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BERICHT/005: Deutschland und Buchbiennale 2008 in Sao Paulo (Klaus Hart)


Klaus Hart Brasilientexte - 20. August 2008

Deutschland und Buchbiennale 2008 in Sao Paulo
Interessante deutschsprachige Autoren vor Ort, doch kaum Besucher- und Experteninteresse

- "Kaum Vorkenntnisse über deutsche Kultur, deutsche Literatur"
- "O nosso Brasil é ainda uma grande incógnita"


Auf Lateinamerikas wichtigster Buchmesse wurde erneut deutlich, wie schwer es Literatur in einem Land mit hoher Analphabetenrate und extremen Sozialkontrasten, Massenelend hat. In der Lepra- und Todesschwadronen-Megacity mit den über 2000 Slums bekamen dies auch die angereisten und groß angekündigten deutschsprachigen Autoren zu spüren: Julia Franck, Ulrich Peltzer, Antje Ravic Strubel und Ilija Trojanow, dazu Robert Menasse aus Österreich und Perikles Monioudis aus der Schweiz saßen bei ihren Biennale-Literaturdebatten schlichtweg in leerem Saal. Der große Alt-68er Oskar Negt traf sich im Goethe-Institut mit dem Schriftsteller und Kolumnisten Zuenir Ventura, einem der besten Kenner brasilianischer Slum-Strukturen - beide mußten ebenfalls mit einem halbleeren Saal vorliebnehmen - nicht einmal die geladenen Gäste waren erschienen. Hinweis auf hiesigen Zeitgeist.

Eine bizarre Situation: Durch die Riesenhalle der Buchmesse fluten Menschenströme, doch im großen, keineswegs versteckten Salao das Ideas, dem Salon der Ideen, gesponsert von Volkswagen, reden Ilija Trojanow, Robert Menasse und Perikles Monioudis vor leeren Stuhlreihen über deutschsprachige Literatur in der globalisierten Welt. Der von draußen hereindringende Messelärm ist barbarisch und Ilija Trojanow aufgebracht: "Es geht eigentlich nur um die Liste der Namen, mit denen man nachher angeben kann. Dann sagt man, all diese bekannten Namen waren da, wir haben tolle Arbeit geleistet. Die Buchmesse von Buenos Aires hat dagegen eine ganz andere Intensität".

Der Wiener Robert Menasse - die angesehenste Qualitätszeitung macht ihn glatt zum Deutschen - war Literaturprofessor an der Bundesuniversität von Sao Paulo, zwei seiner Bücher wurden in Brasilien, wie er ironisch sagt, zwar gedruckt, doch nicht veröffentlicht. Auch Menasse findet die Biennale-Zustände unter aller Kanone: "Die organisatorischen Bedingungen und Umstände waren demütigend für die Autoren. Man kann nicht mit Autoren reden, wo es akustisch gar nicht funktionieren kann, weil Lärm rundherum ist. In Deutschland, in Österreich, überhaupt in europäischen Ländern in der Regel gilt Lesen als Bestandteil der kulturellen Identität des Menschen, eines gebildeten Menschen, gehört zum Selbstverständnis. In Brasilien ist es anders. Dieses Land fetischisiert nicht Allgemeinbildung und Literatur, Kultur, Kunstereignisse. Als ich an der Universität von Sao Paulo unterrichtet habe, konnten jene, die Deutsch studierten, bis zum Ende ihres Studiums nicht gut deutsch, die waren gar nicht an Literatur interessiert. Aber an der philosophischen Fakultät gab es Studenten, die perfekt Deutsch lernten, um deutsche Philosophen im Original lesen zu können." Menasse nennt Argentinien "viel europäischer - kulturell und in der gesamten Entwicklungsgeschichte - als Brasilien. Argentinien ist eigentlich ein europäisches Land, Brasilien indessen wirklich ein lateinamerikanisches."

Tags darauf diskutieren Julia Franck, Ulrich Peltzer und Antje Ravic Strubel im Salon der Ideen über zeitgenössische deutsche Literatur - wiederum entsetzliche Leere. Julia Franck, deren "Mittagsfrau" von einem großen brasilianischen Verlag auf der Biennale lanciert wird, bleibt gelassen: "Ich bin, muß ich gestehen, überhaupt nicht perplex - vielleicht ist das sogar falsch, das nicht persönlich auf mich zu beziehen. Der Lärmpegel hier kündet von Fußball, von Schwimmbad, von Eishockeyveranstaltungen, der kündet von Schülern, die hier auch viel unterwegs sind, die sich vielleicht Comics, vielleicht sogar andere Medien, DVDs kaufen. Die Kulturen, zum Beispiel in Deutschland, die Frankfurter Buchmesse, die überfüllten Säle dort, wo Literatur plötzlich in den letzten Jahren eine Art öffentliches Ereignis geworden ist, unterscheiden sich von der südamerikanischen, oder auch von der asiatischen. Aber Literatur war schon immer etwas, das sich - um es böse zu sagen - auch elitär zurückgezogen hat. Aber was mich an Sao Paulo viel mehr interessiert - es ist ein großer Sumpf von unterschiedlichsten Kulturen, die hier zusammenkommen und die sich trotzdem untereinander tolerieren, die sich vielleicht auch untereinander bekriegen, mitunter verfolgen. Aber sie existieren, sie leben in derselben Stadt, also die Kriegsverbrecher mit den jüdischen Emigranten."

Brasilien hat bisher 143 deutsche Buchlizenzen gekauft - von Thomas Mann und Hermann Hesse bis Günther Grass und Heinrich Böll. Ilija Trojanows "Weltensammler" kommt 2009 heraus. Argentinien erwarb nur 32, Mexiko nur 23 solcher Lizenzen. In Brasilien hat es Literatur dennoch sehr schwer, sagt Dr. Wolfgang Bader, Leiter des Goetheinstituts von Sao Paulo: "Die Zahl der Leser ist relativ gering - und dann kommen noch deutsche Autoren, die praktisch völlig unbekannt sind. Warum sollte sich ein Brasilianer dafür interessieren? Das Goethe-Institut vermittelt, bietet Literatur hier an, sorgt dafür, daß deutsche Bücher Verleger finden. Es ist ein zaghafter Beginn, es ist 'ne schwierige Arbeit, ohne Zweifel. Aber das hängt damit zusammen, daß Lektüre und Literatur in diesem riesigen Land eben ein Minderheitenvergnügen ist - hier gibts weniger Leser als in Deutschland - und Deutschland ist nicht so groß wie Brasilien."

Marcelo Backes, der Julia Francks "Mittagsfrau" für den Verlag "Nova Fronteira" übersetzt hat, ärgert besonders, daß nicht einmal Brasiliens Literaturexperten, Literaturkritiker Notiz von den deutschsprachigen Schriftstellern nehmen - nennt dies schlichtweg ein Zeichen von Inkompetenz. Abenteuerlich schlechte Übersetzungen führen in Brasilien immer wieder zu ebenso abenteuerlichen Kritiken. "Die Literaturkritik ist im Vergleich zur deutschen Literaturkritik sehr mangelhaft. Und das hier wäre ja eine Chance, sich zu informieren. Es fehlt Interesse - das ist unprofessionell. Und man sieht das Ergebnis, was herauskommt. Wenn die selben Autoren in China sind - die Räume sind voll. Wie viele Leute an der Bundesuni von Sao Paulo, der größten und wichtigsten ganz Lateinamerikas, können deutsche Literatur im Original lesen? Es gibt niemanden dort. Eine völlig andere Situation als in Deutschland - auch die dortige Kultur der Literaturveranstaltungen gibt es hier nicht. Eine Lesung würde in Brasilien überhaupt nicht funktionieren, weil man wahrscheinlich keine Geduld hat, mehr als fünf Minuten zuzuhören. Wenn ich ein Buch übersetze, muß ich versuchen, ein Nachwort zu schreiben, weil andernfalls der Journalist hier nicht weiß, wie er mit dem Werk umgehen, wie er es besprechen soll."

Robert Menasse beschreibt den kuriosen Erfolg von Ingeborg Bachmann in Brasilien: "Ich habe unglaublich lachen müssen, als ich die portugiesische Version eines ihrer Bücher hier in die Hände bekam." Da wurde u.a. Wiens berühmte Flanierstraße "Der Graben" allen Ernstes nicht als Adresse, sondern als "Abwassergrube" übersetzt, in der dann die Romanfigur mit jemandem Kaffee trinkt. Brasiliens Literaturkritik lobte dann laut Menasse die Schriftstellerin wegen ihrer großen Kunst, aus dem scheinbaren Realismus immer plötzlich ins Absurde und in den Surrealismus zu kippen. Studenten hätten dann sogar diese "Erzähltechnik" Ingeborg Bachmanns in wissenschaftlichen Arbeiten analysiert. "Der Erfolg von Ingeborg Bachmann in Brasilien beruht auf Mißverständnissen."

Gloria Pasqual de Camargo, Hochschulprofessorin Sao Paulos, zählt zur Handvoll Interessierter, die sich zu den deutschsprachigen Autoren aufmachten. "Ich bin total enttäuscht, glaubte, die Professoren der Bundesuniversität hier zu sehen, alle Experten. Ich kam extra sehr früh, weil ich dachte, andernfalls keinen Platz mehr zu bekommen..." Die ältere Dame sieht bei ihren Studenten, überhaupt bei den Brasilianern kaum Vorkenntnisse über deutsche Literatur, deutsche Kultur. "Die meisten kennen fast nichts. Wenn ich ein wenig von Schiller oder Goethe spreche - sie haben von denen noch nie gehört. Vielleicht besteht bei Schülern und Studenten das Problem, daß diese zuviel nebenbei noch arbeiten und daher keine Zeit haben, sich für andere Kulturen zu interessieren. Sie lesen nicht viel. Und wenn wir Lehrer nicht über diese Literatur sprechen, finden sie diese nicht alleine. Obwohl hier ein Goethe-Institut existiert, fehlt bei Schülern und Studenten schlichtweg Interesse. Die meisten Schriftsteller, die sie kennen, sind diese Blockbusters - die Liste der zehn bestverkauften Autoren, ja, das lesen sie. Die deutsche Kultur im allgemeinen ist etwas nicht so Normales für sie. Wenn sie von Deutschem hören - ach deutsch? - kann man das lesen, ist das nicht komisch, skurril? Die nordamerikanische Literatur dagegen kommt als Blockbuster - das ist das Problem. Ich hoffe, mit diesen neuen Schriftstellern kommt etwas Neues zu uns nach Brasilien. Das neue, moderne Deutschland. Ich liebe die deutsche Literatur, die deutsche Sprache!"

Auffällig, wie größtenteils oberflächlich und lieblos brasilianische Bücher die Realität des Drittweltlandes widerspiegeln - daß die (literarische) Fiktion gewöhnlich von dieser Realität weit übertroffen wird, ist inzwischen beinahe ein geflügeltes Wort. Kurioserweise war es ein staatlicher Stand, der Postkarten mit dieser Aufschrift verteilt: "O nosso Brasil é ainda uma grande incógnita". In Brasilien ist Buchlektüre als Freizeitbeschäftigung nahezu bedeutungslos, "ein Minderheitenvergnügen" - in Deutschland steht Bücherlesen gemäß Verbraucheranalysen auf Platz sechs der beliebtesten Freizeitbeschäftigungen: 20, 8 Prozent lesen besonders gern, 34,9 Prozent gern. Von jener Minderheit der Brasilianer, die überhaupt ein Buch lesen und verstehen kann, erklärten laut einer Studie 45 Prozent, daß sie nicht gerne lesen.

Gefragt, ob die Welt Lateinamerika nicht verstehe, antwortete der argentinische Schriftsteller Tomas Eloy Martinez: "Schlimmer noch - die Welt nimmt uns nicht wahr - es ist so, als ob Lateinamerika nicht existierte." Ein erfahrener deutscher Rundfunkredakteur bemerkte: "Wir haben immer weniger aus Brasilien im Programm - die ganze Region droht immer mehr in Vergessenheit zu geraten."

Ulrich Peltzer, scharfer Beobachter der neoliberalen Sozialkontraste Brasiliens, reflektiert über Brasiliens Privilegiertenghettos, die geschlossenen Wohnanlagen mit Privatpolizei, stellt in Sao Paulo entsprechende Recherchen an: "Das ist ein Umbau, der zur Zeit in Europa auch stattfindet, daß es immer mehr solcher Gated Comunities gibt, Häuser mit Doorleuten. Städtische Räume, die plötzlich keine öffentlichen Räume mehr sind, sondern privatisiert werden - daß sich sowas wie 'ne Security-Industrie herausbildet, die in Brasilien ja tatsächlich schon Industriestatus zu haben scheint, also ein grundsätzlicher postfordistischer Umbau von Gesellschaft, der möglicherweise bei den Gated Comunities, den privaten Sicherheitsdiensten in disfunktional werdenden Städten anfängt - und bei den privaten Söldnern im Irak aufhört."


Von Klaus Hart, 20. August 2008

Zum Autor:
Klaus Hart ist seit 1986 Brasilienkorrespondent
für Medien in Deutschland, Österreich und der Schweiz.


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Quelle:
Klaus Hart, Brasilientexte - August 2008
Aktuelle Berichte aus Brasilien - Politik, Kultur und Naturschutz
Mit freundlicher Genehmigung des Autors
Internet: www.hart-brasilientexte.de/


veröffentlicht im Schattenblick zum 23. August 2008