern scheint. Was hier sein ganz eigenes Leben entwickelt, ist die Installation "Principles of Population" von Nir Alon, Annika Unterburg, Stefan Troschka und Chiara Kramer. Gezeigt werden soll die einzigartige Geschichte, die jeder Gegenstand in seiner eigenen Zeit durchlebt. Alle Gebrauchsgegenstände sind mit ihren Nutzern verbunden und durch ihren Gebrauch geprägt. Die Installation lädt dazu ein, über die Geschichte des Ortes und der Gegenstände, die ihn bevölkern, nachzudenken und sich aktiv daran zu beteiligen. Die Stühle und Bänke dürfen vom Besucher beliebig neu angeordnet werden. So entsteht ein organisches Kunstwerk, das den historischen Ort auf ganz neue Art bereichert.

Neben den Installationen sollte die Botschaft des Katharinenwegs 2016 "Damit die Stadt zusammenwächst" auch durch Aktionen im öffentlichen Raum vermittelt werden. Kaum etwas eignet sich dafür besser als Tanz, Gesang und Schauspiel. In der langen Nacht der Kirchen mischte das Ensemble One eine ganze Straße in der Innenstadt durch spontane, kraftvolle und philosophische Darbietungen auf. An fünf verschiedenen Punkten traten die Darsteller mit dem Publikum in einen Dialog über eine zentrale Frage: "Was wäre, wenn die Straßen in dieser Stadt deinen Namen tragen würden?" Wie in einem Brennglas bündelten die Darsteller all die widersprüchlichen Gefühle, die man als Stadtbewohner kennt, in einem getanzten Gedicht: Die fahlen Gesichter der Mitmenschen, die Elemente von Hitze und Kälte, die miteinander ringen und die Wahrnehmung der Stadt beeinflussen, das Überladen der Sinne und den Genuss des Heimatgefühls, das brummende Leben und die Lichter in den Straßen, kurz, die Urbanität mit allen Problemen und Chancen. Umwerfend verkörpert wurde das gesprochene Wort des Autors Florian Tietje durch die Tänzerin Sarah Isabel Mohr. Jede Regung von Hitze und Kälte, Niedergeschlagenheit und Lebendigkeit, Geborgensein und Verlorensein konnte man unmittelbar spüren. In ihrer Dichte und Poesie war diese Performance eine Gelegenheit zu erleben, was es heißt, wenn Menschen die Straßen der Stadt mit ihren Gedanken und Gefühlen aufladen.


Foto: © 2016 by Francesco Cordeddu

Wo die Straßen deinen Namen tragen, werden sie lebendig.
Foto: © 2016 by Francesco Cordeddu

Als Höhepunkt der Veranstaltung war die Sperrung der Willy-Brandt-Straße geplant. Ein Demonstrationszug sollte die Menschen von der St. Petri Kirche bis auf die Kreuzung zwischen Willy-Brandt-Straße und Domstraße führen. Bedauerlicherweise schienen die Hamburger nach der Demonstration gegen CETA & TTIP, die am selben Tag stattfand, ihr Kontingent für Protest und sozialen Ungehorsam bereits aufgebraucht zu haben. Nur rund 25 Menschen sammelten sich um Pastor Frank Engelbrecht, um seinem Demonstrationszug für eine zusammenwachsende Altstadt zu folgen. So lief man statt auf der Straße auf dem Bürgersteig, wobei der Pastor, merklich beeinflusst von der engen Taktung der Veranstaltung, im Laufschritt voranmarschierte, fast eine rote Ampel überrannte und dabei die Demonstrationsgesellschaft beinahe abhängte. Zur Rettung eilte Mitorganisator und Stadtentwickler Rolf Kellner, der die Demonstration schlicht zu einer Stadtführung umfunktionierte. Spontan erläuterte er historische und politische Zusammenhänge in der Entwicklung der Altstadt anhand verschiedener Wegpunkte.

Fürchteten die Beteiligten zu diesem Zeitpunkt schon ein Scheitern der ganzen Aktion, so konnten doch am Ende des Weges alle aufatmen. Mehrere hundert Menschen hatten sich auf dem Ost-West-Straßenfest bei der Zollenbrücke versammelt und legten um Punkt 20.30 Uhr gemeinsam die Willy-Brandt-Straße lahm. Aber jede Versammlung braucht einen Mittelpunkt und so stürmte die Street-Dance Gruppe "The Fantastix" die leerstehende Kreuzung, um die Straße zurück zu fordern. Eben noch hatten sie mit dem Ensemble One den Parkplatz vor der Commerzbank okkupiert, jetzt machten sie aus einer leeren Straßenkreuzung ein pulsierendes Zentrum. Mit ausufernder Freude an der Bewegung und fliegenden Saltos zeigten die Fantastix, wie schön die Straßen sein können, wenn man darauf tanzt und skandierten mit den Demonstranten den Claim des Tages: "Damit die Stadt zusammenwächst!"


Foto: © 2016 by Julia Barthel

Straßenfest statt Autos an der Willy-Brandt-Straße
Foto: © 2016 by Julia Barthel

In kürzester Zeit wurde die Straße vollständig von den Menschen vereinnahmt und wo sonst nur Maschinen und Transit existieren dürfen, entwickelten sich öffentliches Leben und Gemeinschaft. Es gelang den Veranstaltern eindrucksvoll zu zeigen, wie die Menschen ihre eigene Umwelt gestalten können und welches Potential ein Raum hat, wenn er denn genutzt wird. Da auch das befürchtete Verkehrschaos aufgrund der Sperrung vollständig ausblieb, gilt es nun nachzudenken, ob die Forderung des Pastors nach der Abschaffung der Willy-Brandt-Straße tatsächlich so abwegig ist ...

27. September 2016


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