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WETTBEWERB/014: Poetry-Slam in Deutschland - Dieses Funkeln in den Augen (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1-2/2016

Dieses Funkeln in den Augen
Über Poetry-Slam in Deutschland

Von Alia Lübben


Fünf Minuten auf der Bühne. Fünf Minuten, um das Publikum zu überzeugen, damit man in die nächste Runde kommt. In die nächste Runde kommen, um noch einen Text vorlesen zu können, um noch einmal fünf Minuten zu haben. Am Schluss winkt eine Flasche Whisky, ein Megaphon oder eine Packung Waschpulver. Aber eigentlich ist das total egal. Es geht nicht um den Preis am Ende, auch nicht unbedingt darum, der oder die Beste zu sein. Es geht um die Reaktionen, das Funkeln in den Augen, das Lachen, die Bewunderung. Es geht darum, sich selbst zu testen und um das Stehen auf der Bühne. Vielleicht geht es auch darum, zu sehen, ob man von den Zuschauern durchschaut wird. Hat die Person auf der Bühne das wirklich erlebt? Wie viel des Menschen vor mir steckt in dem Text, wie viel wirkliches Ich im Lyrischen Ich? Und es geht um das Freibier. Da ist es dann egal, dass das Zugticket mehr gekostet hat, als das Bier selbst; dass man heute Nacht auf einer Couch schlafen wird und dass man an einem Abend hinter dem Tresen mit Sicherheit mehr verdient hätte, als jetzt gerade auf der Bühne - wenn überhaupt etwas außer dem Freibier rausspringt. Aber dieses Freibier schmeckt einfach besser. Weil man es hinter der Bühne trinkt, während man lacht und redet, in der Pause, mit anderen Slam-Poeten, die man eventuell schon länger nicht mehr gesehen hat.

Was ist Poetry-Slam?

Ein Slam-Vortrag - so die Regeln, die zu Beginn jeden Events neu vorgebetet werden - darf nur eine bestimmte Anzahl an Minuten lang sein, in den meisten Fällen Der Text ist selbst geschrieben und Zitate müssen kenntlich gemacht werden. Hilfsmittel sind nicht erlaubt, nur ein Blatt oder dank Digitalisierung mittlerweile auch ein Handy oder Reader, von dem der Text abgelesen werden kann. Kostüme sind tabu. "Eine rote Clownsnase und eine bunte Latzhose sind nur erlaubt, wenn du auch im Alltag damit herumläufst." So oder so ähnlich lauten die Erklärungen der Moderatoren, die selbst auch oft Teil des Unterhaltungsprogramms sind und gelegentlich eigene Texte zur Einleitung vortragen, wie Sebastian Lehmann und Maik Martschinkowsky, die Moderatoren des allmonatlich stattfindenden Kreuzberg-Slams im Berliner Lido. Jeden ersten Dienstag im Monat findet dort das gleiche Schauspiel statt. Los geht es gegen 20.30 Uhr. Einlass war früher um acht, mittlerweile sollte man am besten schon um sieben da sein, wenn man gute Plätze haben möchte. Kurz vor Beginn ist es dann rappelvoll. Hinter den Stühlen stehen die Leute dicht gedrängt, nachdem sie gebeten wurden aufzustehen, weil sonst nicht genug Platz für alle sei. Einige konnten sich noch einen Fleck auf der Bühne ergattern. Wer spontan noch mitslammen möchte und nicht auf der Liste steht, kann sich am Eingang melden. Aus jenen "Spontanen" wird dann vor der Show noch ausgelost, wer mitmachen darf. Und dann geht es los. "Wer war noch nie auf einem Slam?", fragt der Moderator. Beim Kreuzberg-Slam ist es oft eine größere Anzahl an Armen, die verlegen in die Höhe gehen. Mehr und mehr neue Leute werden von dem Phänomen angezogen. Die Kulturveranstaltung erfreut sich immer größerer Beliebtheit.

Der Poetry-Slam ist ein Wettstreit, was ihn von Lesungen und Lesebühnen unterscheidet. Ursprünglich in den USA zeitgleich zu Hiphop entstanden, war er zunächst als Teil der Spoken-Word-Bewegung rhythmisch-poetische Ausdrucksform ethnischer Minderheiten und gesellschaftlicher Außenseiter. Als Wort-Wettkampf mit sozialkritischen Texten, jedoch - anders als das Rap-Battle - ohne Musik, hatte er sich in den 80er Jahren hauptsächlich in Chicago entwickelt und verbreitete sich im Laufe der Zeit in den großen Städten des Landes. In den 90er Jahren wurde das Format von Kulturschaffenden in das wiedervereinigte Deutschland importiert, wo es allerdings, anders als in seiner Geburtsstätte, nicht mehr Ausdruck der Außenseiter, sondern Performance-Event der jungen, hippen akademischen Mittelschicht wurde, was sich bis heute nicht geändert hat. Mittlerweile findet sich das Format in großer Anzahl in vielen deutschen Städten. In Berlin findet fast jeden zweiten Tag einer statt. Die Slammer sind untereinander gut vernetzt. Auch Abwandlungen des klassischen Poetry-Slams erfreuen sich großer Beliebtheit, wie etwa der Science-Slam, bei dem wissenschaftliche Arbeiten unterhaltsam vorgestellt werden, oder der Song-Slam, bei denen Musiker gegeneinander antreten.

Der Eventcharakter liegt dabei in der Regelmäßigkeit der Veranstaltungen, meist an einem festen Ort, in der immer gleichen Abfolge einer Slam-Serie und der gleichzeitigen Einzigartigkeit der einzelnen Veranstaltungen. Diese sind schließlich unberechenbar. Die Reaktionen des Publikums, das jedes Mal wechselt und sich neu zusammensetzt, auf einen Text kann variieren. Die Reaktion prägt die Stimmung bei dem Slam und wird damit selber zu einer wichtigen Komponente der Veranstaltung. Sie hat aber auch einen weiteren, pragmatischen Effekt. Da das Publikum bestimmt, welche Slam-Poeten eine Runde weiterkommen, ist auch die Gestaltung des Abends und die Entwicklung des Programms von den Zuschauern abhängig.

Die Slam-Szene in Deutschland

Die Anfänge des Poetry-Slams liegen in urbanen und sub-urbanen Gebieten. Eine wichtige Rolle bei der Verbreitung in Deutschland kommt den Universitätsstädten zu. An diesen Ballungsorten der akademischen Jugend erfreut sich die Melange aus oft humordurchtränkten Texten, spitzen, intelligenten Pointen und moderner Lyrik großer Beliebtheit.

Es überrascht deshalb wenig, dass es gerade ein Text vom Bielefelder Hörsaal-Slam ist, der vor etwa zwei Jahren Berühmtheit erlangt hat. Dank YouTube und Facebook verbreitet sich in kürzester Zeit das Video einer jungen Frau, die in einem Universitäts-Hörsaal ihren Text verträgt. Dieser Text, gespickt mit Modewörtern und Anglizismen, umgangssprachlichen Redewendungen und geistreichen Reimen, Alltagsanekdoten und philosophischen Ausschweifungen trifft den Zeitgeist. Schnell entwickelt sich um die poetische Studentin ein Internet-Hype, der den Poetry-Slam für eine kurze Zeit scheinbar in das Blickfeld der Massenmedien rückt. Ein Trugschluss, wie man jedoch anmerken muss, denn es ist nicht das Medium, das dabei interessiert, sondern der eine Text allein, der scheinbar alles Rätselhafte an der Generation Y zusammenzufassen und aufzulösen vermag und etwas aussagt, mit dem sich viele zwar nicht identifizieren können, was sie aber auf einer emotionalen Ebene anspricht, mit einer Leichtigkeit in der Ausdrucksweise, die perfekt mit der Darstellerin harmoniert. "Stattdessen häng' ich planlos vorm Smartphone, wart' bloß auf den nächsten Freitag. 'Ach, das mach ich später' ist die Baseline meines Alltags." Der Text erzählt vom leben und leben lassen, von der Sehnsucht, eines Tages etwas erreicht zu haben, etwas erlebt zu haben, und er ist gleichzeitig eine Aufforderung, das Leben selbst in die Hand zu nehmen und Wagnisse einzugehen.

Die Kehrseite der Medaille

Julia Engelmann, die junge Slam-Poetin, die damals die Menschen mit ihrem an den gleichnamigen Nummer-Eins-Hit angelehnten Text One Day entzückte, hat kurz danach ihr erstes Buch Eines Tages, Baby veröffentlicht. Dabei handelt es sich um eine Sammlung ihrer Slam-Texte, wobei sie an ihren YouTube- und TV-Erfolg anknüpft. Diese Geschichte ist jedoch ein Ausnahmefall. In den meisten Fällen sind die etablierten "Stars" der Poetry-Szene auch nur jener bekannt - Julia Engelmann kannte man vor ihrem durchschlagenden Erfolg lediglich aus der TV-Serie Alles was zählt. Auch den Erfolg ihres Buches teilen nur wenige. Ein Positivbeispiel ist Marc-Uwe Kling, der mit seinen Känguru-Chroniken Kultstatus erreichte. Dabei erzählt der Autor episodenhaft aus seinem fiktiven Alltag mit seinem Mitbewohner, einem kommunistischen Känguru, das beim Vietcong war, gerne Schnapspralinen futtert und einen leichten Hang zur Kleptomanie hat.

Bei Die Känguru-Chroniken handelt es sich ebenso wie bei dessen Fortsetzungen Das Känguru-Manifest und Die Känguru-Offenbarung um Sammlungen aufeinander aufbauender Texte im Kabarett-Stil, die Kling regelmäßig bei Einzel- und Gruppenlesungen vorträgt. Etwa zwei Jahre lang wurden diese bei dem Radiosender "Fritz" ausgestrahlt, was maßgeblich zu seinem Erfolg beigetragen hat. Zwar ist der Vortrag in Kabarett-Form auch beim Poetry-Slam möglich und Marc-Uwe Kling als Poetry-Slam-Champion bekannt, der Erfolg der Bücher hat jedoch nicht direkt etwas mit dem Erfolg des Autors als Slammer zu tun. Die Känguru-Trilogie ist eben nicht eine Sammlung seiner Slam-Texte. Poetry-Slam unterscheidet sich klar von anderen Vortragsformaten. Er basiert gerade nicht auf einer literarischen Grundlage und setzt diese auch nicht voraus. Ebenso ist eine literarische Veröffentlichung der einzelnen Texte in einem gesammelten Werk zwar möglich, dabei verlieren diese jedoch ihre Rolle als tatsächliche Slam-Texte, denn sie entziehen sich der Reaktion und Wertung und ihrem momenthaften Dasein und werden starr.

Das Buch als Objekt hat außerdem noch eine eigene Konnotation und gesellschaftliche Funktion, nämlich die eines Prestige-Objekts und wird Mittel zur Distinktion. Mit dem Erwerb des Buches eines ohnehin nur der Szene bekannten Künstlers positioniert man sich entsprechend der sich selbst zugesprochenen Rolle in der Gesellschaft. In eben jener Gesellschaft, in der Intellekt nicht bloß eine Beschreibung des Geistes sondern auch eine der sozialen Klasse ist, ist auch ein Buch von Hermann Hesse in der Hand bloß die billigere Alternative zur Breitling-Uhr. Anders als in den USA mit ihrem American Dream und Geld als Maßstab der Tugendhaftigkeit hält Deutschland mit seinem jahrhundertealten Kulturerbe einem stets vor Augen, dass man ruhig arm sein kann, wie eine Kirchenmaus, wenn man zum Kreis der Intellektuellen gehört, weil die Bildung die soziale Zugehörigkeit und die gesellschaftliche Stellung bestimmt. Auch der Poetry-Slam ist so zum Accessoire geworden. Im Gegensatz zu einem Abend in der Oper ist er spontan, günstig und interaktiv und wird doch in dem sozialen Umfeld seiner Besucher auf die gleiche Weise als Kulturveranstaltung und Mittel zur Selbstkultivierung verstanden und geschätzt wie die Oper im Umfeld ihrer Eltern. Durch seine Instrumentalisierung verliert der deutsche Poetry-Slam schlussendlich seine Rolle als Mittel des Ausdrucks und wird oft bloß Mittel zum Zweck. Letztlich zählt jedoch nur, was man aus dem Abend mitnimmt. Man kann schließlich auch den Umschlag von Ulysses um eine Ausgabe von 50 Shades of Grey legen - beim Lesen wird man jedoch feststellen, dass man doch nur James liest. Ohne Joyce.


Alia Lübben aufgewachsen in Kairo und Bremen, wohnhaft in Berlin, studiert und Anglistik an der Universität Potsdam und schreibt für das Studierenden-Magazin zurQuelle in dem Ressort Kultur und Gesellschaft.
Alia.Luebben@gmx.de

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1-2/2016, S. 106 - 108
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Die NG/FH erscheint zehnmal im Jahr (Hefte 1+2 und 7+8 als Doppelheft)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Februar 2016

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