Schattenblick → INFOPOOL → DIE BRILLE → FAKTEN


AUTOREN/052: Formenstrenge und Traditionsbewusstsein - Zum 100. Geburtstag Stephan Hermlins (UZ)


UZ - Unsere Zeit, Nr. 14 vom 3. April 2015
Sozialistische Wochenzeitung - Zeitung der DKP

Formenstrenge und Traditionsbewusstsein
"Ich selber empfand mich ja als deutschen Schriftsteller" (aus einem Interview 1983)

Zum 100. Geburtstag Stephan Hermlins (13. April 1915 bis 6. April 1997)

von Rüdiger Bernhardt


Am 22. Mai 1962 erlebte ich Stephan Hermlin zum ersten Mal; Hans Mayer hatte ihn, zum wiederholten Male, nach Leipzig eingeladen. Hans Mayer und Stephan Hermlin - das waren Vertraute und Freunde seit der Zeit des Exils, Gleichgesinnte in der Nachkriegszeit, die beide 1947/48 den Weg von West nach Ost gingen. Eine Sammlung von 30 Aufsätzen Hermlins und Mayers ("Ansichten über einige Bücher und Schriftsteller") von 1947, hervorgegangen aus einer Sendereihe Neue Bücher bei Radio Frankfurt a. M., erklärte das Prinzip ihres Umgangs mit Literatur: Es wird "der Strich sehr scharf gezogen zwischen der echten deutschen Literatur und den hybriden Gebilden faschistischer Überbleibsel unter unseren Schriftstellern".

Und sie fanden Beispiele. Antifaschismus war ihre Grundhaltung; sie führte sie vom Westen nach dem Osten; dem Prinzip blieben sie lebenslang treu, so unterschiedlich ihre Wege später verliefen. Auch an dem 22. Mai hatte Hermlin Gedichte aus den Exiljahren gelesen; das Ende des Exils war der Anfang des Dichters Stephan Hermlin; diese Zeit bestimmte das literarische, kritische und essayistische Schaffen, das im November 1944 mit der Nummer 1 der in der Schweiz herausgegebenen Zeitschrift "Über die Grenzen (Von Flüchtlingen - Für Flüchtlinge") begann.

1936 war der junge Hermlin als Kommunist bedroht und wurde zum Flüchtling. Im Exil hielt er sich in Palästina, Frankreich, der Schweiz und anderen Ländern auf, immer widerständig gegen den Faschismus. Das Gedicht "Ballade von einer sterbenden Stadt" (1943) hat die Erinnerung bewahrt: "Aus den Ebenen fahl/Schwindet verdunkelt das Licht." heißt es im Refrain. In den wenigen Versen wird eine Spur der geistigen Welt Hermlins erkennbar, zu den Symbolisten und Surrealisten, zu Mallarmé, Apollinaire, Aragon - an den er im Mai 1945 einen Offenen Brief schrieb, um dessen Forderung, man solle den Deutschen die französische Kunst entziehen, zu konfrontieren mit der Tatsache, dass sie beide den gleichen Feind hatten, den deutschen Faschismus.

Eine ähnliche Neigung, auch bei anderen vorhanden wie bei Johannes R. Becher, galt der Barockdichtung, einer Dichtung aus Zeiten des Krieges und der Schmerzen. Schmerzen musste er in seinen schlimmsten Ausprägungen in Faschismus und Exil erleben und sah sich stellvertretend für die Betroffenen: "Jeder ist der Schatten aller" hieß es in dem Gedicht "Die Waffen des Schmerzes" von Éluard, übersetzt von Hermlin.

Seine Gedichte und seine Übersetzungen sind sprachliche Kunstwerke und politische Dokumente. Krieg und Exil sind entscheidende Themen. Zu oft allerdings wurde Hermlins Schaffen auf diese Themen beschränkt, aber es war umfangreicher durch geistige Landschaften von der Antike bis ins Alte Testament. Erweitert wurde die poetische Welt durch Hoffnungsschimmer auf Frieden und neues Gestalten; es wurde von ihm hymnisch gewürdigt:

"Wir haben ja nur begonnen /
Wie wird erst die Zukunft sein: /
Strahlend wie zaubrische Sonnen, /
Würzig wie dunkler Wein ..."
("Mansfelder Oratorium", 1950).

Es war bewundernswert, wie Hermlin das vom Symbolismus und Surrealismus beeinflusste lyrische Material für die neuen Themen aufbereitete. Andere Vorbilder begleiteten ihn dabei, vor allem Hölderlin. Immer wieder wurden Gegensätze wie Licht und Dunkel, Tod und Freiheit, Klage und Gesang zum Spannungsraum, in dem sich lyrisches Geschehen vollzog. So kann man durch seine Gedichte lesend wandern; sie bilden eine Einheit, gegliedert durch Metaphern und Bildwelten, oft auch durch strukturelle Gemeinsamkeiten wie die "Zwölf Balladen von den Großen Städten", Hermlins erste Sammlung, Zürich 1945. Er trat als ein Fertiger vor sein Publikum, ernsthaft und hymnisch überhöhend, von strengem Formbewusstsein und feierlichem Pathos, ohne manieriert zu wirken, geschult an poetisch herausragenden, aber oft vernachlässigten Traditionen, zu denen auch Musik und bildende Kunst zu rechnen sind. Hinweise in seinen Werken sind zahlreich; 1954 schrieb er z. B. das Libretto für einen Beethoven-Film. Nicht jeder akzeptierte seine Traditionen, seine Formenstrenge und sein Traditionsbewusstsein. 1962 schrieb Paul Wiens im "Neuen Deutschland" ein poetisches Porträt "Stephan Hermlin", das mit der "Moral" endete: "Oh, Friedensbote, den ich gern erspähe - / ein wenig näher Deine ferne Nähe!"

Vor 100 Jahren wurde Rudolf Leder in Chemnitz geboren; aus einem anfangs begüterten jüdischen kunstinteressierten Elternhaus stammend. Lovis Corinth malte die Eltern, Max Liebermann mehrfach die Mutter. Nach 1924 hatte die Familie wirtschaftliche Probleme: Der Vater ließ seine bedeutende Sammlung von Kunstwerken versteigern. Sechzehnjährig wurde aus dem literaturinteressierten Rudolf Leder der Dichter Stephan Hermlin, der Vorname ließ bei ihm an Stefan George und an Stephane Mallarmé denken, der Nachname an den kostbaren Hermelin im Gegensatz zum profanen Leder. Geistige Weltoffenheit war eines seiner Merkmale; es brachte ihn oft in Widerspruch zu starrköpfigen Politikern, öffnete jedoch, etwa in seiner Rede auf dem V. Schriftstellerkongress 1961, den Blick des Publikums für Musil und Kafka, für Faulkner und Karl Kraus. Seine überragenden Kenntnisse waren eine Voraussetzung für den Übersetzer Hermlin; die Namen der von ihm Nachgedichteten - Paul Éluard, Pablo Neruda, Nazim Hikmet, Attila Jószef, Mohamed Kamal, amerikanische Volksdichtung - sind Ausweis seiner politischen Haltung. In der DDR wurde er drei Mal mit dem Nationalpreis gewürdigt und erhielt andere Auszeichnungen; er vertrat auf die sozialistische Literatur der DDR international, so seit 1976 als Vizepräsident des internationalen PEN. Andererseits zog er sich Ende der fünfziger Jahre vom offiziellen Literaturbetrieb weitgehend zurück und widmete sich speziellen literarischen Entwicklungen: Am 12. Dezember 1962 war er mit der Lesung "Junge Lyrik. Unbekannt und unveröffentlicht" in der Akademie der Initiator der legendären Lyrikwelle, die auf eine junge Lyrik wie die Volker Brauns, Sarah und Rainer Kirschs und anderer, aufmerksam machte, ihm selbst aber Kritik, Verdruss und Verurteilungen eintrug: Er verlor seine Funktionen als Sekretär der Sektion Dichtkunst und im Vorstand des Schriftstellerverbands. Aber Hermlin wusste immer zwischen dem gesellschaftlichen Ziel und aktueller Beschränkung zu unterscheiden. In einem Brief vom 25. Oktober 1961 schrieb er an den westdeutschen Theaterhistoriker Klaus Völker: "Sollte man den Sozialismus aufgeben, weil in ihm Dummköpfe und Engstirnige auftreten? Wie lautet die Alternative zum Sozialismus? Sie lautet Barbarei."

1979 löste das Buch "Abendlicht" eine Welle der Bewunderung und der Deutungsversuche aus. Die klare Diktion erregte Aufsehen, die Beschreibung eines Weges zu Literatur und kommunistischer Grundhaltung faszinierte. Es gab einen autobiografischen Hintergrund, ohne dass es eine Autobiografie war. Nicht Individuelles, sondern Grundsätzliches der historischen Entwicklung wurde beschrieben. Kronzeugen von C. D. Friedrich bis zu Robert Walser, Rilke und Gerhart Hauptmann wurden angerufen, um diesen Weg zu erklären. Erinnerung vollzog sich als Erinnerung an Bilder. Ich schrieb damals: Man "hat dennoch stets das Gefühl, nicht alles über diese Lebensetappen zu wissen". Doch war nicht zu ermessen, wozu dieses Buch später dienen sollte. 1981 initiierte Hermlin die "Berliner Begegnung zur Friedensförderung", deren Sinn allein das Treffen deutsch-deutscher Schriftsteller in einer Zeit der Hochrüstung war, wie Hermlin erklärte: "Das Ziel dieser Begegnung liegt also in ihr selbst, in ihrem Stattfinden, in der Herstellung von Vertrauen, das zu weiteren Begegnungen führen sollte." Hermlin war in allen Handlungen ein sachlicher und klar denkender Kopf; deshalb kam es auch zu Spannungen zwischen ihm und der Staatsführung, ob in seiner Haltung zu Prag 1968 oder zur Ausbürgerung Biermanns oder im Umgang mit einzelnen Schriftstellern. Nur eines seiner Werke soll noch genannt werden, weil es Hermlins ästhetisches Programm beeindruckend nachlesbar macht, sein "Deutsches Lesebuch. Von Luther bis Liebknecht" (1976).

Kurz vor seinem Tod 1997 erlebte er, wie sein Leben und Schaffen in Frage gestellt wurde: Der "Literaturexperte" Corino fand bei Hermlin, was man bei jedem Autor findet, Unterschiede zwischen Kunstwerk und Autobiografie. Doch bezog er die Unterschiede aus Hermlins "Abendlicht", das keine Autobiografie ist. Er löste 1996 eine Kampagne aus, um, nach dem Literaturstreit um Christa Wolf, einen weiteren führenden Dichter des Ostens zu diskreditieren. Seine erste Veröffentlichung erschien am 4. Oktober 1996, angemessen in der "Zeit" für den "Tag der Deutschen Einheit", die Eröffnung der Frankfurter Buchmesse und als Ausweis, was für einen Wert Literatur und ihre Vertreter in diesem Land haben. Ein Buch folgte. Deutlich reagierte auch "unsere zeit" darauf (vgl. "Hermlin, Poesie und die Wahrheit des Karl Corino", UZ vom 18. 10. 1996) und prophezeite, die Ehre eines "Falles Corino" sollte dem Verfasser nicht werden. Der eigentliche Grund seiner Sensationshascherei unterlief Corino bei einer seiner vielen Rechtfertigungen gegen die zahlreichen Gegenmeinungen: Er beschrieb sich im "Tagesspiegel" vom 23. Oktober 1996 als "arglosen Menschen", der Hermlins Mythen geglaubt habe, auch dass er "seine Klasse, die Großbourgeoisie, verriet". Dass ein Dichter dieser Herkunft Kommunist wurde, musste gesühnt werden, und Corino vollzog das Urteil. Nur: Wer spricht noch über Corino? Und: Geblieben ist ein mächtiges literarisches Werk des deutschen Dichters Stephan Hermlin, der nie einen Zweifel daran ließ, den Sozialismus zu wollen. Bleiben wird auch das von ihm herausgegebene "Deutsche Lesebuch", in dem er "deutsche Stimmen des Humanen" vereinigte, oberster Grundsatz seines Dichtens und Kämpfens.

*

Quelle:
Unsere Zeit (UZ) - Zeitung der DKP, 47. Jahrgang, Nr. 14 vom 3. April 2015, Seite 11
Herausgeber: Parteivorstand der DKP
Anschrift von Verlag und Redaktion:
Hoffnungstraße 18, 45127 Essen
Telefon 0201 / 22 54 47
E-Mail: redaktion@unsere-zeit.de
Internet: www.unsere-zeit.de
 
Die UZ erscheint wöchentlich.
Einzelausgabe: 2,80 Euro
Jahresbezugspreise:
Inland: 126,- Euro, Ausland: 130,-
Ermäßigtes Abo: 72,- Euro
Förder-Abonnement: ab 150 Euro


veröffentlicht im Schattenblick zum 9. April 2015

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang