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INTERVIEW/054: Wendland frei trotz alledem - Schlaft gut und träumt nicht ...    Herrmann Cropp im Gespräch (SB)


Zukunft in Wort und Schrift konkret gemacht

Interview in Gedelitz im Wendland am 23. August 2014



Herrmann Cropp gibt im Packpapier-Verlag Texte und Schriften aus dem weiten Feld politischer, sozialökologischer und alternativer Literatur heraus. Seit den 70er Jahren wurden in Osnabrück rund 3000 Bücher verlegt, die sich an eine Leserschaft wenden, die unter anderem auf Festivals mit politischer Stoßrichtung und Zusammenkünften sozialer Bewegungen anzutreffen ist. So schlug der Kulturaktivist seine Zelte auch auf dem Free Flow Festival in Gedelitz auf, wo er dem Schattenblick einige Fragen beantwortete.

Am Stand - Foto: © 2014 by Schattenblick

Herrmann Cropp
Foto: © 2014 by Schattenblick

Schattenblick: Herrmann, du bist seit über 40 Jahren mit der Herausgabe politischer Literatur beschäftigt. Warst du nicht versucht, zugunsten des geschäftlichen Erfolgs kommerziell aussichtsreichere Titel in das Verlagsprogramm aufzunehmen?

HC: Nein, auf keinen Fall, das mache ich nicht. Außerdem sind die Kollegen, mit denen ich angefangen habe, bald schon pleite gegangen, wenn sie auf die kommerzielle Schiene gesetzt haben. Ein paar Jahre geht das gut, aber dann kommt der Absturz, weil ein rein kommerzieller Vertrieb mit Büchern nur funktioniert, wenn man schon groß ist.

SB: Läßt sich politische Literatur heute überhaupt noch verkaufen?

HC: Ja sicher, bei den Jüngeren mehr noch als bei den Älteren. Ältere denken oft, daß sie schon alles kennen, während Jüngere neugieriger und noch bereit sind, sich etwas erklären zu lassen.

SB: Du hast hier auf dem Festival das Thema Utopien aufgegriffen.

HC: Ja, mit einer Ausstellung.

SB: Hast du sie auch schon anderswo gezeigt?

HC: Ja, ich habe in den letzten Jahren neben meinem Bücherzelt immer ein Zelt für eine Ausstellung aufgebaut. In diesem Jahr ist das Thema Utopien an der Reihe.

SB: Wie bist du auf dieses spezielle Thema gekommen?

HC: In den 90er Jahren hatte ich mit Freunden in Münster das Projekt Utopie gemacht und bundesweit dazu eingeladen. Auslöser dafür war vor allem die Wende 1989, weil damals viele Leute gedacht haben, jetzt hat der Kapitalismus gesiegt. Der amerikanische Soziologe Francis Fukuyama sprach sogar vom Ende der Geschichte. Deswegen haben wir auf das Thema Utopie gesetzt. Damals sind recht viele Leute aus ganz Deutschland nach Münster gekommen. Das Projekt lief über ein halbes Jahr mit Wochenendworkshops und Zukunftswerkstätten. Ich hatte schon länger im Kopf, das noch einmal zu initiieren. Mit Leuten, die im Klimacamp tätig sind oder im Hambacher Forst gelebt haben, habe ich dann einen Plan ausgearbeitet und mich Anfang dieses Jahres kurz dazu entschlossen, eine Utopieausstellung zu machen und das ganze Spektrum der Theorien und praktischen Entwürfe dazu vorzustellen.

SB: Würdest du die Waldbesetzung im Hambacher Forst in deiner Vorstellung mit einer konkreten Utopie verbinden?

HC: Der Utopiebegriff hat sich seit seiner Entstehung ja geändert. Deine Frage nach der konkreten Utopie zielt genau darauf, daß wir beginnen, Utopien als machbar und realisierbar in der Gegenwart aufzufassen. Ich denke, seit Ernst Bloch geht der Utopiebegriff in diese Richtung und nicht unwesentlich durch die gesamte Utopiediskussion in Folge der Proteste von 1968. Darüber sind viele interessante Projekte entstanden und Bücher verfaßt worden, die in einer sozialen Veränderung einen Vorgriff auf ein anderes Leben zu fassen versuchen. Es gab unter anderem soziale Experimente wie Christiania, und auch der Begriff Freies Wendland stellt im Grunde einen Denkversuch dar, die Utopie abzukoppeln von den scheinbaren Zwängen der Gegenwart, die alles Utopische als unrealistisch abtut. Wie sagte noch Helmut Schmidt? Wer Visonen hat, soll zum Augenarzt gehen. Dieses ganze Realismusgeschwätz glaubt heute keiner mehr. Was wir Visionen nennen, ist nur eine sprachliche Übereinkunft. Ich denke, das politische Denken hat sich so weit geändert, daß wir inzwischen bereit sind, auch Unmögliches auszuprobieren, anzusteuern und zu realisieren. So gesehen habe ich schon in den 90er Jahren behauptet, daß viele schöne Festivals Wochenend-Utopien sind und das entsprechend auch publiziert. Dieser Gedanke kommt auch hier in der Ausstellung vor.

Tafel mit Aufklebern - Foto: © 2014 by Schattenblick

Vielfalt der Bewegungen
Foto: © 2014 by Schattenblick

SB: Inwieweit hältst du es für möglich, daß eine widerständige Lebenspraxis wie zum Beispiel im Hambacher Forst etwas von der Verwirklichung einer Utopie oder einem Gegenentwurf zu dieser Gesellschaft beinhaltet, auch wenn sie mitten in dieser Gesellschaft stattfindet?

HC: Das kommt ganz auf die Leute an, die das machen. Ich glaube nicht, daß die Leute im Hambacher Forst das Gefühl haben, für eine ferne Zukunft zu arbeiten, sondern daß sie ihren Protest auch leben und diese Lebenspraxis als etwas Politisches auffassen. Ich denke, das ist schon ein neuer Weg. Der Slogan "ihr müßt erst die Welt verändern" kam vor allem durch die K-Gruppen in den 70er Jahren auf. Damit haben ein paar politische Dogmatiker die Utopie immer gern auf den St. Nimmerleinstag verschoben. Aber den Hippies war schon klar, daß sie die Utopie schon jetzt leben wollen. Aus Amerika kamen denn auch Sprüche wie "be here now". Dieses Denken hat sich durchgesetzt. Damals war es noch frisch, und ihm wurde von Dogmatikern widersprochen. Ich glaube, jetzt findet sich kaum noch jemand, der Visionen für illusionär hält. Wir haben es ständig mit Illusionen zu tun. Wer lebt denn nicht in Illusionen? Die Banker vielleicht? Garantiert nicht!

SB: Die Hippies standen in ihrer Frühzeit durchaus für soziale Experimente, für Gemeinschaftseigentum, alternatives Leben auf dem Land, Leben in der Natur. Es war im Grunde genommen eine Ära, in der viele Ideen aufgekeimt sind, die heute nach 30, 40 Jahren plötzlich Breitenwirkung finden.

HC: Dabei waren das noch nicht einmal die ersten Ansätze. Man muß in Deutschland schon nach Ascona, Worpswede und einige andere Künstlerkolonien zurückgehen. Vor allem in der Boheme in Berlin, München, in Paris sowieso, hat man versucht, sein Leben zu einem Kunstwerk zu machen. Das bedeutet eigentlich, mit anderen Lebensformen zu experimentieren und sich eben nicht den gesellschaftlichen Zwängen zu beugen, die auch nur Konstrukte sind.

SB: Kennst du auch Formen kollektiven Lebens außerhalb von Deutschland, wo Ansätze für moderne Utopien erprobt wurden und die den Menschen von heute als Beispiel dienen könnten?

HC: Die Kommunebewegung weltweit versucht ja dergleichen. Es gibt eine interessante Zeitschrift aus Israel, die von Kibbuz-Leuten herausgegeben wird, in der von allen möglichen Kommunen berichtet wird. Das ist eigentlich logisch, denn die Kibbuz-Bewegung ist schließlich aus der Lebensreformbewegung hervorgegangen.

SB: Nur scheint die Kibbuz-Bewegung den sozialistischen Anspruch, für den sie einst stand, weitgehend zurückgelassen zu haben.

HC: Sie kämpfen nach wie vor darum und haben den Anschluß an die Kommune-Diskussion keineswegs verloren.

SB: Du hast die Kommunebewegung der 70er Jahre in Deutschland miterlebt. Wie würdest du das im Vergleich zu dem, was heute hier auf dem Gebiet stattfindet, beurteilen?

HC: Naja, seit den 90er Jahren hat sich das so ein bißchen in die esoterische und politische Kommuneszene geteilt. Zur politischen gehören zum Beispiel Burg Lutter, Niederkaufungen, Waltershausen, Gruppen in Kassel und Bremen, während die Ökodörfer und etliche Gemeinschaften, die ich auch noch nicht besucht habe, zu den esoterischen gezählt werden können.

SB: Würdest du eher esoterischen Gemeinschaften zubilligen, den Anspruch auf soziale Utopie verwirklichen zu können?

HC: Ja, das muß ich; ob ich es gerne tue, weiß ich nicht. Ich bin da schon einigermaßen offen. Wenn sie das so machen wollen und sich dem Diskurs um Kommune-Themen nicht unbedingt verschließen, geht das in Ordnung.

Schautafel zu historischen Kommunen und zur Hippiebewegung - Foto: © 2014 by Schattenblick

Wandzeitung verwehter Aufbrüche
Foto: © 2014 by Schattenblick

SB: Nach der Radikalisierung der 60er Jahre fand in den 70er Jahren so etwas wie ein Streben nach neuer Innerlichkeit statt, die zum Teil auch in der Kommune- oder spirituellen Bewegung aufging. Viele Leute wandten sich vom politischen Kampf ab in der Hoffnung, die neue Gesellschaft in sich selbst oder auf einer metaphysischen Ebene zu finden. Wie hast du diesen Wandel damals erlebt?

HC: Ja gut, damals sind ständig neue Strömungen entstanden. Wenn Hippies in den 70er Jahren, die auf der Kunst-, Kultur- und Musikrichtung lagen, von Innerlichkeit gesprochen haben, dann hieß das oft nichts anderes, als ausgeflippt zu sein oder den Egoismus auszuleben und hatte keineswegs mit Spiritualität zu tun. Natürlich haben Drogen auch immer eine Rolle gespielt. Ich denke, auch die Biographien einzelner Leute, ob sie nun mehr hierhin oder dahin tendieren, zeigen, daß sich ihre Einstellung immer wieder gewandelt hat. Mal gehen sie in die Esoterik-Szene, mal kommen sie wieder zurück. So eindeutig läßt sich das nicht trennen, inhaltlich vielleicht schon, aber es gibt auch viele Überschneidungen. Wie esoterisch sind Marxisten, wenn sie die Texte von Marx mit einem Glaubensanspruch lesen?

SB: Hat der Begriff Republik Freies Wendland deiner Ansicht nach noch Relevanz im Sinne einer konkreten Utopie für die heutige Zeit?

HC: Ich denke schon, aber wenn eine Bewegung in die Jahre kommt, dann kann es ungeachtet der Spontanität, die noch weiterhin drin ist, sein, daß Jahre von Erfahrung und Leben darauf lasten. Aber prinzipiell bin ich schon der Meinung, daß das Wendland auch weiterhin einen utopischen Gehalt hat.

Ich bin von den ersten Blockaden an immer hier gewesen, habe Büchertische gemacht und an Veranstaltungen teilgenommen. Ich habe das wie die vielen Leute, die von überallher angereist sind, immer als Gast erlebt und mit Interesse verfolgt, was hier läuft. Meine Einschätzung ist, daß viele Leute aus Berlin oder anderswoher hierher gezogen und hängengeblieben sind und daß sich die Bevölkerung mit den neu Hinzugezogenen arrangiert hat. Ich finde das in Ordnung. Es kommen auch viele Leute vom Wendland an den Rhein zum Klimacamp. Irgendwann fiel das komische Wort vom Reisechaoten, aber was soll's. Wir sind doch flexibel.

SB: Das Festival hier ist eine Mischung aus Anti-AKW-Widerstand und Musik. Gibt es noch andere Veranstaltungen in Deutschland, die Kultur und Politik zusammenbringen?

HC: Das Burg Herzberg Festival zum Beispiel ist ein recht großes Hippie-Festival. In den 90er Jahren hatten sie rechts und links der Bühne immer große Transparente gegen den Krieg und für den Frieden aufgestellt, darunter auch dieses Bild von Käthe Kollwitz "Nie wieder Krieg". Es gab auch ein Transparent explizit gegen Nazis. Heutzutage steht das nicht mehr ganz so im Vordergrund, aber Nazis sind nach wie vor unerwünscht.

SB: Ist der politische Anspruch auf Burg Herzberg eher rückläufig?

HC: Nein, das glaube ich nicht. In Burg Herzberg ist man sehr froh, wenn ich komme. Es werden auch andere Gruppen eingeladen wie zum Beispiel Greenpeace. Ich bin da eher Underground, ohne Etikett.

SB: Die Leute sind also nicht nur auf Konsum aus?

HC: Nein, das ist beim Herzberg Festival gerade nicht der Fall. Es kommen viele Musiker hin, die sich auch irgendwo auf den Weg setzen und klimpern. Wenn man das so wie ich viele Jahre macht, sieht man auch, wie sich die Festivals ändern, aber trotzdem versuchen, immer gut zu bleiben. Die meisten Leute organisieren das ohnehin ohne Entgelt. Auf große Kommerz-Festivals habe ich keine Lust.

Herrmann Cropp an seinem Stand - Foto: © 2014 by Schattenblick

Zeugnisse aus Jahrzehnten alternativer Lebensentwürfe
Foto: © 2014 by Schattenblick

SB: Die Situation in der Welt ist aktuell sehr angespannt. Manche sprechen von Kriegsgefahr. Glaubst du, daß die bundesdeutsche Bevölkerung nochmals eine breite Antikriegsbewegung bilden wird, oder ist die Zeit der großen Friedensmärsche vorbei?

HC: Erst einmal war ich sehr erfreut über die allgemeine Stimmung in Deutschland, sich nicht in den Krieg in der Ukraine einzumischen. Ob das rein pazifistische Gründe hatte, weiß ich nicht. Kritischer sehe ich die Rolle Deutschlands in Europa. Wenn wir engere Verbindungen zu unseren Nachbarn in Europa aufbauen und uns nicht über sie stellen, besteht die Möglichkeit, daß kein neuer Militarismus oder Nationalismus entsteht, und wenn doch, daß er sich kontrollieren und zurückdrängen läßt. Dazu ist aber notwendig, daß sich die Länder in Europa nicht voneinander abkapseln. Dies betrifft vor allem Deutschland, sonst bekommen die Nationalisten wieder das Sagen und können ihren Chauvinismus ausleben. Weil Deutschland aber unter Beobachtung der Nachbarn steht, wird man zum Beispiel beim NSU-Prozeß nicht so leicht mauscheln können. Man bekommt schon unangenehme Gefühle, wer da alles seine Finger im Spiel gehabt haben soll. In dem Sinne setze ich meine Hoffnung auf Frankreich und Holland und unsere östlichen Nachbarn.

SB: Im Schlagschatten der Ukraine-Krise wird zur Zeit das antirussische Ressentiment gepflegt, obgleich die Gesellschaften Europas mit Blick auf die ökonomische Instabilität vor ganz anderen Herausforderungen stehen. Da ist die Frage, wer wen im Zaum hält, doch sehr virulent.

HC: Realistisch ist der Umgang mit Rußland sicherlich nicht, so daß man sich in diesem Zusammenhang zweifelsohne fragen muß, was jetzt werden soll. Der Konflikt in der Ukraine hat sicherlich auch ökonomische Gründe. Die russische Bevölkerung selbst ist zu verarmt, um sich mit der Ukraine noch eine weitere Bürde auflasten zu lassen, aber auch hier im Westen kommt der neoliberale Kurs, der die Länder im Osten viele Jahre lang ausbluten ließ, immer mehr in Kritik. Denn ganz offensichtlich hat auch der Westen nicht das nötige Geld, um der ukrainischen Wirtschaft finanziell unter die Arme greifen zu können. Es wird immer deutlicher, daß dieser Kurs nicht fortgesetzt werden kann. Daher müssen die Menschen in der Ukraine, schon um sich selbst eine Lebensperspektive zu geben, selber entscheiden, wie weit sie sich nach Rußland orientieren wollen oder nicht. Ich halte die ideologischen Grabenkämpfe für ziemliches Geschwätz. Es geht doch darum, daß man durchkommt. Das gilt auch für die Bevölkerung in Deutschland. Wenn hier weiterhin so viele Sozialfälle produziert werden, wird man die Menschen nicht gerade für einen Krieg gegen Rußland begeistern können.

SB: Herrmann, vielen Dank für das Gespräch.


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16. September 2014