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HINTERGRUND/178: "Seelische Gesundheit ist kein Luxus" - Dr. Ute Sodemann im Gespräch


die zeitung - terre des hommes, 3. Quartal 2011

»Seelische Gesundheit ist kein Luxus«

Interview mit der Trauma-Expertin Dr. Ute Sodemann


FRAGE: Frau Sodemann, früher bestand Hilfe nach Naturkatastrophen oder Kriegen nur aus Decken, Zelten, Medizin und Nahrung in die betroffenen Gebiete. Heute weiß man, dass zusätzlich nicht nur die körperlichen, sondern auch die seelischen Schäden behandelt werden müssen. Warum hat das so lange gedauert?

UTE SODEMANN: Nicht nur in der Dritten Welt, sondern auch in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich niemand darum gekümmert, ob die Menschen und speziell Kinder traumatisiert waren. Ich weiß das von mir selbst und von meiner Familie. Die Standardantwort war immer: Ich brauche keinen Therapeuten, ich bin doch nicht bekloppt.
In vielen armen Ländern fehlt es selbst an einer minimalen Gesundheitsversorgung. Meist fehlt dann das Verständnis dafür, dass die mentale Gesundheit mit dazu gehört und kein Luxus ist. Man weiß heute, dass schwere seelische Schäden bei Kindern zum Beispiel zu extremen Konzentrations- und somit Lernschwierigkeiten führen. Doch in armen Ländern denken viele Menschen, sie bräuchten diesbezüglich keine Hilfe. Bei psychosomatischen Beschwerden wie Kopfschmerzen, Ess- oder Schlafstörungen, gehen sie zum Arzt und wollen eine Pille. Gute Ärzte schicken diese Menschen zum Psychologen oder Therapeuten. So war es auch im indonesischen Aceh, wo der Tsunami gewütet hat. Außerdem spielen kulturelle Faktoren eine große Rolle: Ein muslimischer Mann muss stark sein, er weint nicht, er hört nach 40 Tagen auf zu trauern. Frauen gehen eher zum Therapeuten.

FRAGE: Sie haben unter anderem daran mitgewirkt, die Traumabehandlung nach der Erdbeben- und der Tsunami-Katastrophe in Haiti und Indonesien in Gang zu bringen. Gab es vor Ort kulturelle Vorbehalte?

UTE SODEMANN: Wirkliche Vorbehalte nicht; manche Menschen empfanden die EMDR-Therapie fast wie Magie, aber die lokalen Therapeuten helfen bei der Vermittlung, sie mischen kulturelle Elemente mit ein. Zum Beispiel gibt es eine Stabilisierungsmethode, die man mit Gebeten verknüpfen kann, das machen die Menschen in Aceh sehr gern. Und die Kinder in Haiti haben mit Begeisterung den »butterfly hug« gemacht, bei dem man die Arme kreuzt und sich selbst links und rechts auf die Schultern klopft - auch das hat einen beruhigenden therapeutischen Effekt. Der Vorteil von EMDR ist, dass es überall anwendbar ist, weil das Gehirn aller Menschen gleich funktioniert und die Methode auch ohne große verbale Kommunikation auskommt. Man vermeidet das Reden sogar, weil es erneut stresst.

FRAGE: Die Menschen in der indonesischen Provinz Aceh litten vor dem Tsunami bereits 30 Jahre unter einem Bürgerkrieg. Sind dort ganze Generationen traumatisiert?

UTE SODEMANN: Ja, sicher. Das Problem dort war, dass manche Menschen zwei traumatische Erlebnisse hatten, nämlich Krieg und Tsunami, wobei das von Menschen verursachte Leid immer stärker traumatisiert als Naturkatastrophen. Allerdings hängt es auch von der frühkindlichen Entwicklung ab, wie gut ein schweres Erlebnis, das ja jeder Mensch irgendwann verkraften muss, verarbeitet werden kann, ohne Schäden hervorzurufen. Das Kind einer depressiven Mutter wird keine sehr große Stabilität besitzen - die es aber braucht, um ein späteres traumatisches Erlebnis wie einen Tsunami selbst gut zu verarbeiten. Aber die Selbstheilungsrate ist glücklicherweise hoch. Man geht davon aus, dass nach einem kollektiven Kriegserlebnis nur rund 15 bis 25 Prozent der Bevölkerung an einem posttraumatischen Belastungssyndrom erkranken. Allerdings sind dies nicht die einzigen Beeinträchtigungen, hinzu kommen Depressionen und Angststörungen, deren Verbreitung oft sehr viel höher ist. In einigen Gesellschaften, die lange Jahre in Kriegssituationen leben, wird dieser geradezu als normal empfunden. Von außen betrachtet sehen wir darin eine gesellschaftliche Lethargie.

FRAGE: terre des hommes fördert in Südostasien die Ausbildung von Trauma-Therapeuten. Würden Sie das als Standard empfehlen?

UTE SODEMANN: Ja. Wir haben jetzt im Mekong-Projekt (siehe Seite 7) durch die Kooperation mit der Fachorganisation Trauma Aid schon eine erste Gruppe sehr gut qualifizierter Psychotherapeuten ausgebildet. Die ersten von der Europäischen Fachorganisation EMDR-Europe anerkannten lokalen Trainer sind vorhanden, so dass zu hoffen ist, dass die Ausbildung in ein paar Jahren in Südostasien von den nationalen Experten selbst durchgeführt werden kann. Ein weiteres Ziel wäre es, Traumatherapie auch an den Universitäten zusammen mit EMDR zu lehren.
Ich bin froh, dass terre des hommes sich dieses Themas verstärkt annimmt und mehr Projekte in diesem Bereich fördert. Bei Programmen im Bereich der Nothilfe sollte diese Komponente immer mit berücksichtigt werden. Denn Eltern, deren Lebensgrundlage zerstört wurde, etwa durch eine Naturkatastrophe, sind großem Stress ausgesetzt und können sich dann kaum um ihre ebenfalls betroffenen Kinder kümmern. Kinder sind in diesen Situationen oftmals sich selbst überlassen und bräuchten gerade dann besondere Zuwendung. Es ist gut, dass terre des hommes da zur Stelle ist.


Dr. Ute Sodemann ist Vorstandsmitglied der Organisation Trauma Aid / Humanitarian Assistance Programme Germany e.V. und hat viele Jahre in führender Position bei terre des hommes gearbeitet.

Das Interview führte Bert Strebe.


STICHWORT TRAUMA

Der Begriff Trauma kommt aus dem Griechischen und bedeutet »Wunde«. Unterschieden wird zwischen körperlichen und seelischen Traumata. Die amerikanische Psychiatrieprofessorin Judith Lewis Herman, die die komplexe posttraumatische Belastungsstörung definiert hat, bezeichnet ein psychisches Trauma als »das Leid der Ohnmächtigen«. Sie sagt: »Das Trauma entsteht in dem Augenblick, in dem das Opfer von einer überwältigenden Macht hilflos gemacht wird. Ist diese Macht eine Naturgewalt, sprechen wir von einer Katastrophe. Üben andere Menschen diese Macht aus, sprechen wir von Gewalttaten. Traumatische Ereignisse schalten das soziale Netz aus, das dem Menschen gewöhnlich das Gefühl von Kontrolle, Zugehörigkeit zu einem Beziehungssystem und Sinn gibt.«

Kriegserlebnisse, Folter und familiäre Gewalt, aber auch bloße Bedrohungen, Ausgrenzung, Unterdrückung und anhaltende soziale Ungerechtigkeiten können traumatisierend wirken.

Nicht jeder Mensch, der etwas Schreckliches erlebt, wird automatisch traumatisiert. Das Entstehen eines Traumas hängt von der individuellen Widerstandsfähigkeit ab. Stress, Schmerz und Trauer führen nicht automatisch zu einer psychischen Störung. Aber sie können dazu werden, wenn sie die Belastungsgrenzen des Menschen übersteigen und nicht mehr verarbeitet werden.


WAS IST EMDR?

Francine Shapiro, eine heute 63 Jahre alte amerikanische Psychologin, ist die Erfinderin des »Eye Movement Desensitization and Reprocessing« (EMDR). Sie hatte eine Krebsdiagnose zu verkraften und litt deswegen unter Ängsten und Depressionen. Dann aber entdeckte sie beim Spazierengehen im Park, dass ihre Angst und die düsteren Gedanken weniger wurden, wenn sie die Augen bewegte. Sie entschloss sich, das Phänomen näher zu untersuchen - so entstand EMDR.

Der Patient führt sich eine seiner belastenden Erinnerungen vor Augen und friert sie gedanklich ein. Gleichzeitig hält ihn der Therapeut mit langsamen Fingerbewegungen dazu an, die Augen rhythmisch zu bewegen. Diese Bewegungen sind es, die die Angst des Patienten vor seiner Erinnerung verringern.

Der Vorgang erinnert an Hypnose, hat damit aber nichts zu tun. Es geht darum, die traumaauslösenden Ereignisse anzuschauen, von der Angst zu entkoppeln und beides dann als Teil der eigenen Geschichte in die Psyche zu integrieren. Seine Erlebnisse kann der Mensch nicht abstreifen, aber er kann die Gefühle, die damit verbunden sind, »überschreiben«.

Was genau bei EMDR abläuft, ist noch nicht endgültig geklärt. Man vermutet, dass die rhythmischen Augenbewegungen zur Synchronisation der beiden Hirnhälften führen, die nach traumatischen Erfahrungen oft gestört sind. Auch im sogenannten REM-Schlaf, in den Traumphasen, in denen wir Erlebnisse des Tages verarbeiten, bewegen wir die Augen in erheblichem Maße.


DER TERRE DES HOMMES-TRAUMAFONDS

Traumahilfe ist der Förderschwerpunkt der terre des hommes-Gemeinschaftsstiftung. Im Jahr 2010 wurde der »Stiftungsfonds Hilfe für traumatisierte Kinder« aufgelegt. Die im Fonds enthaltenen Mittel belaufen sich derzeit auf knapp 500.000 Euro. Angestrebt ist das Ziel von 1.000.000 Euro.

Die terre des hommes-Gemeinschaftsstiftung ist eine zivilrechtlich unselbstständige Stiftung, die von terre des hommes e.V. als Treuhänder verwaltet wird. Seit 2005 betreut die gemeinnützige Stiftung als steuerlich selbstständige Körperschaft eigene Projekte und kann durch Zustiftung unterstützt werden.

Näheres unter www.tdh-stiftung.de oder bei terre des hommes, Bärbel Baum,
Telefon: 05 41 / 71 01-155, eMail: b.baum@tdh.de


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Quelle:
die zeitung, 3. Quartal 2011, S. 5
Herausgeber: terre des hommes Deutschland e.V.
Hilfe für Kinder in Not
Ruppenkampstraße 11a, 49084 Osnabrück,
Tel.: 0541/71 01-0, Fax: 05 41/70 72 33
E-Mail: info@tdh.de
Internet: www.tdh.de

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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. November 2011