Schattenblick → INFOPOOL → DIE BRILLE → FAKTEN


AUTOREN/060: Peter Weiss - Der Schriftsteller des Widerstands (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 11/2016

Der Schriftsteller des Widerstands
Zum 100. Geburtstag von Peter Weiss

Von Hanjo Kesting


Der Schlüssel zum Werk von Peter Weiss findet sich in einem kleinen Text mit dem Titel Meine Ortschaft, darin der Satz: "Es ist eine Ortschaft, für die ich bestimmt war und der ich entkam (...) zum besseren Verständnis der dort Werksamen und Ansässigen wurde ihr Name verdeutscht." Auschwitz war der reale Fluchtpunkt dieses Schriftstellerlebens und der imaginäre seiner spirituellen Autobiografie. Ohne Bezug auf Auschwitz kann kaum etwas von dem verstanden werden, was Peter Weiss geschrieben hat.

Der Sohn eines jüdischen Textilfabrikanten wuchs in Bremen und Berlin auf. 1934 emigrierte die Familie nach London, 1936 zog Weiss nach Prag, wo er an der Kunstakademie studierte, und emigrierte 1939 über die Schweiz nach Schweden, wo er zunächst in der Textilfirma des Vaters und als bildender Künstler arbeitete. 1942 konnte er zum ersten Mal seine Bilder ausstellen. 1946 erwarb er die schwedische Staatsbürgerschaft, 1952 begann die bis zu seinem Tod dauernde Lebensgemeinschaft mit der Bühnenbildnerin Gunilla Palmstierna. Und Stockholm, der Ort des Exils, blieb auch in den folgenden 30 Jahren, bis zu seinem Tod im Mai 1982, sein Wohnort.

Im literarischen Schaffen Weiss' lassen sich vier Perioden unterscheiden. Die erste Periode umfasste die Jahre 1947-1952, in denen er noch unsicher zwischen den Künsten und Sprachen schwankte, auf der Suche nach sich selbst und seinen künstlerischen Ausdrucksformen. Zunächst gab er der Malerei den Vorzug, danach stand die Filmarbeit im Vordergrund, zumal die in Schwedisch geschriebenen Bücher ohne Resonanz blieben. Aber daneben entstanden bereits erste Theatertexte in deutscher Sprache. Weiss' Arbeiten aus dieser Zeit sind voller Symbole, Traummotive, surrealer Bilder, sprechen mit düsterer Beharrlichkeit von der Verlorenheit und Fremdheit in der Welt und geraten in subjektivistischer Reduktion an die Grenze der Kommunizierbarkeit.

Im literarischen Salon

Die erste Periode wurde abgeschlossen von dem 1960 publizierten "Mikro-Roman" Der Schatten des Körpers des Kutschers, der durch minuziöse Beschreibungen die poetischen Chimären und die Kindheitspsychosen zu bannen suchte. "Mit diesem verblüffenden Titel", schrieb Wolfgang Koeppen, "kam der bis dahin unbekannte Dichter, ansprechend und anspruchsvoll, in den exklusivsten literarischen Salon". Hans Magnus Enzensberger wusste zu berichten, dass das Buch auf den Schreibtischen der fortgeschrittensten Prosaisten lag.

Für Weiss war der Text aber nur Durchgangsstation von den "Symbolen" zu den "Tatsachen". Der Erfolg des Buches bestärkte ihn in seiner Hinwendung zur Literatur und eröffnete eine zweite Periode mit autobiografischen Büchern, der Erzählung Abschied von den Eltern und dem Roman Fluchtpunkt (1962). Veranlasst durch den Tod seiner Eltern, unternahm der Autor den Versuch einer rigorosen Aufarbeitung seiner Kindheit und Jugend sowie der Emigrationszeit 1934-1947. Anders als in den frühen Texten der Ort- und Perspektivlosigkeit wurden nun Elternhaus und Gesellschaft als Ursachen der eigenen Fremdheitserfahrung erkannt. Menschliche Kommunikation, soziale Teilnahme und politischer Gestaltungswille waren zwar noch nicht die zentralen Themen dieser Bücher, erwiesen sich aber bald als notwendige Konsequenz der Auseinandersetzung mit sich selbst. Fluchtpunkt endet mit den Worten: "An diesem Abend, im Frühjahr 1947, auf dem Seinedamm in Paris, im Alter von dreißig Jahren, sah ich, dass ich teilhaben konnte an einem Austausch von Gedanken, der ringsum stattfand, an kein Land gebunden." Doch benötigte Weiss von da an noch 15 Jahre, um diese Erfahrung zur Sprache zu bringen.

Den Wendepunkt auf dem Weg von der Innerlichkeit zur Weltaneignung markierte 1964 ein Theaterstück, das Weiss sogleich berühmt machte: Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade, uraufgeführt im April 1964 am Berliner Schillertheater. Das Stück spielt 1808 im Irrenhaus zu Charenton, in dem der inhaftierte Marquis de Sade mit den Insassen der Anstalt die Geschichte der Ermordung des Revolutionärs Marat im Jahr 1793 aufführen lässt. In Sade und Marat stehen sich radikaler Individualismus und revolutionärer Aktivismus gegenüber, beide in sich konsequent und schlüssig artikuliert. Zwischen den Polen ihres Disputs vollzieht sich auf verschiedenen Zeit- und Spielebenen das große bühnenwirksame Welt- und Geschichtstheater, gipfelnd in den leiblichen Exzessen eines Theaters der Grausamkeit. Stilelemente vom Bänkelsang bis zur Oper, von der Pantomime über das absurde Theater bis zur klassischen Tragödie und dem traditionellen japanischen Kabuki-Spiel sind in bilderbogenartiger Collage zusammengefügt. Marat/Sade war nur scheinbar ein historisches Stück, vor dem politischen Hintergrund der Entstehungszeit erwies es sich bald als brisantes Zeitstück. Doch wurde der Konflikt zwischen dem sozial indifferenten Zyniker Sade und dem revolutionären Volksfreund Marat nicht aufgelöst, da die großen Gegenspieler auf der dritten, theatralischen Ebene als Irre vorgestellt und von Irren gespielt werden. Weiss hat die Vieldeutigkeit des Stücks durch spätere Textfassungen und nachträgliche Interpretationen zugunsten des politischen Visionärs Marat einzugrenzen versucht. Doch war das Strukturprinzip, das Marat von dem Marquis de Sade als dem fiktiven Regisseur des Spiels abhängig zeigt, ebenso wenig aufzulösen wie der sinnbildliche Spielort der Irrenhauswelt.

Der Weg zum Engagement

Weiss drängte es jetzt immer stärker zu politischem Engagement und eindeutiger Stellungnahme zugunsten einer sozialistischen Gesellschaft. Für seine dritte Schaffensperiode 1963 bis 1971 bedeutete das die Abkehr vom totalen Theater à la Marat/Sade und Hinwendung zum dokumentarischen Theater. Die Gefahr theatralischer Verarmung wurde bewusst in Kauf genommen. Weiss' nächstes Stück, das Oratorium Die Ermittlung, 1965 wieder in Berlin uraufgeführt, war eine szenische Dokumentation des Frankfurter Auschwitz-Prozesses, wobei der auf dem Theater kaum darstellbare Stoff mit den Mitteln dramatischer Stilisierung und liturgischer Überhöhung vergegenwärtigt wurde.

Die Stücke der Folgezeit handelten von literarisch-politischem Widerstand: der Gesang vom Lusitanischen Popanz vom Widerstand gegen kolonialistische Ausbeutung am Beispiel Angolas; der Viet Nam Diskurs vom Widerstand gegen Amerikas Krieg in Südostasien; Hölderlin vom Widerstand des Dichters, der sich in den Wahnsinn zurückzieht. Und auch der Protagonist von Trotzki im Exil ist ein Mann des Widerstands, der in wütender Dialektik die Aporien der Revolution durchdenkt und die Frage, was höher zu stellen sei: der Mensch oder die Idee. Weiss stellte sich nicht auf Trotzkis Seite und beschrieb ihn als gefährlichen Renegaten, doch indem' er ihn auf die Bühne brachte, brach er das Tabu, das den einstigen Organisator der Roten Armee in der kommunistischen Welt zur Unperson gemacht hatte. Man hat es Weiss in den Ländern des realen Sozialismus verübelt, so wie man im Westen dem Schriftsteller des Widerstands verübelte, dass er noch immer seine Hoffnung auf den realen Sozialismus setzte.

Im letzten Lebensjahrzehnt schrieb Weiss den dreibändigen Roman Die Ästhetik des Widerstands als Hauptwerk und Summe seines literarischen Schaffens. Der Roman war der großangelegte Versuch, die historische und gesellschaftliche Erfahrung der gesamten Epoche, ihre ästhetischen und politischen Erkenntnisse noch einmal in epischer Totalität darzustellen. Weiss entwarf darin nicht nur ein Gesamtbild der europäischen Linken zwischen 1917 und 1945, er führte auch eine schonungslose Auseinandersetzung mit linker Theorie und Praxis. Er zeigte die Spannungen von Reformismus und Revolution, Sozialdemokratie und Kommunismus, Stalinismus und Trotzkismus, von reiner Lehre und praktischer Politik, er beschrieb die Klassenkämpfe der Weimarer Republik, den Spanischen Bürgerkrieg, Zersplitterung und Selbstzerfleischung der Linken, den Widerstand gegen den Nationalsozialismus und das Elend der Emigration, den Kampf um die Einheit und den Zerfall des Internationalismus. Und er gab dieser gewaltigen Passionsgeschichte noch einmal den Glanz einer verheißungsvollen Vision.

Doch neben der Geschichte der Klassenkämpfe handelt der Roman auch von der Geschichte der Kunst, die in großen Beschreibungen des Pergamonaltars und der Tempel von Angkor Wat über Théodore Géricaults "Floß der Medusa" bis zu Pablo Picassos "Guernica" entfaltet wird. Weiss wollte die Kunst als kollektives Gedächtnis der Menschheit nicht vom revolutionären Prozess der Befreiung abtrennen; für ihn vollendete sich der politische Kampf erst in der kulturellen Revolution. So war der Roman auch ein Epitaph auf die Arbeiterbewegung in der Epoche des Faschismus, eine Beschreibung des Zeitalters aus seinen Ruinen.

Der Widerstand des Werkes

Nach dem Tod des Autors wurde Die Ästhetik des Widerstands zum Kultbuch der westdeutschen Linken, verschwörerhaft gelesen in Seminaren und Zirkeln, ausgelegt als Bibel eines wahren, zeitgemäßen, von allen historischen Übeln gereinigten Sozialismus. Unterdessen leuchtete am Himmel des realen Sozialismus bereits die Abendröte einer zum Untergang verurteilten Gesellschaft. Peter Weiss hat diesen Untergang nicht mehr erlebt. Doch ist sein Werk auch postum von diesem Untergang tiefer und stärker betroffen als das Werk anderer Schriftsteller. Denn was bleibt von der Ästhetik des Widerstands, wenn die Utopie zerschellt ist? Was bleibt vom Widerstand des Schriftstellers, wenn er, schmerzhafter denn je, seine Ohnmacht erfährt? Peter Weiss wollte sich mit der Rolle des ohnmächtigen Zuschauers nicht begnügen; er hielt, um eine Formulierung Sartres aufzugreifen, "seine Feder für ein Schwert". Nochmals: Was bleibt von seinem Widerstand? Es bleibt nicht der revolutionäre Elan, nicht der rousseauische Optimismus, nicht der Traum vom irdischen Paradies, nicht das selbstkritische Manöver, die Kunst der Moderne im Nachhinein für eine Linke zu reklamieren, die dieser Moderne misstraute und sie nicht selten bekämpfte. Vom Widerstand des Schriftstellers bleibt: sein Werk. Das Werk in seiner Offenheit, seinem Moralismus, seinem Ernst und dem Verlangen, doktrinäre Muster abzubauen. Die Kunst sei das Mittel, heißt es in der Ästhetik des Widerstands, die Starre der politischen Institutionen aufzulösen und uns an die Vielfalt unserer Wahrnehmungen zu erinnern. In diesem Sinn kann das Werk von Peter Weiss, dessen Geburtstag sich am 8. November zum 100. Mal jährt, jetzt neu gelesen werden. Viel bleibt darin zu entdecken.

Peter Weiss: Die Ästhetik des Widerstands. Suhrkamp, Berlin 2016, 1.199 S., 38 EUR. - Birgit Lahann: Peter Weiss. Der heimatlose Weltbürger. J.H.W. Dietz Nachf., Bonn 2016, 336 S., 24,90 EUR. - Werner Schmidt: Peter Weiss. Biografie. Suhrkamp, Berlin 2016, 461 S., 34 EUR.


Hanjo Kesting ist Kulturredakteur dieser Zeitschrift. Zuletzt erschien bei Wallstein seine dreibändige Studie Große Romane der Weltliteratur.

*

Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 11/2016, S. 50 - 53
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von
Kurt Beck, Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht (†), Jürgen Kocka,
Thomas Meyer, Bascha Mika, Angelica Schwall-Düren und Wolfgang Thierse
Redaktion: c/o Friedrich-Ebert-Stiftung
Hiroshimastraße 17, 10785 Berlin
Telefon: 030/26 935-71 51, -52, -53, Telefax: 030/26935 9238
E-Mail: ng-fh@fes.de
Internet: www.ng-fh.de
 
Die NG/FH erscheint zehnmal im Jahr (Hefte 1+2 und 7+8 als Doppelheft)
Einzelheft: 5,50 Euro zzgl. Versand
Doppelheft: 10,80 Euro zzgl. Versand
Jahresabonnement: 50,60 Euro frei Haus


veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Dezember 2016

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang