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HINTERGRUND/146: Binnenvertriebene - Heimatlos im eigenen Land


die zeitung - terre des hommes, 1. Quartal 2009

Heimatlos im eigenen Land
Bedroht, verjagt, vergessen

Von Athanasios Melissis


Das Barrio Kennedy ist ein Stadtteil von Bogotá. Es ist keines der Elendsquartiere der kolumbianischen Hauptstadt; die Häuser haben Strom- und Wasseranschluss, es gibt Schulen und Krankenhäuser. Das Viertel ist sehr dicht bevölkert. Seit mehreren Jahren wohnt hier Marta, zusammen mit ihrer Mutter und ihren vier Geschwister.


Das 15-jährige Mädchen kann sich noch gut daran erinnern, als sie auf ihrem kleinen Hof lebten, im ländlichen Tolima im Westen des Landes. "Bei uns in der Gegend wurde gekämpft", erzählt sie. "Ich war damals noch zu jung, um die Hintergründe der Kämpfe zu verstehen. Aber sie weiß noch, wie ihr Vater ohne jegliche Vorwarnung von Bewaffneten aus dem Haus geholt, gefoltert und ermordet wurde. Kurz nach der Ermordung bekam die Familie einen Drohbrief und wurde aufgefordert, sofort den Hof zu verlassen. Andernfalls würden die Bewaffneten die Brüder holen und als Soldaten zwangsrekrutieren. Die Familie nahm nur das Nötigste mit und floh Hals über Kopf nach Bogotá, wo sie bei Verwandten der Mutter unterkam.

Es gibt schätzungsweise 25 Millionen Menschen weltweit, die wie Marta vor Krieg und Gewalt geflohen sind und im eigenen Land Unterschlupf gefunden haben - sogenannte Binnenvertriebene. Anders als Flüchtlinge haben sie keine internationale Grenze überschritten; Binnenvertriebene bleiben innerhalb ihrer Staatsgrenzen und werden daher - gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention - nicht als Flüchtlinge anerkannt. Das hat zur Folge, dass sie oft weder sicher vor erneuter Verfolgung sind noch eine Grundversorgung bekommen. Wie auch Marta und ihre Familie: Als sie nach Bogotá kamen, waren sie zunächst völlig auf sich allein gestellt. Hilfe fanden sie in der von terre des hommes geförderten Organisation Taller de Vida. Ihre Mitarbeiter waren als Ansprechpartner da, halfen bei Behördengängen und unterstützten die Kinder dabei, mit der Ermordung des Vaters und dem Verlust der gewohnten Lebensumgebung fertig zu werden.

UNO-Generalsekretär Ban Ki-moon nannte kürzlich das Problem der Binnenvertriebenen "die mutmaßlich größte humanitäre Herausforderung der heutigen Zeit". Die Dimensionen des Problems lassen sich erahnen, wenn man der Zahl der Binnenvertriebenen die der Flüchtlinge und Asylsuchenden gegenübersteht, die sich auf etwa 16 Millionen beläuft. Eine Lösung für das Problem zu finden, ist schwierig: In vielen Fällen genießen die Vertreiber den Schutz der Regierung. So auch in Kolumbien, wo rechte paramilitärische Gruppen und staatliches Militär teilweise eng zusammenarbeiten, oder in Indien, wo ganze Dörfer wirtschaftlichen Interessen weichen müssen. In anderen Fällen sind sogar Regierungen selbst dafür verantwortlich, beispielsweise in Burma, wo die Militärjunta Vertreibungen als Strategie einsetzt, um Volksgruppen wie die Shan oder die Karen zu unterdrücken.

Wo Staaten die Menschenrechte ihrer Bürger verletzen, ist es Aufgabe der Weltgemeinschaft, sich zu engagieren. Da es sich bei einem Engagement für Binnenvertriebene immer um eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten souveräner Staaten handelt, scheuen sich viele Regierungen, diese Länder allzu deutlich an den Pranger zu stellen. Doch erst wenn die Verantwortlichen für diese Menschenrechtsverletzungen öffentlich benannt und sich vor Gerichten verantworten müssen; wird sich an dieser Situation etwas ändern.


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Quelle:
die zeitung, 1. Quartal 2009, S. 1
Herausgeber: terre des hommes Deutschland e.V.
Hilfe für Kinder in Not
Ruppenkampstraße 11a, 49084 Osnabrück,
Tel.: 0541/71 01-0, Fax: 05 41/70 72 33
E-Mail: info@tdh.de
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. März 2009