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PREIS/130: Der neue Literaturpreis "Von Autoren für Autoren" (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 5/2011

Dem Reinheitsgebot verpflichtet
Der neue Literaturpreis "Von Autoren für Autoren"

Von Eckhard Fuhr


Zum ersten Mal wurde der Lübecker Literaturpreis verliehen. Ohne den sonst bei den zahlreichen Preisen üblichen Blick auf den Markt bleiben hier Dichter unter sich. Günter Herburger ist der aktuelle Preisträger.


"Lieber Günter Grass, ich danke sehr, dass ich den Lübecker Literaturpreis als Erster erhalte. Außerdem ehrt es mich, dass er von Dichtern für Dichter ausgewählt wurde. Wie sehr viel früher waltet dadurch eine Art Reinheitsgebot, das ist wunderbar..." (Günter Herburger).

Literaturpreise werden von Akademien, von Städten, von Rundfunkanstalten, von Stiftungen, von Unternehmen, vom Börsenverein des deutschen Buchhandels vergeben. In den Jurys sitzen Kritiker, Verleger, Professoren, Redakteure, Lektoren. Es soll in Deutschland schätzungsweise 1.500 Literaturpreise geben, die Stipendien und Stadtschreiberstellen eingerechnet. Nur einen aber gibt es, bei dem die Dichter unter sich bleiben. Er ist Ende Januar mit der Vergabe an Günter Herburger in Lübeck aus der Taufe gehoben worden, was, wie Oberbürgermeister Bernd Saxe in der traditionsgesättigten Kulisse des Scharbausaales der Stadtbibliothek frohlockte, die Stadt an der Trave für einen Moment zur literarischen Hauptstadt machte. Der Preis trägt tatsächlich den an einen biederen Werbeslogan erinnernden Namen "Von Autoren für Autoren" und soll künftig alle zwei Jahre immer dann verliehen werden, wenn der Thomas-Mann-Preis, den die Stadt zusammen mit der bayerischen Akademie der Schönen Künste vergibt, nicht in der Hansestadt, sondern in München vergeben wird. Unbeirrbar arbeiten Lübeck und seine Kulturstiftung an der Nachhaltigkeit ihrer Präsenz im literarischen Leben. Denn darauf zielt ja auch der neue Preis, auch wenn er stolz für sich reklamiert, eine Art Gegenprogramm zum Literaturbetrieb zu sein.

Mit dem Preis ist so etwas wie ein lübisches Reinheitsgebot auf dem Feld der Literatur ins Leben getreten. Es besagt, dass der Literaturbetrieb mit seinem ganzen umtriebigen und betreiberischen Personal aus Kritikern, Verlagsleuten, Agenten und Sponsoren von der Entscheidungsfindung ausgeschlossen bleibt. Es fiel in Lübeck auch das böse Wort von der "Kritikermafia". Kein Schielen auf den Literaturmarkt soll die reine literarische Denkungsart und den Geist ehrbaren Autorenhandwerks beeinträchtigen. Hier soll niemand "aufgebaut", hier sollen keine Stars kreiert, hier soll nicht zu buchhändlerischen Eroberungsfeldzügen geblasen werden. Ausgedacht haben sich das im Dachstübchen des Günter-Grass-Hauses die Teilnehmer des Lübecker Literaturtreffens, zu dem Grass seit 2005 jedes Jahr etwa zehn Schriftsteller der mittleren und jüngeren Generation einlädt, damit sie sich, abgeschirmt von der Öffentlichkeit, in einem Werkstattgespräch über ihre aktuellen Arbeiten austauschen können. In diesem Jahr nahmen Sherko Fatah, Olga Flor, Eleonora Hummel, Eva Menasse, Norbert Niemann, Knud Romer, Fridolin Schley, Jens Sparschuh und Tilman Spengler teil. Die letzten beiden deuten darauf hin, dass der Generationenbegriff bei dieser Auswahl ein weit gespreizter ist.

Nicht zufällig erinnert das Verfahren an die Gruppe 47 seligen Angedenkens, aber die Ähnlichkeit hat doch ihre Grenzen. Das Lübecker Treffen kann - und will auch gar nicht - in die politischen und literaturpolitischen Fußstapfen von Hans Werner Richters "ambulanter Hauptstadt der deutschen Literatur" treten. Über deren Repolitisierung wären zwar manche Teilnehmer nicht unglücklich. Im Vordergrund steht aber das Handwerkliche. Und eines will Günter Grass unter allen Umständen vermeiden: dass Kritiker und Verlagsmenschen die Vorherrschaft gewinnen. Das, sagt er, sei eine schlimme Fehlentwicklung der Gruppe 47 gewesen.


Dem Gedächtnis auf die Sprünge helfen

Allerdings: Das Traditionsbewusstsein stärken und dem kurzen Gedächtnis der literarischen Öffentlichkeit auf die Sprünge helfen, das will man in Lübeck schon. Deshalb wird der neue Preis - dessen Preisgeld die Teilnehmer selbst stiften, in diesem Jahr 7.500 Euro - ausdrücklich an Autoren der älteren Generation verliehen, die unverdient mehr oder weniger in Vergessenheit geraten sind. Auf die Wahl des Preisträgers, sagt Grass, nehme er keinen Einfluss. Zum Reinheitsgebot tritt also die Idee eines literarischen Generationenvertrages. Die Jungen oder noch nicht ganz so Alten geben denen etwas zurück, auf deren Schultern sie ruhten.

Im Falle Günter Herburgers trifft das Bild des Generationenvertrages nicht ganz, denn ein Dichter im Ruhestand ist er nicht. Vor kurzem ist der 78-jährige nach langen Jahren in München und im heimatlichen Allgäu, wo er 1932 in Isny geboren wurde, wieder nach Berlin gezogen. In der Hauptstadt hat er, wie er sagt, "ziemlich schnell" seinen neuen Gedichtband Ein Loch in der Landschaft geschrieben. In dem Gedicht "Hauptstadt" heißt es: "Am Spreeufer werden Sandschlösser gebaut, Kaiser haben nur drei Augen und kurze Hälse, falls sie bröckeln. Linnenweiße Gastronomie verteilt Datenhelme. Auf Bolzstreifen entstehen Galerien und ein kleines Trianon, die Trockenkinos der Kioske sind umzäunt". Und dann: "Ach, Vorpommern, Getreidefelsen, Wäsche im Korb, Radios spielen für Fräuleins im Turm." Wie aus den Kreidefelsen wohl die Getreidefelsen geworden sind? Mit solchen überraschenden Verfremdungen treibt Herburger immer wieder den Strom der Bilder voran und gibt ihm abrupte Wendungen. Unbeirrbar ist er unterwegs zu den abenteuerlichen Rändern der Sprache. "Wo Herburger auftaucht", sagte Tilman Spengler in seiner Laudatio, "da ist Bewegung" und nannte den Preisträger "einen erleuchteten Hasen".

2008 erschien von Herburger Der Kuss, 2004 Schlaf und Strecke, 2001 die Reise-Novelle Humboldt, eine Collage aus Fotos und Texten. Er dichtet und dichtet, könnte man sagen, vor allem aber muss man sagen: Er läuft und läuft, denn das Laufen, das Marathonlaufen, das Extremlaufen in den unwirtlichsten Gegenden dieser Welt, das ist seit 30 Jahren die Leidenschaft Herburgers und das zentrale Thema seiner Literatur. Doch seit er Anfang der 80er Jahre mit Lauf und Wahn das Genre der Laufliteratur, der Selbst- und Welterkundung im Lichte körperlicher Grenzerfahrungen begründete, lief er auch aus dem Lichtkegel der öffentlichen Wahrnehmung davon. Manchen fällt zu Herburger auch heute noch zuerst der Titel Die Eroberung der Zitadelle ein. Die 1972 erschienene Novelle wurde von Bernhard Wicki verfilmt: Deutscher Schriftsteller schlägt sich in Italien mit Gelegenheitsarbeiten durch und findet durch proletarische Schicksalsgenossen zum Kampf gegen die Ausbeuter. Herburger, der sich damals bei der DKP engagierte, schwamm kurze Zeit im Hauptstrom des intellektuellen Zeitgeistes, aber das war die kürzeste Etappe seines langen Laufes, auf dem es, so sagt er, beim Marathon wie bei der Literatur immer darauf ankomme, "über den Schmerz hinweg zu laufen".

Herburgers Werke erscheinen in sorgfältig gemachten Ausgaben im kleinen A 1 Verlag in München. In seiner Nische findet der Autor zu außergewöhnlicher und eigensinniger Produktivität. An ihm hat der Preis in idealtypischer Weise seinen Zweck erfüllt, in den Hintergrund getretene Stimmen der deutschen Literatur wieder zu mehr Resonanz zu verhelfen. Es muss sich nun zeigen, ob das Korsett der Preiskriterien nicht zu eng geschnürt ist. Auf Anhieb fallen einem nicht allzu viele Namen ein, die sie erfüllen - älter, ein wenig in Vergessenheit geraten, aber wichtig und interessant. Jürgen Becker etwa, der Jahrgangsgenosse Herburgers, wäre ein Kandidat. Soll, auch in Auflagen zu messender, literarischer Erfolg ein Ausschlusskriterium sein? Können also etwa Uwe Timm oder Friedrich Christian Delius den Preis "Von Autoren für Autoren" nie bekommen? Die Teilnehmer des Lübecker Literaturtreffens werden sicher nicht formalistisch an die Sache heran gehen. Sie werden ihre Lektüreerfahrungen wie ihre Lektürelücken befragen. Man darf auf den nächsten Preis-[träger gespannt sein.]


Eckhard Fuhr (* 1954) ist Korrespondent für Kultur und Gesellschaft der Zeitungen Die Welt und Welt am Sonntag. Zuletzt erschien im Berliner Taschenbuch-Verlag: Wo wir uns finden. Die Republik als Vaterland.

eckhard.fuhr@welt.de


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 5/2011, S. 67-70
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Siegmar Gabriel,
Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer und Peter Struck
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Juni 2011