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INTERVIEW/006: Am eigenen Leib - ein Anwalt zum US-Strafjustizsystem (SB)


Ich gegen Amerika - Rechtsanwalt R. Berkau erinnert sich



Der Hamburger Rechtsanwalt Reinhard Berkau und die Journalistin Irene Stratenwerth bringen mit ihrem Buch "Ich gegen Amerika - Ein deutscher Anwalt in den Fängen der US-Justiz" [1] dem Leser die erschütternde Erfahrung einer zwei Jahre währenden Odyssee durch neun US-amerikanische Haftanstalten nahe. Konfrontiert mit einem Justizsystem, das zentrale Eckpfeiler der Rechtsstaatlichkeit vermissen läßt, und einem gefängnisindustriellen Komplex ausgeliefert, der ein milliardenschweres Geschäft betreibt, erfuhr Berkau die Willkür der Verurteilung und die schockierenden Zustände der Haft am eigenen Leib. Bei dieser Dokumentation geht es ihm dennoch nicht so sehr um seine eindrückliche persönliche Leidensgeschichte als vielmehr die ökonomische und politische Entschlüsselung eines Molochs, der in weltweit beispielloser Zahl Gefangene macht und hinter seinen Mauern wegschließt. Der Schattenblick hatte die Gelegenheit, Reinhard Berkau zu seinen Erfahrungen und Einschätzungen zu befragen.

Reinhard Berkau - Foto: © 2012 by Schattenblick

Reinhard Berkau
Foto: © 2012 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Herr Berkau, Sie haben zusammen mit Irene Stratenwerth ein sehr persönliches Buch über ihre Erlebnisse verfaßt. 2006 wurden Sie in den USA unter mysteriösen Umständen verhaftet, haben zwei Jahre in neun verschiedenen amerikanischen Gefängnissen und zuletzt in zwei deutschen verbracht. In einigen Hamburger Medien wurde damals kontrovers über Sie berichtet. Auf die Gefahr hin, die Hunde der Aufmerksamkeit noch einmal wachzurufen, haben Sie sich entschlossen, dieses Buch zu schreiben. Was hat Sie dazu motiviert?

Reinhard Berkau (RB): Die Presse in der Bundesrepublik und speziell hier in Hamburg hat damals so gut wie gar nicht über mich berichtet. Es gab nur ganz wenige kleine Artikel. Ich fand das auch ganz gut so, weil das die Sache für meine Kanzlei etwas leichter gemacht hat. Meine Mitarbeiter wußten ja zuerst überhaupt nicht, wie sie damit umgehen sollten. Als ich inhaftiert worden war, waren für mich natürlich zunächst ganz andere Probleme vordringlich. Im Grunde gab es nur einen einzigen nennenswerten Artikel in der Hamburger Morgenpost.

Was das Buch betrifft, lag mir zunächst fern, meine Erlebnisse zu Papier zu bringen. Ein guter Bekannter hatte mir damals schon relativ frühzeitig in einem Brief die Idee nahegebracht, diese außergewöhnliche Geschichte aufzuschreiben. Ich habe den Vorschlag rigoros abgelehnt und gesagt, das komme überhaupt nicht in Frage, über den ganzen Mist auch noch ein Buch zu schreiben. Diese ablehnende Haltung wurde jedoch im Laufe der Zeit Stück für Stück aufgeweicht.

Anfangs habe ich ja in keiner Weise verstanden, was los war, und es hat Monate gedauert, bis mir einigermaßen klar wurde, welchen Verhältnissen ich unterworfen war. Ich bin dann nachdenklicher geworden und habe schließlich nicht mehr ausgeschlossen, in Buchform zu berichten, was mir widerfahren ist. Und dann ist mir Irene Stratenwerth über den Weg gelaufen. Wir setzten uns zusammen, tauschten unsere Erlebnisse in den letzten Jahren aus, worauf sie entschieden sagte: Ganz klar, über deine Zeit im Gefängnis muß ein Buch geschrieben werden! Und das haben wir dann auch gemacht.

SB: Wie hat sich Ihre Zusammenarbeit mit Irene Stratenwerth gestaltet?

RB: Ich habe das Material geliefert, und sie hat es aufgeschrieben. Aus meiner Feder stammt lediglich der Epilog, was man beim Lesen merken kann, weil er in einem anderen Stil gehalten ist.

SB: Wie fielen die Reaktionen auf Ihr Buch aus? Welche Rückmeldungen haben Sie nach seinem Erscheinen bekommen?

RB: Die Leute, die das negativ sehen nach dem Motto, da wird schon irgendwas dran gewesen sein oder der wird schon irgendwas verbrochen haben, melden sich bei mir nicht. Ich habe also keine negativen Feedbacks bekommen, sondern durchgängig positive. Schmähungen welcher Art auch immer blieben aus. Die einzige Ausnahme, wenn man so will, war jener Journalist der Morgenpost, der schon damals voller Häme über mich berichtet hatte.

SB: Sie haben in einer Lesung auf einer Veranstaltung des Hamburger Anwaltsvereins am 9. Mai Ihr Buch vorgestellt. Wie haben Ihre Kollegen auf Ihre Erfahrungen reagiert?

RB: Es waren zwischen 150 und 160 Zuhörer gekommen, die die Grundbuchhalle bis auf den letzten Platz füllten. Das gemischte Publikum setzte sich aus vielen Juristen, aber auch zahlreichen Besuchern, die nicht vom Fach waren, zusammen. Die Reaktionen fielen durchweg sehr interessiert aus, so daß es schade war, daß die angeregte Diskussion im Anschluß an die Lesung nach etwa einer Dreiviertelstunde vielleicht etwas zu früh abgebrochen wurde. Die Gespräche wurden dann in diversen kleineren Gruppen noch lange fortgesetzt. Alles in allem also eine ausgesprochen spannende und gelungene Veranstaltung, bei der auch einige Prominenz zugegen war. Ich bin ja seit 1980 als Anwalt tätig und nicht ganz unbekannt in Hamburg.

Foto: © 2012 by Schattenblick

Foto: © 2012 by Schattenblick

SB: Sie haben in Ihrem Buch einige wesentliche Unterschiede zwischen dem deutschen Rechtssystem und jenem der USA herausgearbeitet. Könnten Sie unseren Lesern diese Unterschiede anhand einiger prägnanter Beispiele skizzieren?

RB: Den Hauptunterschied sehe ich darin, daß das System der USA kein Rechtsstaat in unserem Sinne ist. Wenngleich stets das Gegenteil behauptet wird, haben die dortigen Auffassungen mit unseren Vorstellungen von Rechtsstaatlichkeit überhaupt nichts zu tun. Obwohl ich auch an unserem Rechtssystem etliches auszusetzen habe, halte ich es doch mit aller Vorsicht gesagt für mehr oder weniger ausgewogen. Mit dem deutschen System kann man umgehen und arbeiten, mit dem US-amerikanischen nicht.

Es gibt diese wahnsinnige offizielle Zahl von 2,4 Millionen Gefangenen in US-Gefängnissen, wobei es in Wahrheit noch viel mehr sind. Da sind noch die Militärgefängnisse, Jugend-Camps, Boot-Camps und andere Einrichtungen zu nennen, die nicht in der offiziellen Zählung enthalten sind. Wahrscheinlich sind es rund 2,6 Millionen Menschen, die gegenwärtig in Haftanstalten sitzen. Nicht alle Zahlen sind zugänglich, die meisten aber schon, da es in den USA keinen Datenschutz gibt und man daher viele Informationen beschaffen kann. Es handelt sich um nichts anderes als eine moderne Form der Sklaverei, nur mit etwas anderen Vorzeichen.

SB: Die weit verbreitete Vorstellung, die USA seien gewissermaßen der Vorreiter der Demokratie, trifft demnach nicht zu. Ist die von Ihnen genannte fehlende Rechtsstaatlichkeit bereits in der Verfassung angelegt oder hat sie sich erst später herausgebildet?

RB: Zunächst einmal ist Demokratie nicht gleichzusetzen mit Rechtsstaat. Ob es sich da drüben um eine Demokratie handelt oder nicht, könnte man vielleicht noch kontrovers erörtern. Mutter der Demokratie ist Amerika ganz sicher nicht, da deren Wiege in Europa steht und das Modell in die USA lediglich importiert worden ist. Die Väter der US-Verfassung hatten nach meinem Dafürhalten relativ hehre Vorstellungen von Freiheit und Gerechtigkeit. Das dortige Rechtssystem ist jedoch im Laufe der Zeit völlig pervertiert worden. Ich habe kürzlich einen interessanten Artikel gelesen, wonach die Verfassung der USA einen immanenten Fehler enthält, der die spätere Veränderung erst möglich gemacht hat. Man habe größeren Wert auf das Verfahrensrecht als auf das materielle Recht gelegt, was bedeutet, daß es nicht um Gerechtigkeit geht, die einem Menschen widerfahren soll, sondern lediglich um ein gerechtes Verfahren, was auf einen wesentlichen Unterschied hinausläuft. Das ist zumindest ein interessanter Gedanke, wobei ich dennoch bezweifeln würde, daß die heutige Erscheinungsform des Rechtssystems bereits in der Verfassung angelegt ist.

Heute haben wir die Situation, daß eine Minderheit, die man früher "Old Money" nannte, das Recht hat, die Bevölkerung auszubeuten. Sie bestimmt, was Recht und Gesetz ist, und nicht die Bevölkerung. Gibt es Krieg, ist die Bevölkerung das Schlachtvieh, ansonsten aber ist sie das Vieh, das gemolken wird. Inzwischen hat sich zum "alten Geld" die New Economy gesellt, womit die Verhältnisse diversifiziert und international verflochten sind. Man kann die Zusammenhänge nicht mehr so einfach durchschauen wie zuvor. Früher wußte man, daß die Rockefellers und andere reiche Dynastien dauerhaft den Präsidenten kürten, um nur eines ihrer Privilegien zu nennen. Eine vergleichbare Situation haben wir in der jüngeren deutschen Geschichte nie erlebt.

In den 1970er Jahren wurde dann der sogenannte Antidrogenkrieg ("war on drugs") eingeführt. Wollte man einmal unterstellen, daß Gefängnisse für eine Gesellschaft notwendig sind, worüber man nach der Lektüre des kleinen Büchleins von Angela Davis [2] durchaus streiten kann, wuchs die Population der Gefängnisinsassen bis dahin in einem normal zu nennenden Rahmen. Seither ist die Gefangenenzahl in den USA jedoch explosionsartig gestiegen, was auf einen Zusammenhang mit dem "war on drugs" schließen läßt. Plötzlich wurden in den USA massenhaft Gefangene gemacht, was den Verdacht nahelegt, der Antidrogenkrieg sei entweder inszeniert worden, um eine riesige Gelddruckmaschine in Bewegung zu setzen, oder aus politischen Gründen initiiert, worauf man schnell realisierte, wieviel Geld sich damit umsetzen ließ. Das wäre jedenfalls eine Nahtstelle, die für die Herausbildung des gefängnisindustriellen Komplexes relevant sein dürfte. Es würde sich lohnen, diese Zusammenhänge zu recherchieren. Die führenden Unternehmen dieses Sektors, die heute börsennotiert sind und absolut krisensicher wirken, wurden gegründet. Ich würde den Amerikanern zutrauen, mit ihren Think Tanks vorab ein Konzept entworfen zu haben, wie man der Bevölkerung noch mehr Geld aus der Tasche ziehen kann.

SB: Könnte dem das Kalkül zugrunde liegen, wie man anwachsender prekärer Bevölkerungsschichten auf produktive Weise Herr wird?

RB: Das ist eine gute Frage. Es handelt sich um ein System, das schlußendlich kollabieren muß. Da die Gefangenenzahlen immer weiter wachsen, kostet das immer mehr Geld, bis die Bevölkerung an die Grenzen ihrer finanziellen Kapazität stößt und damit das unerhört aufwendige Gefängniswesen nicht mehr finanziert werden kann. Kommt es zu einer Rezession, bricht das System zusammen, wie es in Kalifornien der Fall war, wo mehrere zehntausend Häftlinge aus finanziellen Gründen entlassen wurden.

SB: Es handelt sich dabei also um einen Transfer von Steuergeldern in die Gefängnisindustrie?

RB: Die Bevölkerung zahlt diesen ganzen Schwachsinn. Das Schlimmste daran ist, daß diese 300 Millionen Amerikaner von wenigen Ausnahmen abgesehen auch noch aufstehen und in die Hände klatschen, weil sie das alles gut finden. Ich habe das einmal in dem Satz auf den Nenner gebracht: "Die Jungs da drüben brauchen nicht einen neuen Präsidenten, die brauchen eine neue Bevölkerung". Das klingt hart, aber die Verhältnisse sind wirklich schlimm. Dies hat verschiedene Gründe, deren wichtigster die mangelnde Bildung vieler US-Amerikaner ist. Die exorbitant hohe Rate der effektiven Analphabeten beträgt 28 Prozent. [3]

SB: Die Gefängnisindustrie generiert zwar Umsätze, ist aber Ihrer Einschätzung nach nicht wirklich produktiv?

RB: Mit den Gefangenen selber Geld zu machen, ist nicht nur hier in der Bundesrepublik schwierig, sondern auch in den USA. Das liegt einfach daran, daß die Häftlinge größtenteils keine Ausbildung haben. Sie produzieren Kleidung, Matratzen, Möbel und andere Dinge, die entweder von der Gefängnisindustrie selbst benötigt oder an das Militär geliefert werden. Wenngleich eine Abschöpfung der Arbeitskraft der Gefangenen tatsächlich stattfindet, kann man in beiden Fällen nicht von Produktivität im eigentlichen Sinn sprechen. Zudem haben viele Gefangene überhaupt keine Betätigung, weil es an Arbeitsplätzen fehlt.

Ich selbst hatte keine Arbeit und wollte auch keine haben, da ich es vorzog, mich in der Bibliothek oder im Gewächshaus zu beschäftigen, was wesentlich interessanter war. Eine ähnliche Situation haben wir auch in Deutschland, da die Gefangenen für lächerlich geringe Stundenlöhne arbeiten, aber keine bedeutende Produktivität daraus resultiert. Fuhlsbüttel mag da insofern eine Ausnahme sein, als dort eine ausgezeichnete Bäckerei betrieben wird und T-Shirts mit den bekannten Slogans hergestellt werden.

Foto: © 2012 by Schattenblick

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Im Unterschied zur ursprünglichen Sklaverei, bei der die Arbeitskraft unmittelbar ausgebeutet wurde und man Menschen zu diesem Zweck gefangennahm, nimmt man heute Menschen in Haft, um die Steuerzahler auszubeuten. Das ist der Unterschied, das ist die moderne Form dieser Sklaverei. Multipliziert man die verifizierte Zahl von 220 Dollar pro Tag, die ein Gefangener kostet, mit 2,4 Millionen Häftlingen, kommt man auf die astronomische Summe von 528 Millionen Dollar, die täglich in das Gefängnissystem fließen. Aus diesem Topf leben Polizisten, Aufseher, Richter, Staatsanwälte, Zulieferer, Transportunternehmer, Reinigungskräfte und viele weitere mehr.

SB: Worin besteht die Logik, unablässig Steuergelder in ein System zu pumpen, das, wie Sie sagen, unproduktiv ist und über kurz oder lang zusammenbricht? Müßte es nicht Überlegungen geben, wie man die Steuergelder auf sinnvollere Weise verwendet?

RB: Das ist eine europäische Überlegung. In den USA haben wir es mit einem System zu tun, in dem gut 300 Millionen Menschen einer Minderheit zur Verfügung stehen. Deren Kalkül dreht sich einzig und allein um die Frage, wie sie den Bürgern noch mehr Geld aus der Tasche ziehen kann. Ihre zentrale Frage lautet nicht, wie sie am besten für die Bevölkerung sorgt, sondern wie sie sich selbst versorgt. Daher fragt sie nicht, was das kostet, sondern vielmehr, was es ihr einbringt. Es werden riesige Umsätze generiert, für die 300 Millionen Amerikaner aufkommen müssen.

SB: Könnte man nicht insofern doch von einem produktiven Faktor sprechen, als eine ganze Reihe beteiligter Privatunternehmen davon profitieren, die wiederum zahlreiche Menschen beschäftigen?

RB: Ja, aber es wird kein gesellschaftliches Vermögen geschaffen, sondern lediglich Vermögen umverteilt. Man schaltet das für sich genommen weitgehend unproduktive Gefängnissystem zwischen die ausgebeutete Bevölkerung und die davon profitierenden Eliten, um den Geldfluß von unten nach oben zu befördern. Auf diese Weise wird die Umverteilung nicht nur in Gang gehalten, sondern unablässig vorangetrieben. Man benutzt die Gefangenen als Vehikel, um diesen Prozeß zu beschleunigen.

In den USA füllt man das große Faß mit Gefangenen immer weiter auf, während unten angesichts immer längerer Strafen nur wenig herauströpfelt. Wer entlassen wird, steht unter Bewährungsaufsicht und hat keinen Anspruch auf Sozialhilfe. Wer sie dennoch zu beanspruchen versucht, verstößt gegen die Bewährungsauflagen und kommt dafür wieder in den Knast. Man ist also gezwungen, einen Job zu bekommen, was für einen Exsträfling normalerweise so gut wie unmöglich ist. Den meisten bleibt daher nichts anderes übrig, als wieder straffällig zu werden.

SB: Hinzu kommt noch, daß Gefangenen das Wahlrecht befristet oder dauerhaft aberkannt wird. Das führt dazu, daß ein erheblicher Teil der Bevölkerung in Millionenhöhe von den Wahlen ausgeschlossen ist. Auf diese Weise schränkt man insbesondere die Teilhabe der schwarzen Bevölkerung an den demokratischen Prozessen drastisch ein.

RB: Das ist richtig. Zugleich verhält es sich so, daß sich das Gewicht der Bundesstaaten im US-Kongreß an der Zahl ihrer Einwohner bemißt. Holt sich ein Gouverneur viele Gefangene ins Land, zählt man diese zur Bevölkerung, wodurch der politische Einfluß auf Bundesebene wächst. Auch dieser Aspekt trägt zum unablässigen Ausbau des Gefängnissystems bei.

SB: Ist das einer der Gründe, warum die Gefangenen so oft die Gefängnisse wechseln? Sie selbst haben allein neun durchlaufen.

RB: Nein, das glaube ich nicht. Die ständige Verlegung der Gefangenen ist meines Erachtens in erster Linie der Absicht geschuldet, eine weitere Einnahmequelle zu erschließen. Das Transportwesen ist Teil der Gefängnisindustrie und erstreckt sich bis hin zu einer eigenen Fluggesellschaft, die ausschließlich Häftlinge und Bewachungspersonal über große Entfernungen befördert.

SB: Könnte es sich bei diesem entufernden Gefängnissystem auch um eine politische Strategie gesellschaftlicher Umverteilung handeln, die von der Bevölkerung eher akzeptiert wird als die ebenfalls vorgenommene drastische Kürzung von Sozialleistungen?

RB: Ich bin weit davon entfernt zu behaupten, daß ich das zugrundeliegende System bis in die letzten Verästelungen durchblicke. Es gibt in den USA eine Reihe von Veröffentlichungen, die sich mit solchen Themen befassen. So wird unter anderem die Frage thematisiert, wie man angesichts der wachsenden Zahl von Gefangenen, die ja immer älter und häufiger krank werden, die daraus resultierenden Kosten bewältigen kann. Was die zahlreichen ökonomischen Aspekte betrifft, war selbst meiner Verteidigerin Jeanne Baker vieles gar nicht klar. Dabei gehört sie als Präsidentin der American Civil Liberties Union (ACLU) in Florida wohl zu den fünf besten Verteidigerinnen der USA und steht politisch dem System höchst kritisch gegenüber.

Foto: © 2012 by Schattenblick

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SB: Ist es vorstellbar, daß solche Prinzipien und Verfahrensweisen auch nach Europa überschlagen? Beispielsweise betreibt mit der Correction Corporation of America (CCA) einer der führenden privaten Gefängnisbetreiber der USA auch Haftanstalten in England.

RB: Das Hauptproblem ist nicht die Privatisierung. Ob das System staatlich oder privat betrieben wird, ist unter ökonomischen Gesichtspunkten zweitrangig. Entscheidend bleibt, daß enorme Gelder für dieses Gefängnissystem generiert werden. Wenn überhaupt dürfte England in Europa das anfälligste Land für die Übernahme dieses Modells sein. Insgesamt gesehen sind die Gefangenenzahlen insbesondere in Deutschland glücklicherweise rückläufig. Inzwischen gibt es sogar Gefängnisse, die wie im Fall Fuhlsbüttels teilweise verkauft und in Wohnraum umgewandelt werden sollen. Das ist ein gutes Zeichen und bedeutet zugleich, daß das US-amerikanische System hier nicht funktioniert.

SB: Verfahren Gesetzgebung und Strafjustiz in Deutschland im Unterschied zu den USA nach dem Prinzip, geringfügige Strafen möglichst ohne Haft abzuwickeln?

RB: Grundsätzlich schon. Ich persönlich bin der Auffassung, daß man nie umhin kommen wird, bestimmtes abweichendes Verhalten zu sanktionieren, weil sich die Gesellschaft gewisse Übergriffe nicht gefallen lassen kann. Bei den Sanktionsmechanismen muß es sich jedoch nicht zwangsläufig um Gefängnisstrafen handeln. Man könnte beispielsweise den Gesichtspunkt der Wiedergutmachung stärker in den Vordergrund rücken oder Auflagen zur Sozialarbeit, wie es sie bislang nur ansatzweise im Jugendrecht gibt, weiter ausbauen. In dieser Hinsicht gibt es eine beträchtliche Bandbreite an Möglichkeiten, die zu diskutieren wären.

SB: Könnte das in den USA praktizierte Verfahren, sogenannte illegale Einwanderer als "criminal aliens" in Sondergefängnissen einzuschließen, im Schnellverfahren abzuurteilen und massenhaft abzuschieben, als Modell für die Abschottung der "Festung Europa" gegen Armutsflüchtlinge Schule machen? Viele Migranten werden in europäischen Ländern bereits in Lagern festgehalten, so daß es nur noch ein kleiner Schritt zur Einführung von Arbeitslagern sein dürfte.

RB: Wenn jemand an der kanadischen Grenze ohne Papiere aufgegriffen wird, schickt man ihn kurzerhand und ohne weiteren Aufwand zurück. Das haben die USA früher an der Grenze zu Mexiko genauso praktiziert. Inzwischen hat sich das jedoch grundlegend verändert. Das Perverse am Umgang mit mexikanischen Migranten ist nicht zuletzt, daß viele von ihnen im Gefängnis endlich regelmäßig etwas zu essen und ein Dach über dem Kopf haben. Viele versuchen sogar, ihre Dienste Mitgefangenen anzubieten und auf diese Weise etwas Geld zu verdienen, das sie nach Hause schicken können, so unglaublich das klingen mag. Ein solches System kann in keiner Weise Vorbild für uns sein, weshalb man davon die Finger lassen sollte.

SB: Sie hatten in Ihrem Buch den Versuch des damaligen Bundesinnenministers Wolfgang Schäuble erwähnt, die Verschwörung ins deutsche Strafrecht einzuführen. Er ist damit gescheitert, doch gibt es ja noch die Paragraphen 129a und b, in denen ein vergleichbares Prinzip zum Tragen kommt.

RB: Die Paragraphen 129a und b sind eine spezielle Ausformung für sogenannte Terroristen auf Grundlage des Paragraphen 129, der sich auf die kriminelle Vereinigung bezieht. Damit wird der Rechtsgrundsatz aufgebrochen, daß nur jemand bestraft werden kann, dem eine individuelle Schuld anzulasten ist. Mit Hilfe des Konstrukts der kriminellen Vereinigung enthebt man sich der individuellen Schuldzuweisung und stellt die bloße Zugehörigkeit zu einem bestimmten Personenkreis unter Strafe. Das ist grob systemwidrig, was unser Recht angeht, hat sich aber inzwischen leider gesellschaftlich etabliert.

Foto: © 2012 by Schattenblick

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Bei der Geldwäsche verhält es sich ähnlich. Damit tut sich die Richterschaft schwer, und die wenigen Fälle, in denen ich Verteidiger war, endeten mit Freisprüchen. Es beginnt damit, daß jemand mit einer großen Summe Bargeld angetroffen wird, bei einer Durchsuchung dicke Bündel mit Scheinen gefunden werden oder jemand aus dem privaten Umfeld Anzeige wegen eines mutmaßlichen Steuerdelikts erstattet. Nun muß der Besitzer nachweisen, daß es sich um legales Geld handelt. Daß dieser Nachweis der eigenen Unschuld gegen das Grundgesetz verstößt, ist der Pferdefuß aller Geldwäscheverfahren. Mit dieser Beweislastumkehr wird die verfassungsrechtlich garantierte Unschuldsvermutung ausgehebelt.

Beim Straftatbestand der Verschwörung im US-Recht wird dasselbe Prinzip in extensivster Form angewendet. Nach deutschem Recht beginnt die Straftat dort, wo sie ausgeführt wird. Stellt sich jemand an die Ecke, um einem Vorüberkommenden mit dem Hammer einen Schlag auf den Kopf zu verpassen, damit er ihn ausrauben kann, macht er sich strafbar. Was sich im Vorfeld an Überlegungen, Planungen, Absprachen und Vorbereitungen bis hin zum Kauf des Hammers abspielt, ist nicht strafbar. Hingegen fängt die Verschwörung und damit die Strafbarkeit nach US-amerikanischem Recht ganz vorn bei der ersten gemeinsamen Überlegung an. Mindestens zwei Personen sind natürlich dafür erforderlich, da andernfalls ein Nachweis unmöglich ist - solange man noch nicht gedankenlesen kann. Sollte das eines Tages möglich sein, wird man Leute ins Gefängnis stecken, sobald sie auch nur anfangen, über so etwas nachzudenken.

Ich selbst bin in den USA nie wegen einer versuchten Straftat angeklagt worden. Das zu begreifen, fiel mir anfangs schwer, da ich mir den Kopf zermarterte, was wir denn versucht haben sollen. Wir hatten uns darüber unterhalten, daß die Gegenseite das Geld bezahlen sollte, wozu sie in einem deutschen Zivilverfahren verurteilt worden war. Dem Staatsanwalt ging es nur darum, der Jury klarzumachen, daß wir auf dieses Geld keinen Anspruch hätten. Der Rest war fast ein Selbstgänger.

SB: Hinzu kam in Ihrem Fall noch der Vorwurf einer Einreise zum Zweck der Erpressung, der gewissermaßen einer Mehrfachbestrafung Tür und Tor öffnet.

RB: Das sind Straftatbestände, die es bei uns nicht gibt. Zu dem Vorwurf der Erpressung gesellt sich die Verschwörung zur Erpressung sowie die Einreise zum Zweck, die beiden anderen Straftaten zu begehen. Diese Kette steht und fällt mit dem Kernvorwurf der Erpressung: Fiele diese weg, wären auch die anderen beiden gegenstandslos.

SB: Es gibt in den USA verschiedene Bewegungen, die Kritik am Gefängnissystem üben. Haben Sie dort oder auch später in Deutschland erlebt, daß auf die eine oder andere Weise Widerstand dagegen geleistet wird, wie Menschen im Gefängnis behandelt werden?

RB: Das einzige, was ich erlebt habe, war eine Unterschriftenaktion, verbunden mit der Aufforderung, Petitionen einzureichen, daß man die vorzeitige Entlassung auf Bewährung bei Bundes-Gefangenen wieder einführt. Während man in den einzelnen Bundesstaaten nach Verbüßung einer bestimmten Haftstrafe auf diese Weise vorzeitig freikommen kann, gibt es diese Möglichkeit für Bundes-Gefangene nicht. Sie bekommen im günstigsten Fall 15 Prozent sogenannte "good time", sofern während der Haftzeit nichts weiter vorgefallen ist. Früher war das anders, doch nach derzeitigem Stand ist über die 15 Prozent Rabatt hinaus auf Bundesebene keine frühere Entlassung auf Bewährung möglich.

Foto: © 2012 by Schattenblick

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SB: Sie haben in Ihrem Buch auf menschlich sehr berührende Weise geschildert, welche Unterstützung Sie von Ihrer Familie und Ihren Freunden erfahren haben. Auf eine solche Hilfe können die wenigsten Häftlinge zurückgreifen, da mit dem Gefängnisaufenthalt zumeist eine radikale Trennung vom früheren sozialen Umfeld verbunden ist.

RB: In den USA gibt es gezielte Bestrebungen, insbesondere die Black Communities zu zerschlagen. Seinerzeit hat die CIA im großen Stil von Noriega [4] Kokain gekauft und in den schwarzen Gemeinden unter die Leute gebracht, um deren soziale Zusammenhänge zu zerstören und bei dieser Gelegenheit auch noch ein paar Gefangene zu machen. Einer der wenigen handfesten Gründe für die häufige Verlegung von Gefangenen ist die Zerschlagung bestehender Gangs, die man auseinanderzureißen versucht. Hinzu kommt die Praxis, die Häftlinge möglichst weit von ihren Familien zu entfernen, um bestehende Sozialstrukturen zu brechen. Das Wort Resozialisierung gibt es im US-Amerikanischen gar nicht, und das hat auch keiner im Sinn. Das Ziel des dortigen Strafvollzugs ist nicht die Resozialisierung, sondern die Gefangennahme, die Zerstörung der Existenz und die Aneignung aller materiellen Werte des Betroffenen.

Das hat man bei mir zum Glück nicht geschafft, aber bei anderen schon. Wir vertreten inzwischen mit etwa einem Dutzend Mandaten Deutsche, die in den USA im Gefängnis sitzen. Die Leute googlen verzweifelt herum, welcher Anwalt sich auf diesem Gebiet auskennt, und bitten uns um Hilfe, um ihre Angehörigen da herauszuholen.

SB: Ich würde Ihnen gern eine sehr persönliche Frage stellen. Ihre Verteidigerin Jeanne Baker hat gesagt, man müßte eigentlich fünf Jahre Anwalt sein, bevor man Staatsanwalt werden kann, damit man auch die andere Seite kennenlernt. Sie haben dreißig Jahre lang Menschen in Strafverfahren verteidigt und nun während zweier Jahre aus eigener Betroffenheit erfahren, was es bedeutet, im Gefängnis zu sitzen. Hat das Ihre anwaltliche Tätigkeit verändert?

RB: Nach einem so direkten Zusammenhang gefragt, müßte ich eigentlich eher nein sagen, aber diese Antwort wäre trotzdem falsch. Es hat sich einiges geändert, doch sind das Dinge gewesen, die ich bereits vor meiner Inhaftierung auf den Weg gebracht hatte. Ich hatte jetzt nur endlich Zeit, sie auch umzusetzen, beispielsweise meine anwaltliche Tätigkeit zu reduzieren und mich dafür stärker anderen Dingen zu widmen, die mich interessieren. In beruflicher Hinsicht ist das vor allem Projektentwicklung. Wenngleich ich wahrscheinlich nie aufhören werde, in meiner Kanzlei anwaltlich zu arbeiten, will ich diese Tätigkeit doch zurückschrauben.

SB: Meine Frage zielte noch auf etwas anderes ab. Hat sich in Folge Ihrer Erfahrungen in den USA Ihr Blickwinkel auf denjenigen verändert, der in einem Strafverfahren von Ihnen vertreten wird oder im Gefängnis sitzt und Ihre Unterstützung benötigt?

RB: Vielleicht insofern, als ich ein wenig sensibler geworden bin, was die Kommunikation mit Gefangenen angeht. Wenn ich in einer Besprechung sitze und es kommt ein Anruf aus der JVA Fuhlsbüttel rein, dann unterbreche ich heute die Besprechung. Daß die Häftlinge nur sehr eingeschränkt telefonieren können, weiß man erst wirklich, wenn man es selbst erlebt hat. Ansonsten hat sich meine Berufsauffassung dadurch nicht geändert. Auch wenn ich etwa sechs Wochen in Hamburger Gefängnissen gesessen habe, hat das allenfalls zu dem Einblick geführt, daß das Untersuchungsgefängnis hier grauenhaft ist. Fuhlsbüttel war einigermaßen in Ordnung, wobei ich nicht weiß, ob sich das inzwischen geändert hat. Die CDU-Regierung hatte damals in Hamburg durchgesetzt, daß die Einschlußzeiten verlängert werden. Das haben weder die Gefangenen noch die Schließer verstanden. Eine solche Maßnahme ist völlig unsinnig, weil dadurch keine einzige Stunde Manpower gespart wird. Man hat es schlichtweg mit Repression zu tun, die zu nichts gut ist und nur die Spannungen erhöht.

SB: Nachdem Sie von der Verlagerung Ihrer beruflichen Schwerpunkte gesprochen haben, möchte ich Sie noch gerne eines fragen: Es gibt Ihren Bericht ja auch als Hörbuch, das neben den gelesenen Texten einige der Musikstücke enthält, die Sie im Gefängnis selbst geschrieben haben. Kommt denn bald eine CD von Ihnen heraus oder sogar ein Film über Ihre Erfahrungen in den USA, die ja durchaus Stoff dafür bieten?

RB: Eine CD würde ich schon gerne machen. Das Hörbuch enthält drei Stücke, die wir aufgenommen haben, eines davon in zwei unterschiedlichen Versionen. Ich habe sie geschrieben, und der ausführende Musiker ist Dick Bird, ein Freund von mir, der singt und die Gitarre spielt. Während meiner Haftzeit sind 28 oder 29 Stücke entstanden, so daß reichlich Material für eine CD vorhanden wäre. Darunter finden sich garantiert zwölf, die für eine CD geeignet sein dürften, und es sind einige dabei, die nach meinem Dafürhalten richtig gut gelungen sind.

SB: Und was ist mit dem Film?

RB: Danach bin ich bisher so direkt noch nicht gefragt worden. In einer Rezension habe ich schon mal die Frage gelesen, wo denn der Film bleibt. Ich habe keine Zeit, das voranzutreiben, doch wenn jemand Interesse haben sollte, könnte ich mir vorstellen, daran mitzuwirken. Daß das Buch eine gute Vorlage für eine Verfilmung bietet, höre ich tatsächlich nicht zum ersten Mal.

SB: Herr Berkau, wir bedanken uns für dieses ausführliche Gespräch.

Reinhard Berkau mit SB-Redakteur - Foto: © 2012 by Schattenblick

Reinhard Berkau mit SB-Redakteur
Foto: © 2012 by Schattenblick


Anmerkungen:

[1] Reinhard Berkau und Irene Stratenwerth: Ich gegen Amerika. Ein deutscher Anwalt in den Fängen der US-Justiz, Hamburg 2010

Siehe dazu die Rezension im Schattenblick - INFOPOOL - BUCH - SACHBUCH

http://www.schattenblick.de/infopool/buch/sachbuch/busar584.html

[2] Angela Davis: Eine Gesellschaft ohne Gefängnisse? Der gefängnisindustrielle Komplex der USA, Berlin 2004

[3] Richard Sennett, "Amerika im Niedergang", Interview mit der Süddeutschen Zeitung vom 13.09.2008

[4] Manuel Noriega war von 1983 bis 1989 de facto der Machthaber in Panama und arbeitete lange eng mit der CIA zusammen. Am 20. Dezember 1989 begann eine US-Invasion, in deren Verlauf man ihn verhaftete. Noriega wurde 1992 in den USA zu einer Haftstrafe verurteilt, 2010 an Frankreich überstellt und dort erneut verurteilt. Im Dezember 2011 wurde er nach Panama überstellt, um sich dort vor Gericht zu verantworten.

3. Juli 2012