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REZEPTION/021: Schiller und der Sinn der Geschichte (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 7-8/2009

"Unser sind alle Schätze..."
Schiller und der Sinn der Geschichte

Von Hanjo Kesting


"Unser menschliches Jahrhundert herbeizuführen haben sich alle vorhergehenden Zeitalter angestrengt. Unser sind alle Schätze, welche Fleiß und Genie, Vernunft und Erfahrung im langen Alter der Welt endlich heimgebracht haben." Die hochfliegenden Sätze stehen in Friedrich Schillers Jenaer Antrittsvorlesung von 1789: "Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?" Schillers Idealismus entsprang der geistigen Welt der Aufklärung. Von heute aus, nach den historischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts und dem Scheitern der großen Utopien, findet die Frage nach dem "Sinn der Geschichte", sofern man sie überhaupt zu stellen wagt, nur skeptische und kleinmütige Antworten.


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"Vorgestern als den 26. habe ich endlich das Abenteuer auf dem Katheder rühmlich und tapfer bestanden. Meine Vorlesung machte Eindruck, den ganzen Abend hörte man in der Stadt davon reden, und mir widerfuhr eine Aufmerksamkeit von den Studenten, die bei einem neuen Professor das erste Beispiel war. Ich bekam eine Nachtmusik und 'Vivat' wurde dreimal gerufen."

So berichtete Friedrich Schiller Ende Mai 1789 dem Freund Theodor Körner über seine Antrittsvorlesung als Professor der Philosophie und Geschichte in Jena. Sie markiert aus zweifachem Grund ein historisches Datum. Zum einen erschien hier ein berühmter (teilweise berüchtigter) Dramatiker, der Verfasser der Räuber, in einer neuen Rolle, als Historiker und Philosoph, zum anderen war seine Vorlesung als geschichtsphilosophisches Werk epochemachend: Es kulminieren darin die Ideen der deutschen Aufklärung und der geschichtsphilosophische Optimismus des 18. Jahrhunderts. Seiner schönen Utopie hatte Schiller zuvor in dem Gedicht Die Künstler eine poetische Form gegeben: "Wie schön, o Mensch, mit deinem Palmenzweige / Stehst du an des Jahrhunderts Neige, / In edler stolzer Männlichkeit!"

Schillers Idee der Universalgeschichte war kein Versuch trügerischer Sinnstiftung - das blieb dem folgenden, dem 19. Jahrhundert mit seinen großen utopischen Entwürfen vorbehalten. So meinte etwa Hegel in der Geschichte das Walten einer höheren Vernunft zu erkennen, wie er überhaupt menschliche Geschichte als solche nur anerkennen wollte, wenn sie den "Fortgang des Geistes" beförderte. Marx, in der Nachfolge Hegels, meinte sogar, das historische Gesetz positiv bestimmen und den Fortgang der Geschichte nach ökonomischen Gesetzmäßigkeiten voraussagen zu können.

Schiller hingegen suchte kein Gesetz in der Geschichte, doch sah er es als Aufgabe des Menschen an, einen vernünftigen Zweck in den Gang der Geschichte zu bringen, und zwar dadurch, dass er sich als geschichtliches Subjekt begreift. Am Ende seiner Vorlesung stand keine endgültige Wahrheit, sondern, wie Thomas Mann es formuliert hat, der Appell an den Menschen "zu rettender Ehrfurcht vor sich selbst". Dazu gehört auch der Wille, Geist und menschliche Freiheit gegenüber den Schranken der Natur, wie Krankheit und körperliche Gebrechen, zu behaupten. An Wilhelm von Humboldt schrieb Schiller fünf Wochen vor seinem Tod: "Und am Ende sind wir ja beide Idealisten und würden uns schämen, uns nachsagen zu lassen, dass die Dinge uns formten und nicht wir die Dinge."


Der Traum vom Goldenen Zeitalter

Dieser hochfliegende Idealismus mag im Jahr der 250. Wiederkehr von Schillers Geburtstag naiv, vielleicht sogar - im Sinne Schopenhauers - "ruchlos" erscheinen. Auch Goethe, der große Schiller-Freund, war als historischer Denker eher sein Antipode, er fand in der Geschichte nur eine "ungeheure Empirie", aber nichts von dem, "was wir Philosophen so gern Freiheit nennen". Dabei folgte Schiller, wie die meisten Dialektiker, nur einem in der menschlichen Vorstellung offenbar tiefverwurzelten Bedürfnis, in der Geschichte jenen Dreischritt wirksam zu sehen, der von einem ursprünglichen Zustand der Harmonie über eine Phase der Zerrissenheit und Entfremdung beinahe zwangsläufig zu einer neuen, "höheren Stufe" führen müsse.

Das Goldene Zeitalter, das der eigentlichen Geschichte vorausgeht, gehört zum Grundbestand mythischer Weltdeutung, sein Äquivalent besteht in einem utopischen Reich am Ende der Geschichte, sei es in Gestalt irdischer Paradiese, wie der marxistischen Idee von einer klassenlosen Gesellschaft, sei es in Form eines Gottesreiches, wo "der Löwe beim Lamm und der Panther beim Böcklein ruht". Die Geschichte der Menschheit erscheint da als bloßes Intermezzo zwischen einem verlorenen und einem kommenden Paradies.

Heute wird die Frage nach dem Sinn der Geschichte kaum noch gestellt. Überhaupt hat sich der Begriff von Geschichte fundamental verändert, nicht zuletzt durch die Erkenntnisse der Naturwissenschaften.

Sie lassen die überschaubare Geschichte zu einer winzigen Episode zusammenschrumpfen, zwischen Jahrhunderttausenden der Vorgeschichte und unabsehbaren Zeiträumen einer Nachgeschichte, die vom Veröden allen Lebens im Kältetod bestimmt sein wird. Der Begriff des Fortschritts, auf die kleine Weltminute angewendet, die den Menschen vergönnt ist, relativiert sich von selbst, wenn man auf die historischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts blickt, von den beiden Weltkriegen bis zur industriell betriebenen Menschenvernichtung und zur Verwüstung der Natur durch zivilisatorischen Fortschritt.

Überhaupt fällt es zunehmend schwer, den "Fortschritt" als Synonym von "Humanisierung" zu verstehen, da er immer häufiger in einen todbringenden Gegensatz zu ihr gerät. Über der Menschheit schwebt das nukleare Damoklesschwert, das in einer Zeit, da die Fundamentalismen in aller Welt an Macht gewinnen, womöglich nicht mehr allein der Abschreckung dient. Schließlich machen die Fundamentalismen uns darauf aufmerksam, dass die Idee der Universalgeschichte, auch im Schillerschen Verständnis, nicht identisch ist mit dem Siegeszug der westlichen Kultur und Lebensform, sondern allenfalls mit dem Sieg der universellen Werte Gleichheit, Freiheit, Solidarität, wie sie die Französische Revolution proklamierte, bevor sie sich in den Kämpfen um Macht und Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum deformierte und pervertierte.


Die Verfinsterung der Geschichte

Schiller war ein Zeitgenosse der Französischen Revolution, und diese historische Erfahrung ließ seinen Geschichtsoptimismus nicht unangetastet. Als er seine Jenaer Antrittsvorlesung hielt, hatten sich in Versailles bereits die Generalstände versammelt; sieben Wochen später begann der Sturm auf die Bastille. Er riss viele Zeitgenossen von Klopstock und Wieland bis zu Hölderlin und Beethoven zu Begeisterung hin. Und noch ein Jahrzehnt später - die Guillotine hatte längst ihr blutiges Werk verrichtet -, schrieb Immanuel Kant, dass "die Revolution eines geistreichen Volkes" den Wunsch nach einer Teilnahme wecke, "die nahe an Enthusiasmus grenzt". Dabei rechnete Kant den politischen Enthusiasmus eigentlich zu den "Krankheiten des Kopfes". Schiller dagegen, der nicht zu Unrecht in dem Rufe steht, der Dichter des Enthusiasmus zu sein, der sogar von der Nationalversammlung in Paris zum französischen Ehrenbürger ernannt worden war, verhielt sich angesichts der französischen Ereignisse zwar aufs höchste teilnehmend, aber nicht blindlings hingegeben.

In diesem Zusammenhang wird oft, mit kritischem Unterton, angemerkt, dass die Weimarer Klassiker, Goethe voran, aber Schiller kaum minder, angesichts der Revolution jenseits des Rheins aus der Welt der Politik in die der Kunst und Ästhetik geflüchtet seien. Dabei müssen Schillers ästhetische Schriften aus dieser Zeit stets als Auseinandersetzungen mit der Französischen Revolution gelesen werden. Ihr Freiheitsprogramm bedurfte nach seiner Überzeugung der Ergänzung durch die Kraft des Ästhetischen, durch die Kunst und das Spiel: "Denn, um es endlich auf einmal herauszusagen", heißt es in den Ästhetischen Briefen, "der Mensch spielt nur dort, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt."

Das war keine Absage an die Revolution, wohl aber das Resultat der Einsicht, dass politische Freiheit im Augenblick der Niederschrift weder in Frankreich erreicht noch gar unter den rückständigen Verhältnissen Deutschlands erreichbar war. Auch Schillers dramatische Produktion im folgenden Jahrzehnt, die historischen Stücke vom Wallenstein über Maria Stuart bis zur Jungfrau von Orleans, stellten keine Flucht ins Schattenreich des Theaters dar. Sie enthielten vielmehr eine permanente Auseinandersetzung mit der aktuellen politischen Wirklichkeit, wie die Verse aus dem Prolog zu Wallenstein belegen: "Um Herrschaft und um Freiheit wird gerungen,/ Jetzt darf die Kunst auf ihrer Schattenbühne/Auch höhern Flug versuchen, ja sie muß/Soll nicht des Lebens Bühne sie beschämen."

Gerade die Wallenstein-Trilogie darf nicht nur als historisches Drama gelesen werden, denn der Gegenwartsbezug des Stücks ist unverkennbar. Man hat darin eine Darstellung der französischen Ereignisse erkennen wollen, in Wallensteins Scheitern das Scheitern der Revolution. Schon Hegel hat das Stück so gelesen, als Spiel des Zufalls ohne tiefere Notwendigkeit, er schrieb: "Das Reich des Nichts, des Todes hat den Sieg behalten." Schillers späte Stücke sind verstörende Bilderbögen einer sinnentleerten, alles zermalmenden Geschichte. So war es ein Zufall mit tieferer Bedeutung, dass ihr Autor die Urkunde, die ihn zum französischen Ehrenbürger erklärte, erst einige Jahre später erhielt, als ihre Unterzeichner, die Minister Danton und Clavière, bereits der Guillotine zum Opfer gefallen waren.


Hanjo Kesting (* 1943) Seit 2006 ist er Kulturredakteur dieser Zeitschrift. 2008 erschien bei Wallstein: Ein Blatt vom Machandelbaum. Deutsche Schriftsteller vor und nach 1945.


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 7-8/2009, S. 83-86
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Anke Fuchs,
Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. September 2009