Schattenblick → INFOPOOL → BÜRGER/GESELLSCHAFT → REPORT


INTERVIEW/121: Flüchtlingssolidarisch - Wie eine offene Wunde ...    Dietlind Jochims im Gespräch (SB)


Privates und berufliches Engagement im Flüchtlingsschutz

Interview am 28. Februar 2017 in Hamburg-Altona


Dietlind Jochims war Notfallseelsorgerin und Gemeindepastorin in den Hamburger Stadtteilen St. Pauli und Neuallermöhe. Daran schloß sich eine siebenjährige Tätigkeit als Gemeindepastorin in Hamburg-Billstedt an. Seit April 2014 ist sie Beauftragte für Menschenrechte, Flucht und Migration der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland und seit September 2014 Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche, eines Netzwerks aller Kirchengemeinden, die bereit sind, Flüchtlinge im Kirchenasyl vor der Abschiebung zu bewahren.

Im Rahmen der Veranstaltungsreihe "Ottenser Gespräche zu Flucht und Migration" fand am 28. Februar in der Fachschule Sozialpädagogik FSP2 die Podiumsdiskussion "Hamburg hat Platz" [1] statt, um der Forderung, Hamburg solle umgehend eintausend Flüchtlinge aus Griechenland aufnehmen, weitere Verbreitung und Unterstützung zu verschaffen. Dietlind Jochims schilderte dabei das Engagement der Kirchen und Kirchengemeinden, den Schutz einzelner Geflüchteter im Kirchenasyl, aber auch die Auseinandersetzungen, die innerhalb der Kirchen um die Flüchtlingsfrage geführt werden. Im Anschluß daran beantwortete sie dem Schattenblick einige Fragen zu ihrer Tätigkeit als Flüchtlingsbeauftragte, ihrem privaten Engagement und der Zusammenarbeit in der breit gefächerten Flüchtlingsbewegung.


Im Gespräch - Foto: © 2017 by Schattenblick

Dietlind Jochims
Foto: © 2017 by Schattenblick


Schattenblick (SB): Frau Jochims, Sie sind seit April 2014 Flüchtlingsbeauftragte der Nordkirche. Wie hat sich die deutsche Flüchtlingspolitik seither verändert?

Dietlind Jochims (DJ): Als ich 2014 angefangen habe, hatte ich nur eine unbestimmte Vorstellung davon, was mich erwartet. Ich bin dann reingekommen in die sich sehr schnell aufbauende und strukturierende Arbeit mit und für Geflüchtete. Das hat mich begeistert, und es ist ja klar, daß die große sogenannte Willkommensbewegung von 2015 sehr dynamisch war und trotz der kurz darauf folgenden Verschärfung der Asylgesetzgebung noch immer ist.

SB: Sie sind Adoptivmutter eines jungen Afghanen, der als minderjähriger Flüchtling nach Deutschland gekommen ist. Wie ist es dazu gekommen, daß Sie diese Entscheidung getroffen haben?

DJ: Das war eine längere Geschichte. Er stand buchstäblich vor meiner Tür, dann hatten wir eine lange Geschichte miteinander, bis er überhaupt in Hamburg als anerkannter Minderjähriger offiziell in Erscheinung getreten ist. Ich habe dann die Vormundschaft übernommen, irgendwann war ich seine Pflegemutter und dann war die Adoption ein weiterer Schritt dessen, daß er inzwischen sowieso zu meiner übrigen Familie dazugehört hat.

SB: Könnten Sie anhand Ihrer persönlichen Erfahrung schildern, was Traumatisierung in diesem Zusammenhang konkret bedeutet?

DJ: Ohne jetzt Einzelheiten über eine bestimmte Person zu erzählen, kann ich doch sagen, daß ich sehr lange unterschätzt habe, wie komplex dieser Prozeß ist, wenn der Weg hierher kein freiwilliger war und die Ankunft von so vielen Dingen belastet wird, wie das insbesondere bei unbegleiteten Minderjährigen der Fall ist, und wie umfassend die Anforderungen sind, sich ganz neu zurechtfinden zu müssen. Stellen Sie sich einen afghanischen Jugendlichen vor, bei dem relativ klar ist, daß er wenige Jahre später in Afghanistan - sofern noch am Leben - mit einer zwei Jahre jüngeren Frau verheiratet worden wäre. Jetzt geht er hier zur Schule und erlebt das gesamte Interagieren von Jungs und Mädchen, das Flirten, das Kontaktanknüpfen, mit einem Mädchen zum Stadtpark zu fahren und dort halb bekleidet nebeneinander zu sitzen, das ist ein ganz kleines Beispiel dafür, wie komplex man sich zurechtfinden muß und all das in der Situation, daß man noch nicht einmal weiß, ob man hier bleiben kann, welche Perspektive man hat, wie sehr man sich auf dieses Land einlassen kann und ob man noch die Kraft dazu hat. Ich habe anfangs völlig unterschätzt, wie vielschichtig das ist.

SB: Das deutsche Asylrecht hat historische Wurzeln in einer Zeit, in der Kriegs- und Fluchterfahrungen noch allgegenwärtig waren. Diese historische Verantwortung reicht aber offensichtlich nicht aus, um den Menschen, die heute Schutz brauchen, zu helfen. Wie würden Sie das erklären?

DJ: Das Asylrecht, das nach dem Zweiten Weltkrieg in die Gesetzgebung eingeflossen ist, ist längst nicht mehr das, was die Vielfalt der Fluchtgründe und der Notwendigkeit, Schutz zu gewähren, abbildet. Nicht umsonst gab es danach die Genfer Flüchtlingskonvention und eine weitere Ausweitung von Fluchtgründen auf die Gegebenheiten eines 21. Jahrhunderts. Wir müssen vor allem weg von dem engen Begriff der politischen Verfolgung und des politischen Asyls hin zu einer Schutzgewährung, die die wirklichen, existentiellen, ganz unterschiedlichen Nöte ernst nimmt, und werden damit trotzdem längst nicht alle Menschen aufnehmen können. Deswegen ist die auch nicht so neue Forderung nach einem vernünftigen Einwanderungs- und Zuwanderungsgesetz das zweite Standbein, ohne das es nicht geht.

SB: Oft wird eingewendet, wir können doch nicht alle Flüchtlinge aufnehmen. Wie würden Sie in einem derartigen Fall argumentieren?

DJ: Stimmt. Wir können nicht alle aufnehmen, und es kommen auch nicht alle hierher. Es ist zu unterscheiden zwischen Flüchtlingsschutz und Zuwanderungsrecht. Natürlich kann ein Staat, wenn es um das Einwanderungs- oder Zuwanderungsrecht geht, Prioritäten setzen und sagen, diese Menschen brauchen wir besonders, die wollen wir, und andere eher nicht. Was beim Zuwanderungsrecht durchaus geht, gilt hingegen beim Flüchtlingsschutz nicht, bei dem die Fluchtgründe bewertet werden müssen.

SB: Sie haben vorhin hervorgehoben, daß Afghanistan kein sicheres Land sei. Ist das innerhalb der evangelischen Kirche oder auch zwischen den beiden großen Kirchen Konsens?

DJ: Ich habe noch keine offizielle gegenteilige Stellungnahme gehört. Es weist alles deutlich in die Richtung, daß wir im Moment Abschiebungen nach Afghanistan nicht in Sicherheit und Würde gewährleisten können. Von daher geht das nicht.

SB: Die heutige Veranstaltung war Teil einer längeren Kampagne. Wie verhält sich Ihre normale Tätigkeit zu solchen Kampagnen? Gibt es da eine fruchtbare Zusammenarbeit?

DJ: Grundsätzlich gibt es ein wohlwollendes Beobachten und punktuell Themen, Initiativen und Aktionen, bei denen es sinnvoll scheint, sich ganz dezidiert mit einzubringen. Andere sehen wir eher aus der Ferne. Die Flüchtlingslandschaft ist bunt, und wir stimmen nicht in allen Punkten mit allen Initiativen inhaltlich voll überein. Aber das ist auch gar nicht das Entscheidende. Das Entscheidende ist, den Blick wirklich weit zu halten und anzuerkennen, was die jeweiligen Initiativen in ihrem eigenen Kontext machen.

SB: Was wäre Ihrer Erfahrung nach so etwas wie eine Grenze der Zusammenarbeit?

DJ: Ich würde dabei immer unterscheiden, was ich als Privatperson tun kann und werde, und wo ich als Flüchtlingsbeauftragte der Nordkirche meiner Kirche und anderen Menschen verpflichtet bin. Eine Grenze wäre beispielsweise die Anwendung von Gewalt bei Aktionen, das ist jetzt das erste, was mir spontan einfällt. Sicherlich würde ich auch nicht, auch wenn ich es gar nicht so schlecht finde, als Flüchtlingsbeauftragte in meinem Wagen Geflüchtete aus Griechenland persönlich nach Hamburg bringen. Wir haben es mit einem weit gefaßten Begriff von Rechtsstaatlichkeit und Gewaltfreiheit zu tun. Wir brauchen in ganz vielen Dingen, die wir durchsetzen wollen, die Kooperation auch mit staatlichen Behörden und man muß oft in Konflikt und Widerspruch mit ihnen gehen, aber der muß bestimmte Konventionen wahren.

SB: Gibt es in Hamburg, nachdem SPD und Grüne ihre Teilnahme an der heutigen Veranstaltung abgesagt haben, mögliche andere Bündnispartner unter oder in den politischen Parteien der Hansestadt?

DJ: Es gibt auf vielen Gebieten gute Kontakte und Gespräche mit etlichen Parteien in der Hamburger Landschaft, das sind nicht nur die Grünen, das ist nicht nur Die Linke und das ist nicht nur die SPD - auf der Ausschlußseite gibt's auch eine.

SB: Frau Jochims, vielen Dank für dieses Gespräch.


Fußnote:

[1] http://schattenblick.de/infopool/buerger/report/brrb0087.html


Beiträge zur Podiumsdiskussion "Hamburg hat Platz" im Schattenblick unter:
www.schattenblick.de → INFOPOOL → BUERGER → REPORT:

BERICHT/087: Flüchtlingssolidarisch - gegen den Strich gebürstet ... (SB)

8. März 2017


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang