Schattenblick →INFOPOOL →DIE BRILLE → LYRIK

DICHTERSTREIT/004: Bogenbruch und Spannverlust (SB)


Bogenbruch und Spannverlust Stufen Wie jede Blüte welkt und jede Jugend Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe, Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern. Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe Bereit zum Abschied sein und Neubeginne, Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern In andre, neue Bindungen zu geben. Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben. Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten, An keinem wie an einer Heimat hängen, Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen, Er will uns Stuf' um Stufe heben, weiten. Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen; Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise, Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen. Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde Uns neuen Räumen jung entgegen senden, Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden ... Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde! [1942] Hermann Hesse (1877-1962) aus Karl Otto Conrady: Der neue Conrady - Das große deutsche Gedichtbuch, Düsseldorf 2001, Seite 669f
Eule
Der gebrochene Bogen Hesse, Hermann, mit Respekt, deine "Stufen" stapeln tief, und es bleibt nicht unentdeckt, wie gewunden und naiv. Hermann, deine Handlungsreisen hatten Konsequenzen, Freiheit wirst du alles preisen und du meidest Grenzen. Nur wer gegen Grenzen geht, wird sie endlich überwinden und nicht stolpern, wo er steht, Quellen schaffen und nicht finden. Spannst den Bogen immer weiter im Stufenschritt zur Ewigkeit, denn im Seelenantlitz heiter hat doch nur alles seine Zeit. Der Prediger, Kapitel Drei im Alten Testamente, der ist von dieser Spannung frei und von Moral und Rente. Er sucht auch keinen Sinn zu schaffen und führt den Bogenschlag im Schilde, beginnend mit den Urwaldaffen und Menschen dann nach Gottes Bilde. Er teilte uns schon damals mit, und das erscheint mir furchtbar weise, der ganze wilde Lebensritt ist vieles, aber keine Reise. H. Barthel aus dem Hinterstübchen

Erstveröffentlichung am 1. August 2002

12. Dezember 2006