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INTERVIEW/186: Frauenstreik - Innovativ im Sinne des Wortes ...    Andrea Gaedtke im Gespräch (SB)


Gespräch am 8. März 2019 in Hamburg


Die Psychologin Andrea Gaedtke ist bei der Beratungsstelle für behinderte und unbehinderte Menschen Autonom Leben e.V. und beim Referat für behinderte und chronisch kranke Studierende im AStA der Universität Hamburg tätig. In ihrer Rede auf der Kundgebung zum Internationalen Frauenkampftag am 8. März auf dem Hamburger Rathausmarkt betonte die mit einer Sehbehinderung lebende Aktivistin, daß Behinderung keine Farbe habe. Menschen mit Behinderungen kommen überall vor, so auch unter den Frauen und Mädchen, die im Mittelpunkt ihrer Beratungsarbeit stehen. Ihr geht es darum, daß keine Unterschiede in Sachen Hautfarbe, nationale Zugehörigkeit, sexuelle Orientierung, Geschlechteridentität usw. gemacht werden.

Wichtig für Menschen mit Behinderung sei es, sich eine angemessene Bildung zu verschaffen. Das gelte gerade für Frauen mit Behinderungen. Weil man ihnen nichts zutraut, dürfen sie spät erwachsen werden, und weil Altersbeschwerden mit Behinderungen gleichgesetzt würden, sollen sie auch früh alt werden, also ihre Rechte möglichst früh wieder abgeben. So würden insbesondere Frauen bei der stationären Unterbringung viele Rechte abgesprochen. Gleiches gelte bei der Arbeit in Werkstätten, wo Frauen mit Lernbeeinträchtigung oder geistiger Behinderung lediglich ein Taschengeld verdienen könnten. Zwar hätten sich viele Frauen mit Behinderungen durchgesetzt, indem sie Gleichstellungsgesetze und die UN-Behindertenkonvention erstritten hätten, doch heiße das noch lange nicht, daß diese auch angewendet würden.

Ein Vorurteil, auf das auch sie als blinde Person häufig treffe, sei die Gleichsetzung von Behinderung und Leiden. Sie gehe nicht zum Lachen in den Keller und kenne viele Frauen mit Behinderungen, die gerne ausgehen, tanzen, trinken und viel Spaß beim Sex haben, auch das wolle sie sich nicht nehmen lassen. Menschen mit Behinderungen seien einer Vielzahl ungerechtfertigter Vorurteile ausgesetzt, ganz ähnlich wie bei vielen der beim Frauenstreik vertretenen Lesben, Schwulen, Trans- oder Inter-Menschen. Gefragt werde man nie, aber jeder wisse, was gut für einen sei. Andrea Gaedtke beschloß ihre kämpferische Rede mit den Worten: Wir lassen uns die Butter nicht vom Brot nehmen, und je mehr Bildung wir bekommen, desto mehr werden wir aufstehen und uns wehren. Und desto weniger Spaß wird man an uns haben.


Präsentation des Transparentes 'Ohne uns steht die Welt still - Fight Back 8M Strike Now!' - Foto: © 2019 by Schattenblick

Frontransparent zum Frauenstreik mit Gebärdensprachdolmetscherin auf dem Hamburger Rathausmarkt
Foto: © 2019 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Könntest du den spezifischen Charakter von Frausein und Behinderung erläutern? Würde es zutreffen, von einer doppelten Form von Diskriminierung zu sprechen?

Andrea Gaedtke (AG): Ja, auf jeden Fall. Das geht Frauen mit Migrationshintergrund ähnlich oder geflüchteten Frauen mit Behinderung noch einmal einen Schlag mehr. Ja, ich bin genauso von strukturellen Drücken bis hin zu Gewalt betroffen. Ob ich das immer männliche Gewalt nennen würde, weiß ich nicht so genau, auch, ja klar. Und ich bin natürlich Frau, bin jetzt 55 und fast 35 Jahre frauenpolitisch unterwegs, jetzt nicht unbedingt regional in Hamburg, aber immer irgendwo dabei. Wenn ich 35 Jahre zurückblicke, dann kann ich nur sagen, da gab es uns Frauen mit Behinderungen nicht in der Frauenbewegung. Damals wurde noch nicht darauf geachtet, ob Frauen, die in Rollstühlen sitzen müssen, räumlich Zugang hatten - keine Rampen, kein Zugang. Oder frau wurde immer noch so betrachtet wie nicht gebährfähig oder behindert, defizitär, ist das eigentlich eine Frau? Das war so der Spannungsbogen vor 35 Jahren.

Dann war ich eine ganze Weile nicht mehr so in der Frauenbewegung engagiert, weil mir das einfach zu viel wurde. Ich wuchs in einer Familie auf, in der nicht über große politische Themen gesprochen wurde, aber daß ich schon so in Ordnung bin wie ich bin, das wußte ich, und das auch als Mädchen und Frau. Meine Eltern sind nach dem Zweiten Weltkrieg als fast Erwachsene geflohen, und man kann sich vorstellen, daß es relativ alte Eltern waren. Ich hatte einen Familienvater, also wirklich einen Familienmann als Vater, der sagte, meine Mädchen kriegen genauso eine Ausbildung wie mein Sohn. Das war damals in den 60ern, 70ern noch nicht unbedingt üblich. Da war auch nicht die Rede davon, dringend heiraten zu müssen. Insofern war ich in der Frauenbewegung nicht so ganz zu Hause und habe dann den Schwerpunkt in die Behindertenbewegung gelegt.

Da war es genau umgekehrt, das war wirklich patriarchal, Männer kamen zuerst, und Frauen dann mal so irgendwann. Also Frauenthemen wie etwa Unterdrückung usw. fanden nicht statt. Das mußten wir erst einmal durchsetzen. Und ganz wichtig, die Männer mit Behinderung waren sich der patriarchalen Strukturen gar nicht bewußt, die haben gesagt, wir sind behindert, wir werden unterdrückt. Es gibt eine Diplomarbeit von einem blinden Mann, die heißt "Unterdrückte Unterdrücker?". Weil sie behindert sind, sind sie ja schon sozialpolitisch unterwegs und haben sich viele Dinge nicht bewußt gemacht, die wir Frauen dann erst einmal für uns durchsetzen mußten. Das heißt, es war immer ein Durchsetzen.

Als alleinerziehende, behinderte Mutter mit Kind, studierend, alles allein machend, arbeiten gehend, also mehr Diskriminierung geht bald nicht mehr. Der allgemeine Tenor lautete: Alleinerziehende Mutter mit Kind kann ja eh nichts groß schaffen, dann noch mit Behinderung, dann studiert die auch noch. Ja, wann will die denn studieren? Wann hat die Zeit dafür? Und dann noch arbeiten, also Geld verdienen. Ich habe es gemacht, nicht freiwillig, aber es mußte sein. Und es geht. Wenn ich heute mit meinem Sohn darüber rede, der ist jetzt 30, dann sagt er, das waren manchmal nicht so einfache Zeiten, ich habe das manchmal auch richtig doof gefunden, aber wenn ich mich so umhöre, nichtbehinderte Mütter oder Väter, alleinerziehend, fanden das die Kinder auch nicht toll. So große Unterschiede gibt es dann doch wieder nicht. Aber es wird anders gesehen, weil man natürlich mit einem deutlich sichtbaren Alleinstellungsmerkmal herumläuft.

SB: Wie würdest du als Frau, die in der Frauenbewegung der 70er und 80er, die heute meist als zweite Generation bezeichnet wird, groß geworden ist, die Entwicklung des Feminismus hin zur dritten, insgesamt breiter aufgestellten Generation der Frauenbewegung beurteilen? Findest du, daß sich der Feminismus konsistent weiterentwickelt hat?

AG: Nein, völlig inkonsistent, das sind immer Wellenbewegungen wie in allen politischen Bewegungen. In den 80ern gab es viele Frauen, die fast das Patriarchat umdrehten und sagten: Ich leiste mir neben meiner Hochschulausbildung auch noch einen Mann. Es war wirklich eine Aussage, wo ich dann neben einer angehenden Professorin stand, die ihre Habilitation schrieb, und dachte, ich habe mich wohl verhört. Das war für mich der Punkt, wo ich sagte: Nein, das will ich auch nicht. Das ist nicht mein Ziel von Feminismus oder von Gleichberechtigung, das ist aber meine persönliche Meinung seit bestimmt einem viertel Jahrhundert. Ich bin auch diese ganzen Stufen durchgegangen wie "Männer sind nur Patriarchen, gegen Männer muß ich mich immer wehren" und so weiter. Aus meiner Geschichte, deswegen habe ich meinen Vater auch erwähnt, ein Familienmann, kenne ich das nicht. Er hat nie versucht, meiner Mutter zu sagen, was sie tun oder lassen soll. Vielleicht ist das die Nachkriegsgeneration, vielleicht weil er das jüngste Kind von sieben war und sowieso der Kleinste, ich habe keine Ahnung. Das war auch ein großes Problem für mich in der Frauenbewegung. Ich konnte nie sagen, mein Vater ist ein Patriarch, weil er das nicht war. Er hat in seinem kleinen Rahmen auch Haushaltsarbeiten übernommen oder mal die Waschmaschine ausgeräumt. Ich hatte da keinen Gegner.

SB: Da warst du vielleicht eine Ausnahme.

AG: Genau, da war ich auch wieder eine Ausnahme. Aber alle schrien "Patriarchat!" und ich hatte zu Hause keines. Ich hatte auch wenig Männer und Jungs um mich herum, die so waren. Ich hatte nicht nur einen Familienvater, sondern auch eine Familienmutter und Großmutter. Es ging eher darum, Familienmensch zu sein, sich zu kümmern und zuzuhören und vielleicht auch miteinander zu streiten. Ich komme aus einem sehr starken Frauengeschlecht, das kommt noch hinzu. Wir wurden nicht in dem Sinne unterdrückt. Ich glaube, das wäre auch gar nicht gegangen (lacht). Da waren wir sehr durchsetzungsfähig.

Unsere Meinung war auch immer gefragt. Ich glaube, ich habe mir meine Leute dementsprechend ausgesucht. Da war natürlich immer mal der eine oder andere drunter, wo ich dann feststellte, naja gut, das braucht es jetzt nicht. Aber das war auch mit den Frauen so, die sehr rigid gegen Männer vorgingen oder wieder ins Weibchenschema zurückkehren wollten. Die Welle kam so langsam in den 90ern, 2000ern, wo viele wieder sagten, nein, ich will eigentlich Familienarbeit, ich will zu Hause bleiben die drei Jahre mit dem Kind, der Mann soll das Geld verdienen. Sie waren sich manchmal nicht darüber klar, glaube ich, daß Beziehungen auch in die Brüche gehen, und dann standen sie alleine da. Und dann war das alles nicht mehr so einfach, da war wirklich im alten Sinne der Ernährer weg. Das sind alles Strömungen, die mitgelaufen sind, da gibt es keine eindeutige Welle in dem Sinne, daß man sagen kann, Frauen waren in den 70ern so oder in den 80ern so oder in den 90ern und 2000ern so. Ich glaube, da hat es immer unterschiedliche Strömungen gegeben.

Schwierig war das tatsächlich im homosexuellen Bereich. Ich bin bekennende Hetera, aber ich bin mit sehr vielen schwulen Männern aufgewachsen. Und für die Schwulen war das überhaupt kein Problem. Die Lesben kriegten das Problem, daß da eine Hetera um die Ecke kam und sagte, nein, ich möchte das auch bleiben. Ich bin das auch. Ich kann euch aber genauso akzeptieren wie ihr seid - und das war für die ein Problem. Das war ganz spannend, weil ich diese Barriere nicht sah und nicht merkte. Ich merkte aber, es kommen die ganz alten Konkurrenzen auf, wie verhalte ich mich denn zu der die-mag-Männer-ich-mag-nur-Frauen-Konkurrenz. Insofern bin ich als Frau mit Behinderung auch auf eindeutig patriarchale Strukturen gestoßen. Ich Frau sage dir, wer du bist, wie du bist und wie du zu sein hast. Das hat mich dann sofort wieder aufbegehren lassen, weil ich das nicht ertrage. Da bin ich fröhlich überall angeeckt, weil ich einfach das gemacht habe, was ich machen wollte. Das kann zeitweise auch ein bißchen schwierig sein.

SB: Deine Erfahrungen sind auch insofern interessant, als sich Gewaltverhältnisse offensichtlich auch unter Unterdrückten reproduzieren.

AG: Ja, nicht nur bei Frauen, Lesben und Menschen mit Behinderung. Ich behaupte, strukturelle Gewalt ist etwas, was durch unterschiedliche Drücke und Nöte produziert wird. Je höher der Druck ist oder je unterschiedlicher die Drücke sind, die auf einzelne Personen oder Gruppen wirken, desto mehr vereinzelt man innerhalb dieser Gruppe und läßt sich auseinanderdividieren. Wir merken es jetzt gerade mit den Geflüchteten. Selbst von Menschen mit Behinderung höre ich, warum eigentlich Geflüchtete mit Behinderung hier bleiben sollen, weil die uns doch unser Geld, das wir hier als Deutsche gebrauchen könnten, wegnehmen. Das läßt mich gefrieren, weil Behinderung keine Farbe und auch keine Nationalität und kein Geschlecht hat. Wir müssen hier alle irgendwie sehen, wie wir miteinander klarkommen. Und das können wir auf kooperative Weise tun, auch indem wir streiten, um Grenzen streiten, das gehört dazu. Disputieren, streiten, um ein vernünftiges, brauchbares Ergebnis untereinander zustande zu bekommen, das ist eigentlich das Ziel.

In diesen wehrhaften Zeiten war ich gegen dies und gegen das, so mußte ich mich ersteinmal finden. Aus dieser Erfahrung habe ich den Schluß gezogen, daß ich Leute für das, was ich sage, interessiere. Nicht um jeden Preis, nicht aus Galanterie und Gefallsucht, sondern ich habe ein Thema, dann spreche ich Leute an, ob sie das interessiert, ob sie da mitgehen können, wie weit sie mitgehen können, was ihre Interessen dabei sind und ob das kompatibel ist oder nicht. Und dann gucken wir mal, wie weit wir kommen. Da fühlen sich Leute wirklich einmal auf Augenhöhe angesprochen und sagen häufig - später, wenn das Projekt eigentlich schon vorbei ist -: Du, sag mal, du hast mich wirklich gesehen, klingt ja komisch bei dir, du bist ja blind, aber du hast mich wirklich gesehen.

Aus meiner Geschichte habe ich gelernt, daß man nicht immer dabeisein und sich kümmern kann. Man kann auch nicht immer den Starken spielen und sich selber in Gefahr bringen, das ist auch klar. Aber dieses bißchen, das, was ich tun kann, dann auch tun, das schadet wirklich niemandem, und das kann man im Kleinen wie im Großen tun. Ich erlebe das auch bei Leuten mit geistiger Behinderung oder Lernbeeinträchtigung, die dann sagen: Nein, das finde ich aber doof, wie mit dem umgegangen wird. Das finde ich doof, was du da machst. Das ist auch Widerstand, und das ist auch sich hinstellen und sagen: Ich sehe das. Und du darfst das nicht, ich finde das nicht in Ordnung. Das geht auf vielen Ebenen, und insofern bin ich ganz froh, daß das hier auf dem Frauenstreik Platz gefunden hat.

Insbesondere hervorheben möchte ich, daß ich diesmal nicht als Frau mit Behinderung dafür sorgen mußte, daß zum Beispiel Gebärdensprachdolmetscherinnen anwesend sind. Oder daß darauf geachtet wird, daß die Räume für die Plena, die vorher stattgefunden haben, Rollstuhl-zugänglich sind. Darum haben sich nichtbehinderte junge Frauen gekümmert. Das hat mich wahnsinnig gefreut. Das Thema ist insofern, und da sind wir wieder im Heute, offensichtlich zumindest hier in Hamburg bei einem Teil dieser Frauen angekommen. Vor 30, 35 Jahren hätte es geheißen: Wieso wollt ihr auch kommen? Macht das mal selber, wäre die nächste Stufe. Dann: Ach so, haben wir nicht dran gedacht, hieß es im nächsten Jahrzehnt ungefähr. Und dann so langsam: Ja nee, ihr seid ja so stark und so gut gebildet, das könnt ihr ja selber machen - das war das nächste Totschlagargument. Diesmal hatte ich wirklich gar keine Zeit, das zu tun. Und die Frauen haben es einfach gemacht. Das finde ich wahnsinnig schön, das hat mich riesig gefreut.

SB: Hältst du das Konzept der Intersektionalität für eine relevante Entwicklung in dem Sinne, daß die Leute begreifen, daß die Repressions- und Unterdrückungserfahrungen so unterschiedlich nicht sind, beziehungsweise daß eine Mehrfachdiskriminierung - zum Beispiel schwarz, lesbisch und Frau zu sein - die Leute eher zusammenbringen als auseinanderdividieren könnte?

AG: Ich sage mal, ich treffe vereinzelt auf Frauen Unterstrich Sternchen wie auch immer Männer, die das tatsächlich so sehen. Was mich sehr freut, vielleicht kann ich sie auch jetzt erst wahrnehmen, weil ich langsam an demselben Punkt angekommen bin. Kann ja auch sein, vielleicht waren die schon viel länger da. Gerade in der Arbeit mit geflüchteten Frauen mit Behinderung habe ich festgestellt, daß Flucht, Behinderung und Frausein ein Kreuzen vieler Schwierigkeiten, im schlimmsten Fall eine Barriere ist. Wenn es gut läuft, wird daraus irgendwann Ressource. Das ist sehr schwierig zu sagen. Wir reden zum Thema Behinderung immer von Inklusion und beim Thema Migration von Integration.

Es gibt auch Bücher dazu, so von Swantje Köbsell (Hrg.) "Flucht und Behinderung". Da wird mit zwei unterschiedlichen Begriffen gearbeitet: Die Geflüchteten sollen integriert werden, die Menschen mit Behinderungen sollen inkludiert werden, und genau da reibt es sich häufig. Gerade im Bereich Geflüchtete mit Behinderung und dann noch geflüchtete Frauen mit Behinderung werden viele Sachen benötigt, Pflege, Hilfsmittel et cetera, die hier in Hamburg vielleicht noch, aber ansonsten nicht bewilligt werden, wenn man nicht so undso lange in Deutschland ist. Also ist es ganz wichtig, welchen Flüchtlingsstatus man hat. Behinderung fängt aber nicht erst nach 6 oder 15 Monaten an, die ist schon da, mit der sind sie gekommen. Die haben es hierhergeschafft trotz Behinderung. Ich sage das normalerweise ungern, aber Fluchtwege mit Schiff sind da nicht zu bewältigen. Ich habe gerade ein geflüchtetes Ehepaar in Beratung, die wieder in ein anderes EU-Land rückgeführt werden sollen, weil sie dummerweise mit dem Flugzeug gereist sind, tja, rollstuhlpflichtig. Über den Teich schwimmen kann man damit schlecht. Ein Hamburger Politiker meinte zu mir: Wieso, die hätten ja über Land kommen können. Die Türkei und barrierefrei? Alles klar.

Aber sie haben drei Tage "Station" in einem anderen EU-Land gemacht und sollen jetzt rückgeführt werden. Wenn ich mich nicht zusammen mit einer anderen Organisation dahintergeklemmt hätte, hätten sie bis heute keinen Pflegegrad, sie hätten keinen Pflegedienst. Gerade der Mann würde riskieren, gesundheitlich sehr abzubauen. Man arbeitet da gegen Windmühlenflügel. Da arbeiten das Flüchtlings- und Asylrecht gegen die UN-Behindertenkonvention. So ist es ganz schwierig, Sachen durchzusetzen, und man muß manchmal, offen gesagt, ziemlich unverschämt sein und einfach Anträge stellen, die man eigentlich gar nicht stellen darf, und darauf hoffen, daß sie genehmigt werden.

Es gab vor kurzem die Meldung eines öffentlich-rechtlichen Senders zur Hauptnachrichtenzeit über die vielen Geflüchteten, die nicht abgeschoben werden können, weil entweder Papiere fehlen oder sie krank sind. Das hört sich für Otto Normalverbraucher so an, als wenn man sich einfach eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung besorgt wegen eingewachsener Fußnägel, und dann wird man nicht abgeschoben. Die Leute, die da mit "krank" gemeint sind, sind tatsächlich schwerkrank, die haben es nicht einfach am Rücken und Rheumatismus, sondern die haben Pflegegrad vier, drei oder zwei. Es gibt sogar eine Familie, von der ich aus sicherer Quelle gehört habe, die ein behindertes Kind mit Pflegegrad fünf hat. Das Kind ist schwerkrank, es wird nicht lange leben, die Familie wird abgeschoben, weil es keine hinreichenden Hinweise darauf gibt, daß sich der Gesundheitszustand des Kindes im Ursprungsland, wir bewegen uns Richtung Ostblock, mehr darf ich dazu nicht sagen, erheblich verschlechtern wird. Da steht man in Deutschland, in Hamburg da und fragt sich: Wo lebe ich hier eigentlich?

Das ist die Spitze des Eisberges. Auch Behinderte mit deutschem Paß haben mit behördlichen Schwierigkeiten zu kämpfen, sei es rollstuhlgerechter Wohnraum, die Krankenkasse, Pflege. Ganz viele Sachen werden nicht bewilligt. Die wenigsten gehen den Widerspruchsweg, sie können es häufig nicht oder wissen nicht wie. Wer kann so lange warten mit einer Klage, wenn die Gesundheit auf dem Spiel steht, wenn der Rollstuhl nicht richtig angepaßt ist? Mit solchen Problemen haben deutsche behinderte Menschen massiv zu kämpfen. Es wird aber so getan, als wenn es uns hier wahnsinnig gut geht. Es geht uns verhältnismäßig gut im Gegensatz von vor 35 Jahren, im Gegensatz zu anderen Ländern, ich bestreite das nicht. Nur heißt das nicht, daß alles gut ist. Es gibt Leute, die nicht die nötige Unterstützung, nicht die nötige Lobby haben, nicht wissen, wo sie fragen sollen.

Wir - Autonom Leben e. V. - sind eine Beratungsstelle, wir sind kostenlos, der Hamburger Staat leistet sich uns sogar, wie ich etwas böse sage. Das Referat für behinderte und chronisch kranke Studierende (RBCS) ist ein teilautonomes Referat, das heißt, es ist von Studierenden mit Behinderung erstritten worden, auch der Haushalt dafür ist erstritten worden. Das haben Menschen mit Behinderung durchgesetzt, weil es ihnen gereicht hat. Die Hamburger Assistenzgenossenschaft (HAG) ist eine Genossenschaft, die von Mitgliedern von Autonom Leben e.V. vor Jahren gegründet wurde, weil es vom Sozialamt immer hieß, ihr müßt niedergelassene Pflegedienste nehmen. Dann hat es ihnen irgendwann gereicht, und sie machten ihre eigene Genossenschaft und ihren eigenen Pflegedienst auf. Damit konnten sie diejenigen Leute, die sie haben wollten, anstellen. Das mußte das Sozialamt akzeptieren. Irgendwann wurde das durchgestritten. Das sind Errungenschaften, die Menschen mit Behinderungen einfach gemacht haben. Und das machen Frauen mit Behinderungen inzwischen auch.

Es sind viele Frauen inzwischen in Professuren auf EU-Ebene behindertenpolitisch unterwegs. Es sind gar nicht mal so wenige - es sind nicht viele, aber prozentual sind Frauen ohne Behinderungen oder mit Migrationshintergrund an Universitäten auch nicht rasend vertreten. Aber es tut sich was. Gebt uns mehr Bildung, und dafür kämpfen wir. Ich gehöre zum oberen Zehntel, ich habe Glück gehabt, ich habe Eltern gehabt, die mich unterstützt haben, die gesagt haben, mach, wenn du es kannst. Das wird so weitergehen. Immer mehr Leute werden befähigt - Frauen mit Migrationshintergrund, Frauen in der dritten Welt, mit Bildung, mit medizinischer Vor- und Nachsorgekenntnis, wie auch immer auf welcher Ebene, Kinderpflege und so weiter -, Dinge selber zu entscheiden und selber in die Hand zu nehmen, und das machen die Frauen mit Behinderungen auch.

Das gilt auch für Frauen mit Lernbeeinträchtigung, mit geistiger Behinderung. Ich kann mich noch an Zeiten erinnern, da wurden sie eher wie in der Psychiatrie gehalten. Das ist noch gar nicht so lange her. Auch heute ist vieles verbesserungswürdig in den großen stationären Einrichtungen, aber es gibt inzwischen Wohnbeiräte, die auch erstritten worden sind, sowie verpflichtend Frauenbeauftragte, die ausgebildet werden müssen laut Bundesteilhabegesetz. Das sind lernbehinderte, geistig behinderte Frauen, die mit Assistenz Frauen beraten. Das ist eine wunderbare Entwicklung, die zeigt, daß sie etwas können. Das, was sie an Potential mitbringen, können sie auch umsetzen. Kommt darauf an, wie gut sie unterstützt werden, wie die Fortbildungen sind. Aber wir kommen voran.

SB: Du erwähntest eben Inklusion und Integration. Mir fällt an diesen Begriffen immer auf, daß sie von einer bestimmten Position aus gedacht werden. Menschen werden in eine Mehrheitsgesellschaft integriert, inkludiert, hat das nicht auch etwas von einem paternalistischen Konzept?

AG: Haben wir was anderes? (lacht) Nein, ernsthaft, Integration heißt: Man muß sich einreihen, einfügen. Inklusion heißt, die Ressourcen, die diese Gruppe mitbringt, finden Berücksichtigung beziehungsweise fließen ein. Frauen beteiligen sich teilweise selbst an diesen strukturellen Drücken, indem sie halt mitlaufen. Ich behaupte ja, da sind Frauen auch nicht anders als Männer. Das ist schon ein Punkt, wo wir alle Menschen sind. Es gibt sicherlich männliche Wesen, ob sie schwul oder hetero sind, mit denen wechsle ich vielleicht die ersten drei Sätze, und das war es. Das wird anderen Leuten mit mir auch so gehen. Da gibt es keine Schnittmengen.

SB: Wir sind alle vergesellschaftet, und ich sehe es schon so, daß das soziale Geschlecht das maßgebliche ist, im Sinne dessen, daß man sozialisiert ist als Mann oder als Frau. Wie siehst du das?

AG: Als Hetera ist das ein bißchen schwierig zu beantworten. Natürlich bin ich Frau, natürlich bin ich Mutter, aber ich zähle auch schon zu den Menschen mit Behinderung, die sich auch mal hinstellen und ganz klar sehr laut werden können. Ich bin schon gewohnt, mich durchzusetzen. Das finden Frauen wie Männer manchmal nicht mehr so lustig. Ich kann auch richtig zornig werden, mache meinem Ärger dezidiert Luft und nehme keine Rücksicht auf Geschlechter oder Autoritäten. Nicht, daß ich unverschämt werde und schimpfe, also pöble, aber schon streitbar im produktiven Sinne und dann auch laut unter Umständen. Das ist dann eben so. Das gehört auch zu mir, und das ist immer noch nicht typisch Frau. Das finde ich schade.

Wenn ein Mann bei mir in der Beratung sitzt und sagt, ich möchte nicht von einer Frau beraten werden, dann habe ich das zu respektieren und nicht zu sagen, wieso, ich bin doch eine Frau, ich bin doch sozial. Das ist einfach Quatsch. Ob es um "typisch männliche" Themen geht oder nicht, er möchte das nicht, fertig. Ich möchte auch nicht unbedingt von einem Mann beraten werden. Das gilt umgekehrt genauso. Ich lästere dann gerne mit dem Satz, den, glaube ich, Hella von Sinnen in einem Kabarettprogramm hat: Ich bremse auch für Männer. Das ist zu einem Leitspruch geworden. Es gibt eine Vielfalt von männlichen Wesen, sexueller Ausrichtungen und - ich bin ganz froh, daß das so ist, und ich, wie ich das gerne nenne, auf Familienmänner treffe. Die sind schon stark, die können schon was. Die sehen sich auch als Mann wie auch als Hetero, aber können gleichzeitig sagen: Das kann ich nicht, dann bin ich halt schwach. Da möchte ich nicht auf Konfrontationskurs gehen, das geht mir zu nahe. Diese Vielfalt finde ich schön. Vielfalt wie bei Bene auf der Bühne, der sagte: Ich bin trans und ich möchte das alles sein dürfen. Und mir geht es hier gut, aber es reicht noch nicht. Das hat mich wirklich gerührt im Sinne von angerührt, weil das etwas ist, was Menschen mit Behinderungen auch wollen. Natürlich haben wir Einschränkungen, natürlich gehen verschiedene Dinge nicht, also ich werde nie Fallschirm springen oder vielleicht doch (lacht).

Ich kann viele Dinge nicht tun, ich kann nicht Pilotin werden. Das geht einfach nicht. Aber davon hängt nicht mein Lebensheil ab. So sein zu wollen wie alle anderen, das ist das grundsätzliche Problem, mit dem wir uns im Moment alle hier rumschlagen, nicht nur wir Frauen, sondern das ist in sämtlichen Bevölkerungsgruppen anzutreffen. Einerseits wollen wir gemeinsame Schnittmengen finden. Da sind wir wieder bei den Konsequenzen aus dem, was ich bin, oder den Konsequenzen, die daraus folgen, wer ich bin, wie ich bin und was ich tue. Gleichzeitig wollen wir Individuum bleiben. Das ist im Moment die große Zitterpartie, die wir alle durchlaufen und die von allen möglichen alten Zöpfen wie neu gedachten Theorien immer hin und her geschoben wird.

SB: Andrea, vielen Dank für das lange Gespräch.


Fußnoten:

[1] BERICHT/119: Frauenstreik - der gleiche Kampf ... (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brrb0119.html


1. April 2019


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