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AUTOREN/066: Hölderin, ein Leben voller enttäuschter Erwartungen (UZ)


UZ - Unsere Zeit, Nr. 12 vom 20. März 2020
Sozialistische Wochenzeitung - Zeitung der DKP

Unlebbares Leben. Kein Ort. Nirgends.

Hölderin, ein Leben voller enttäuschter Erwartungen

Von Herbert Becker


Am 20. März 1770, genau vor 250 Jahren, wurde Friedrich Hölderlin in Lauffen am Neckar geboren. Der Vater war Klosterhofmeister, starb aber bereits, als der Junge zwei Jahre alt war. Seine Mutter heiratete schnell wieder, diesmal Johann Christoph Gok, einen Weinhändler und bis zu seinem frühen Tod Bürgermeister in Nürtingen. Beide Städtchen gehörten zum Herzogtum Württemberg, Herzog Carl Eugen war ein absolutistischer, despotischer Herrscher, der keine freie Meinungsäußerung und Opposition duldete, ein typischer Vertreter seiner Klasse in dieser Zeit. Die Art seiner Regierung wurde auch in den frühen Werken des 1759 in Marbach geborenen Friedrich Schiller reflektiert.

Dem Wunsch der Mutter gehorchend, ging Hölderlin 1788 in das Tübinger Stift, einen vom Herzog durch Stipendien geförderten Teil der Universität Tübingen. Hier wurde der Nachwuchs für den Staatsdienst oder für die protestantische Landeskirche ausgebildet. Hölderlins enge Studienfreunde waren Hegel und Schelling, sie hörten Vorlesungen in Philosophie, Geschichte, Rechtskunde und den schönen Künsten, Hölderlin lernte nebenbei das Flötenspiel.


Die französischen Zustände

Es gärte besonders in den Kreisen der jungen Intelligenz, die Nachrichten von den Ereignissen in Frankreich, besonders in Paris, kamen schnell über den Rhein. Überliefert ist, dass die Studenten nach dem Sturm auf die Bastille einen "Freiheitsbaum" vor dem Stiftsgebäude aufrichteten und "neuartige" Lieder sangen. Der Herzog zeigte sich erbost und ließ die Unruhestifter für einige Zeit in den Karzer sperren.

Die Magisterarbeit von Hölderlin ist erhalten geblieben, 1790 schrieb er eine kurze "Geschichte der schönen Künste unter den Griechen". Neben dem Studium gehörten Fechtunterricht, Reiten und Schwimmen zum Lehrplan, man muss sich Hölderlin als kräftigen, durchtrainierten und wohlgebauten jungen Mann vorstellen, ganz im Gegensatz zu dem Bild vom ätherisch über den Wolken schwebenden, keinen Boden unter den Füßen habenden Schöngeist, der lange gepflegten und gewünschten Vorstellung seiner späteren Bewunderer. 1793 macht Hölderlin seinen Abschluss in Tübingen, dem Wunsch der Mutter, Theologe und Priester zu werden, verweigert er sich. Er verdingt sich, wie viele seiner Freunde, als sogenannter "Hauslehrer" in Waltershausen bei Charlotte von Kalb. Hegel geht nach dem Studienabschluss im selben Jahr als Hauslehrer nach Bern.

"So kam ich unter die Deutschen. Ich forderte nicht viel und war gefaßt, noch weniger zu finden." (aus: Hyperion)  


Wohin der Weg?

Der Wunsch, sich literarisch auszudrücken, war früh gebildet worden, Briefe an den Bruder und an Freunde bestätigen schon seit 1785 diesen Antrieb. Erhalten ist, neben frühen Gedichten und Entwürfen, das 1794 geschriebene Fragment des "Hyperion" in erster Fassung, in der damals oft genutzten Form des Briefromans erscheint es dann endgültig 1797 bei Cotta, dem damals wichtigsten Verlag in Deutschland. Hölderlin war unschlüssig, was aus ihm werden sollte, so ging er 1795 nach Jena. Die dortige Universität war das Mekka der Geisteswissenschaften, besonders der Philosophie. Hier lehrte Fichte, dessen Betonung der Priorität des Individuellen, der Ich-Bildung und der von ihm so formulierten "Tathandlung" war die logische Weiterentwicklung der Philosophie nach dem von allen verehrten Immanuel Kant und den französischen Ereignissen. In dieser Zeit schrieb Hölderlin den als Fragment erhaltenen Text "Urtheil und Seyn", der neben einem gemeinsamen Text von Hegel und Hölderlin, bezeichnet als "Systemprogramm des deutschen Idealismus", als Ursprung der neueren Philosophie genannt werden kann. Diese Texte entstanden im regen Briefaustausch und bei persönlichen Treffen der Freunde Hegel und Hölderlin. Während Hegel den beruflichen Schritt in die Universitätslaufbahn als Philosoph wagte, nahm Hölderlin, enttäuscht vom universitären Betrieb, eine neue Stelle als Hauslehrer in Frankfurt an.

Lebenslauf

Größeres wolltest auch du, aber die Liebe zwingt
All uns nieder, das Leid beuget gewaltiger,
Doch es kehret umsonst nicht
Unser Bogen, woher er kommt.

Aufwärts oder hinab! herrschet in heiliger Nacht,
Wo die stumme Natur werdende Tage sinnt,
Herrscht im tiefsten Orkus
Nicht ein Grades, ein Recht noch auch?

Dies erfuhr ich. Denn nie, sterblichen Meistern gleich,
Habt ihr Himmlischen, ihr Alleserhaltenden,
Dass ich wüsste, mit Vorsicht
Mich des ebenen Pfads geführt.

Alles prüfe der Mensch, sagen die Himmlischen,
Dass er, kräftig genährt, danken für Alles lern,
Und verstehe die Freiheit,
Aufzubrechen, wohin er will.


Die große Liebe

Der Bankier Jakob Gontard wünschte sich zwar einen gebildeten jungen Mann für seine beiden Kinder, gerne auch die Teilnahme an abendlichen Hauskonzerten und Soireen, aber was dann geschah, sah der reiche Geldkaufmann wohl nicht kommen. Seine Ehefrau, Suzette Gontard, deutlich jünger als der Bankier, war unglücklich in dieser Beziehung. In Hölderlin fand sie anfangs nur einen Vertrauten, aber bald ging ihr Verhältnis in eine schwierige, ständig von Heimlichkeit begleitete Liebesbeziehung über. Im nächsten Jahr schickte der Bankier ob auf Frankfurt heranrückender französischer Truppen seine Familie ins Westfälische. In Bad Driburg in der Nähe von Paderborn erlebten Hölderlin und Suzette Gontard das, was Hölderlin den "schönsten Sommer seines Lebens" nennen würde. In dieser Zeit und nach der Rückkehr nach Frankfurt schrieb er die wohl schönsten Liebesgedichte, die wir kennen. Er nennt seine Geliebte "Diotima" nach den platonischen Texten der Griechen, kaum verschlüsselt, denn Hölderlin war zuversichtlich, dass er mit Suzette eine Zukunft haben könne. Wie der Bankier dahinterkam, ob durch Gerüchte über die Zeit in Bad Driburg, ob er Zettel und Entwürfe fand, bleibt unklar, er schmiss nach einem heftigen Auftritt seinen Bediensteten raus. Hölderlin blieb in der Nähe, lebte bei seinem Freund, dem Regierungsbeamten Isaac von Sinclair, in Bad Homburg, sah heimlich alle zwei Wochen Suzette an Gartenzäunen und hinter Büschen. Erhalten sind Briefe und kurze Zeilen zwischen den beiden, sie zeigen, wie sehr beide litten, aber keine wildromantischen Ideen von Flucht und Auswanderung hatten. Hölderlin stürzt sich in neue, lang gehegte Projekte, er schreibt das Drama "Der Tod des Empedokles", die großen "vaterländischen Gesänge", er beginnt neue Übersetzungen griechischer Werke, besonders von Pindar, zu schreiben. Durch das väterliche Erbe halbwegs abgesichert, hält er durch, bis er Ende 1801 nach Bordeaux in Südfrankreich geht (im Wortsinn), um dort als Hauslehrer bei dem deutschen Konsul zu beginnen. Im Frühling des nächsten Jahres erfährt er, dass seine geliebte Suzette auf den Tod liegt, überstürzt jagt er zurück nach Frankfurt, ob er sie noch einmal hat sehen und sprechen können, bleibt unklar.


Zusammenbruch

Er erleidet einen heftigen Zusammenbruch, Sinclair schützt ihn und Hölderlin scheint wieder zurechtzukommen. Dann erlebt er 1805, dass sein Freund verhaftet und des Hochverrats angeklagt wird, er befürchtet, selbst als "Jakobiner" bezichtigt zu werden, flieht in einem völlig "zerrütteten" Zustand nach Nürtingen zur Mutter. Das letzte Dokument dieser Zeit ist ein wenig beachteter Text, der auf den ersten Blick chaotisch wirkt. Dabei macht er deutlich, dass Hölderlin an seiner "Poetik der Gegensätze" nicht nur festhält, sondern sie zum äußersten Extrem treibt. Der Text "Die Apriorität des Individuellen über das Ganze" macht das Dilemma des deutschen Idealismus noch einmal schlagend deutlich, die Hegelsche Schranke seiner Dialektik, die Aufhebung der Widersprüche sei nur im Denken möglich, aber nicht in gesellschaftlicher Praxis. Die ganze Subjekt-Objekt-Beziehung stößt auf die selbstgewählte Beschränkung auf das Reich der Gedanken. Der so formulierte "unendliche Mangel an Sein" mit dem logischen Schluss der idealistischen Philosophie, damit sei auch das Ende des Geschichtsprozesses gegeben, war Hölderlin schmerzhaft bewusst, dieser letzte Text versucht, die Leere zu überwinden.

Ob Hölderlin in diesem, ihn so belastenden Zustand, über diese Schranke hinauswollte, ob er tatsächlich die Hoffnung hegte, ein "Denken als Poesie" sei nicht nur möglich, sondern notwendig, verschließt sich uns. Die Mutter weiß nichts mit ihrem Sohn anzufangen, lässt ihn zwangsweise in die Autenriethsche Klinik in Tübingen einliefern, wo die fürchterlichen Methoden einer "Behandlung" den Kranken endgültig aufgeben lassen. Hölderlin zieht sich völlig zurück, nach außen wirkt er zwar oft ruhig, aber Zorn- und Wutausbrüche sind nicht selten. Ab 1807 findet er Aufnahme im Haus der Familie Zimmer, er bezieht eine kleine Wohnung im angebauten "Turm", direkt am Neckar gelegen und von einem schönen Garten umgeben. Alle Schilderungen der Familie, erhalten geblieben durch die vierteljährlichen Abrechnungen für Kost und Logis gegenüber der Mutter, zeigen einen im Hause friedlich lebenden, freundlichen Mann, der froh ist, als man ihm ein kleines Piano ins Zimmer bringt, der mit den Kindern und den anderen Hausgästen einen aufmerksamen Kontakt pflegt. Nur wenn Fremde kommen, zieht er sich in ein Verhalten zurück, das die so gerne gepflegte Vorstellung des "genialisch Wahnsinnigen" fördert. Er legt eine übertriebene Höflichkeit an den Tag, schreibt auf Wunsch gerne kleine Gedichte und Epigramme, unterzeichnet sie aber mit aberwitzigen Zeitangaben und nicht mit seinem Namen. So hält er sich die Menschen vom Leib, auch seine Mutter und die Geschwister, die er nicht sehen will und mit kurzen Wünschen als Beilage zu den Rechnungen der Familie Zimmer abweist.


Zugang finden

Peter Weiss hat in seinem leider viel zu selten gespielten Theaterstück "Hölderlin" eine fiktive Szene an den Schluss gestellt, die auch als Zugang für heutige Leser von Nutzen sein kann, die die Bekanntschaft mit dem Dichterphilosophen suchen. Weiss lässt den jungen Karl Marx, Redakteur der "Rheinischen Zeitung", zu Besuch beim über 70-jährigen Hölderlin in Tübingen auftreten. Er lässt Marx sagen: "Zwei Wege sind gangbar zur Vorbereitung grundlegender Veränderungen. Der eine Weg ist die Analyse der konkreten historischen Situation. Der andre Weg ist die visionäre Formung tiefster persönlicher Erfahrung." Und weiter Marx: "Vor Ihnen stelle ich die beiden Wege als gleichwertig hin. Dass Sie ein halbes Jahrhundert zuvor die Umwälzung nicht als wissenschaftlich begründete Notwendigkeit, sondern als mythologische Ahnung beschrieben, ist Ihr Fehler nicht." Hölderlin wird unruhig, erregt und ungeheuer angespannt und spricht auf seine Art: "O diese blendende Helle in diesem Zimmer, bedenken Sie, dass sie dem Träumenden in tiefster Finsternis entsteht. Und diese Stille, unvorstellbar, wie sie aus Donnern tosend sich hat aufgelagert von UrZeiten an bis zum morgigen Tag."

Hölderlin stirbt, ein kleiner Husten, mehr nicht. Er geht im Turmzimmer auf und ab, er meint, eine "Bangigkeit" zu spüren, er schläft am 7. Juni 1843 im Alter von 73 Jahren im Sessel ein.

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Quelle:
Unsere Zeit (UZ) - Zeitung der DKP, 52. Jahrgang,
Nr. 12 vom 20. März 2020, Seite 11
Herausgeber: Parteivorstand der DKP
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. März 2020

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