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INTERVIEW/003: Judith Gleitze von Borderline Europe zur Flüchtlingssolidarität (SB)


"Das Wichtige ist nicht die Solidarität mit den Flüchtlingen, sondern die Zusammenarbeit"

Interview mit Judith Gleitze am 1. Dezember 2011 in Hamburg-Altona

Judith Gleitze - Foto: © 2011 by Schattenblick

Judith Gleitze
Foto: © 2011 by Schattenblick
Am 1. Dezember 2011 war Judith Gleitze von Borderline Europe von ihrer Wirkstätte auf Sizilien nach Hamburg gekommen, um in der Altonaer Werkstatt 3 auf einer vom Flüchtlingsrat Hamburg organisierten Veranstaltung ein Referat zum Thema "Bewegungen im Mittelmeerraum - Auswirkungen der arabischen Aufstände auf Migration und soziale Kämpfe in Italien und anderen Ländern" [1] zu halten.

Nachdem sie auf der Basis ihrer Unterstützungsarbeit vor Ort eindringlich die Situation Tausender Flüchtlinge aus den Maghrebstaaten, die auf Lampedusa wie auch in anderen italienischen Lagern, aber auch in der Region Nordafrika unter katastrophalen Bedingungen gestrandet sind, geschildert hatte und mit den Anwesenden in einen angeregten Informations- und Meinungsaustausch getreten war, beantwortete sie dem Schattenblick noch einige Fragen.


Schattenblick (SB): Vor einem halben Jahr sind mehrere Delegationen migrationspolitischer Gruppen im tunesischen Lager Choucha nahe der libyschen Grenze gewesen. Anschließend gab es den Appell "voices from choucha - Fluchtwege öffnen, Flüchtlinge aufnehmen". Welche Resonanz hat es bis heute daraufhin gegeben?

Judith Gleitze (JG): Es gab, nachdem wir diesen Appell veröffentlicht hatten, relativ schnell eine Sammlung von über 2000 Unterschriften im deutschen Raum. Die politische Resonanz ist natürlich - wie immer - gleich null. Sprich: Bis jetzt sind keinerlei Vorstöße unternommen worden. Der erste ist tatsächlich der der Integrationsministerin von Rheinland-Pfalz, die gesagt hat: "Wir sollten 550 Flüchtlinge aufnehmen." Das ist die erste Reaktion insgesamt.

SB: Man könnte manchmal den Eindruck gewinnen, als ob sich die AktivistInnen in der Menschenrechtsbewegung umso mehr engagierten, je weiter entfernt sich die festgestellten Mißstände, gegen die sie sich wenden, befinden. Welche Erfahrung haben Sie in Ihrer Arbeit damit gemacht?

JG: Ich habe zwölf Jahre in Brandenburg gearbeitet und muß sagen, daß das auch vor Ort ganz ordentlich war. Wir haben da ziemlich viel versucht, auf die Beine zu stellen. Die Flüchtlingsräte im allgemeinen versuchen das - wie hier in Hamburg - auch. Was man sagen kann, glaube ich, ist, daß Menschen gerne für Sachen spenden, die weit weg sind. Sie spenden ungern für Dinge, die direkt vor der eigenen Haustür passieren. Das ist, glaube ich, ein allgemeines Übel.

SB: Da Sie gerade die "eigene Haustür" erwähnen: Trifft die Abneigung, sozusagen vor der eigenen Haustür zu kehren, auch auf linke und fortschrittliche Gruppen zu, die sich in ihrem Engagement mitunter schwer tun, die eigenen Regierungen zu kritisieren? Halten Sie es für denkbar, daß die Propaganda zur Flüchtlingsabwehr, im Stile von "Das Boot ist voll" und so weiter, auch bei Menschen verfangen haben könnte, die sich für Flüchtlinge einsetzen?

JG: Ich halte das schon für denkbar. Ich glaube, daß es eine liberale, bürgerliche Mitte gibt, die sagt: "Das geht ja gar nicht". Aber wenn dann so populistische Sachen kommen wie "Das Boot ist voll" oder "Der biblische Exodus", kann das bei vielen Leuten trotzdem greifen, wenn man ihnen das richtige Bild dazu gibt. In Italien funktioniert das sehr gut. Das heißt, ich zeige dir nur die Ankünfte der Flüchtlinge und sage nicht dazu, daß es nicht drei Millionen Menschen sind, sondern nur 220. Dementsprechend hat der Populismus leider eine große Wirkung auch auf Leute, die sich politisch gar nicht so sehr engagieren, aber im Prinzip eine positive Einstellung gegenüber den Flüchtlingen hätten.

SB: Wie ist es konkret um die Proteste bestellt gegen die Weigerung Deutschlands und der EU, Flüchtlinge aus den nordafrikanischen Staaten aufzunehmen, obwohl diese Staaten andererseits die dortigen Demokratiebewegungen - zumindest dem Anschein nach - unterstützen? Ist das bei der Linkspartei ein Thema?

JG: Dazu kann ich leider überhaupt nichts sagen. Ich interessiere mich ehrlich gesagt inzwischen nicht mehr so sehr für Parteipolitik, weil das für mich alles eins geworden ist. Es gibt da keine großen Unterschiede mehr. Zu der Politik in Deutschland kann ich sowieso gar nichts mehr sagen, weil ich seit drei Jahren nicht mehr hier bin. Aber in Italien hat die sogenannte Linke so viel damit zu tun, sich gegen die ehemalige Regierung zu platzieren, gegen die Rechte, gegen die Mitte, was auch immer das sein mag, und sich nicht selbst dabei zu zerfleischen, daß das kein Thema ist.

SB: In Tunesien wie auch in Ägypten ist es inzwischen zu den ersten Wahlen seit dem "Sieg" - in Anführungsstrichen - der Demokratiebewegung gekommen - Zeit für ein erstes Fazit. Wie schätzen Sie die Ergebnisse ein, die in Tunesien als dem ersten Land des Arabischen Frühlings bislang erreicht werden konnten?

JG: Das ist, finde ich, sehr schwer zu sagen. Dafür bin ich zu wenig drin im tunesischen Geschehen. Immerhin gab es Wahlen, das ist schon einmal positiv. Ich sehe, wie die ausgegangen sind, aber das zu beurteilen, ist eine andere Sache. Sicherlich ist die Ennahda-Partei eine religiös geprägte Partei, die sich im Moment relativ zurückhält. Dieses große Geschrei wegen "Islamisten, Islamisten" würde ich erst einmal sehr klein halten. Wir müssen die weitere Entwicklung abwarten.

SB: In einem Beitrag, der im Jahrbuch 2009 des Komitees für Grundrechte und Demokratie [2] erschien, haben Sie die europäische Migrationsverwaltung am Beispiel Italiens und Libyens beschrieben. Wie hat sich seitdem die Situation verändert, zumal die politische Lage nach dem Krieg gegen Libyen und dem Sturz Ghaddafis, aber auch durch den Abgang Berlusconis, inzwischen eine ganz andere geworden ist?

JG: Wir können in Italien bei der neuen Regierung im Moment noch gar nicht so genau sagen, wohin der Hase läuft. Es ist eine sogenannte "technische" Regierung, die sich ganz klar nicht "politisch" nennt. Wir wissen noch nicht ganz genau, was da passieren wird. Ansonsten hat sich mit dem Sturz der vorherigen Regierung Berlusconi eigentlich gar nichts geändert. Das erste, was die damalige Regierung bis Oktober gemacht hatte, war, nach Libyen zu gehen und zu versuchen, mit den Rebellen neue Verträge zu schießen. Das heißt, es ändert sich in der Flüchtlingspolitik gar nichts.

Gesunkenes Flüchtlingsboot treibt im Wasser - Foto: © 2011 by Borderline Europe

Menschengemachte Tragödien im Mittelmeer
Foto: Mit freundlicher Genehmigung - © 2011 by Borderline Europe

SB: Cornelia Gunßer vom Flüchtlingsrat Hamburg, die den heutigen Abend moderiert hat, hatte sich in demselben Jahrbuch mit solidarischen Netzwerken an den euro-afrikanischen Grenzen befaßt, was heute auch ein wichtiges Thema war. Yufanyi Movuh Mbolo, ein aus Kamerun stammender Professor für Forst- und Naturschutzpolitik von der von Flüchtlingen gegründeten Organisation "The Voice", hatte in seinem Beitrag zu diesem Buch "'Die Stimme' der Toten und derjenigen, die noch sterben werden" Kritik auch an linken und progressiven Bewegungen geübt, weil sie diesen Kampf dominieren wollen würden. Die Flüchtlinge würden nicht nur vom Staat, sondern auch dem Rest der Gesellschaft inklusive der Linken angegriffen werden, sagte er. Wie stehen Sie zu diesen konträren Standpunkten?

JG: Das kann ich ehrlich gesagt schwer beurteilen. Ich denke, daß es dieses Instrumentalisieren der eigenen Kämpfe sehr wohl gibt. Ich nehme jetzt 'mal die Flüchtlinge und Migranten und meine eigene Arbeit - da gibt es das schon, gerade auch von linken Gruppen. Aber deswegen hat ja Conny auch ganz klar gesagt: "Das Wichtige ist nicht die Solidarität mit den Flüchtlingen, sondern die Zusammenarbeit, sprich: Wir machen etwas gemeinsam. Nicht 'Ich kämpfe für dich', sondern 'Ich kämpfe mit dir.'"

SB: Zum Begriff Revolution bzw. Demokratiebewegung: Gibt es Ihrer Kenntnis nach Anhaltspunkte dafür, daß die Protestbewegungen in den nordafrikanischen Staaten von Institutionen oder Organisationen, die im Interesse der westlichen Staaten handeln, zum Zwecke der Vereinnahmung unterstützt werden? Ich denke dabei beispielsweise an die "Stiftung für eine offene Gesellschaft" des US-Milliardärs George Soros, die die sogenannte Demokratiebewegung, "internationale Zivilgesellschaft" genannt, weltweit sponsert und auf diesem Wege zu intrumentalisieren sucht.

JG: Das wäre sicherlich eher eine Frage an meinen Kollegen Helmut Dietrich gewesen, der leider heute nicht da war. Was es glaube ich wirklich gibt, ist das Unterlaufen der Demokratiebewegung. Das heißt, daß die konterrevolutionären Kräfte in Tunesien relativ groß sind. Die Parteien um und mit Ben Ali, also Ex-RCD und so, haben schon sehr versucht - das sagen uns die Tunesier selbst -, bei den Wahlen wieder an Einfluß zu gewinnen. Die genießen sicherlich unter der Hand Unterstützung von den westlichen Staaten, weil es einfach ein wirtschaftliches Interesse gibt. Ich denke, daß Italien und sicherlich auch Frankreich auch die neue Regierung, die neue Demokratie unterstützen und damit unterlaufen, indem sie dem Integrationsprozeß Geld zahlen: "Ihr behaltet die hier und wir geben euch Geld dafür." Das läuft weiter so, das werden die weiter versuchen. Und da ist jetzt wirklich die Frage, wie die neue tunesische Regierung auf Dauer darauf reagieren wird. Das wissen wir einfach noch nicht.

SB: Der sogenannten "illegalen" Einwanderung wird seitens der EU mit militärischen Mitteln entgegengearbeitet. Welche Chancen haben die Emanzipationsbewegungen der nordafrikanischen Staaten, die Dominanz der westlichen Staaten vollständig zurückzudrängen und Lebensverhältnisse zu schaffen, die niemanden mehr zwingen bzw. veranlassen, seine Heimat zu verlassen? Eine Frage an Sie für ein Schlußwort.

JG: Ich wünschte mir, daß sie die Kraft hätten, dem entgegenzutreten und zu sagen: "Wir machen jetzt unsere eigene Sache und sind nicht mehr abhängig von euch." Solange aber so wahnsinnig viele europäische Firmen ihr Unwesen - nennen wir es einmal so - in einem Land wie Tunesien treiben, geht es immer ums Geld. Und solange es ums Geld geht, ist jeder Staat käuflich. Das ist alles schwer abzusehen. Ich finde es sehr schwierig, das zu beantworten. Aber ich glaube, sie hätten eine Chance, wenn sie sagen würden: "Ihr geht jetzt nach Hause, wir machen jetzt unser eigenes Ding." Das haben sie nicht gemacht.

SB: Vielen Dank, Frau Gleitze, für dieses Interview.

Eingang zur Werkstatt 3 - Foto: © 2011 by Schattenblick

Fragen praktischer Flüchtlingssolidarität fernab des Mittelmeers
Foto: © 2011 by Schattenblick

Anmerkungen

[1] Siehe im Schattenblick -> INFOPOOL -> BÜRGER/GESELLSCHAFT -> REPORT
BERICHT/005: Flucht - Sozialarbeit - Vermeidung (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brrb0005.html

[2] Komitee für Grundrechte und Demokratie (Hrsgb.), Jahrbuch 2009, Jenseits der Menschenrechte. Die europäische Flüchtlings- und Migrationspolitik, Verlag Westfälisches Dampfboot, München, 2009.
Siehe im Schattenblick -> INFOPOOL -> BUCH -> SACHBUCH:
REZENSION/479: Komitee für Grundrechte und Demokratie (Hg.) - Jahrbuch 2009 (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buch/sachbuch/busar479.html

12. Dezember 2011