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BUCHBESPRECHUNG/001: "Die Insel der Dolci" von Hanns-Josef Ortheil (Reisereportage) (Katarzyna Grzywka)


Hanns-Josef Ortheil
Die Insel der Dolci. In den süßen Paradiesen Siziliens


von Katarzyna Grzywka (Universität Warschau), Januar 2016

Dass Hanns-Josef Ortheil, der 2016 seinen 65. Geburtstag feiern wird, ein etablierter Italien-Kenner ist, braucht nicht unter Beweis gestellt zu werden. Denn er hat es sowohl in seinen Essays als auch Romanen einleuchtend gezeigt, um an dieser Stelle beispielsweise an Im Licht der Lagune, Faustinas Küsse, Die große Liebe, Die Erfindung des Lebens oder Das Kind, das nicht fragte zu erinnern, wobei im letztgenannten Werk - so wie es auch in der zu rezensierenden Veröffentlichung der Fall ist - Sizilien mit seinen kulturellen Eigentümlichkeiten als Held des Textes schlechthin erscheint. In der Publikation Die Insel der Dolci, die kein Roman ist und in sich eher die Züge eines Essays mit denen einer Reisereportage verbindet, geht es jedoch nicht um die Darstellung Siziliens als eines paradiesisch anmutenden Handlungsortes, in dem der literarische Held seiner Identität auf die Spur kommt und eine innere Wandlung durchmacht, was für Benjamin aus dem Kind, das nicht fragte kennzeichnend ist, sondern vordergründig um das Porträtieren jenes Raumes durch das Prisma des Gaumengenusses. Und dieser beruht auf einer territorialgebundenen, klug durchdachten Wahl der Süßigkeiten, die Sizilien zu einer Insel der Dolci machen. Denn: "Die Sizilianer liebten die Dolci mehr als alles andere, mehr als Pasta, Fleisch, Fisch, ja, die Dolci seien die ureigenste sizilianische Küche, basierend auf den Früchten und Aromen der Insel, auf Orangen, Zitronen, Mandeln und schwerem, süßem Wein, Produkten eines Sonnenlandes, das mit Hilfe der Dolci den hohen Temperaturen trotze" (S. 8).

Hanns-Josef Ortheil begibt sich also nach Sizilien, um seine Süßigkeiten zu kosten und eine eigene Inselphilosophie zu konzipieren, die auf dem dadurch gewonnenen praktischen Wissen zur Esskultur dieser Region fußt. Kein leichtes Unterfangen für einen Laien, kein besonders schwieriges jedoch für den Schriftsteller, der perfekt Italienisch spricht, über eine ausgezeichnete Kenntnis des Landes verfügt und zu alldem als Feinschmecker und Kenner der europäischen Küche gilt, was die Essgewohnheiten seiner literarischen Helden plausibel veranschaulichen. Die Reise mit einem Leihwagen führt den Verfasser von Catania über Catenanuova, die Villa Romana del Casale bei Piazza Armerina, Enna, Palermo, Monreale, Erice, Trapani, die Insel San Pantaleo, Marsala, Sciacca, Agrigent, Modica nach Syrakus, und die zahlreichen, hier erlebten Dolci werden vor einem breiteren kulturgeschichtlichen Hintergrund gesehen. Denn die im Buch porträtierten Trattorien, Garküchen, Cafés, Pasticcerien, Bäckereien, Märkte und Restaurants stellt Ortheil nicht als isolierte Genussräume dar, sondern vielmehr als Elemente eines facettenreichen Ganzen, dessen Gestalt von der Natur und somit ihren Düften und Aromen ebenso wie von den Reisenden und Pilgern, die diese Orte aufsuchen, bestimmt wird. Der Stuttgarter ist in diesem kulturgeschichtlichen Kontext sehr gut bewandert und schöpft reichlich aus dem Fundus der deutschsprachigen Reiseliteratur. So erfährt der Leser nicht wenig von Richard Wagner, der die herrliche Luft Siziliens mit Freude einatmete; Johann Gottfried Seume, der während seiner Ätna-Wanderung leicht angefrorene Apfelsinen verzehrte; Johann Wolfgang von Goethe, der sich von den hiesigen Distelmassen überwältigt fühlte, sowie Ernst Jünger und Gerold Späth, die die Üppigkeit der Mosaikszenen in der Villa Romana del Casale mit Vergnügen kontemplierten. Suggestiv erzählt Ortheil von dem verwanzten und alles andere als bequemen Bett, in dem Karl Friedrich Schinkel in Enna schlief, und von der "Feuer- und Dauerdampfprosa" (S. 49) des 1829 in Sizilien verweilenden Wilhelm Waiblinger. Der Autor wertet ferner autobiographische Texte der Italiener aus, wie die Kindheitserinnerungen von dem Juwelier Fulco di Verdura, der eine gewisse Zeitlang mit Coco Chanel arbeitete, und berichtet sowohl über das Kochbuch des Apicius, das die spätrömischen Essgewohnheiten demaskiert, als auch die traditionsträchtigen Dolci-Hersteller und -Spezialisten. Zu diesen gehören u.a. die Firma Daidone, deren Produkte die Tafeln der Päpste und Präsidenten schmückten, und die berühmtesten Dolci-Werkstätten Palermos, also das Dolci-Laboratorio der Fratelli Rosciglione oder die Pasticceria Cappello, in der jene Dolci hergestellt wurden, die dann Giuseppe Tomasi di Lampedusa in Il gattopardo verewigte. Die in diesen Räumen produzierten und dargebotenen Dolci werden von Ortheil stilllebenartig porträtiert, in ihre Bestandteile zergliedert und aufs Neue zusammengesetzt, eingehend und liebevoll. Ebenfalls detailliert charakterisiert der Verfasser die Räume der Dolci-Herstellung sowie die Personen, die sich an ihr beteiligen, und die Musik, die diesen Prozess nicht selten begleitet. Denn Musik scheint auch in diesem Werk des Stuttgarters - es ist übrigens ein typischer Zug seiner Prosa [1] - einen relevanten Platz einzunehmen, es stimmungsvoll zu grundieren - nicht aber eine beliebige, zufällig gewählte Klangkunst, sondern die, die Ortheils Meinung nach zu konkreten Dolci und zu bestimmten Geheimnissen ihrer Produktion am besten, um nicht zu sagen 'perfekt' passt.

So gründet sich Ortheils Wissen nicht nur auf den Lektüren und dem Verzehr der auf der Insel präparierten Köstlichkeiten, sondern resultiert auch aus den persönlichen Kontakten und somit Gesprächen mit den Einheimischen. Dank dieser mannigfaltigen Auseinandersetzung mit der Esskultur Siziliens enthüllt der Schriftsteller ihre Eigenschaften, wie die arabische Prägung, und die ihr zu Grunde liegenden Geheimnisse, wie die Regel der Kombination und Mischung, denn: "Auf die Kombinationen und Mischungen kommt es an, genauso ist es" (S. 24). Die Eigenartigkeit der sizilianischen Dolci scheint darüber hinaus aus dem feinen Gespür ihrer Hersteller für natürliche, oft aromatische Substanzen zu resultieren: "»Dolci« sind [...] nicht nur süße Desserts, vielmehr handelt es sich um Grund- und Ursubstanzen der sizilianischen Küche, um herbe oder süße Würzstoffe, Bindemittel und Ingredienzen, die Mahlzeiten verfeinern, bereichern und ihre Schwere mindern" (S. 28). Diese sich in der sizilianischen Küche manifestierende Naturverbundenheit, diese von sizilianischen Naturbildern herrührenden Atmosphären sind in Ortheils Auffassung "die Grundlage einer »Kultur der Dolci«" (S. 29) auf Sizilien, das laut den vom Schriftsteller untersuchten Reiseberichten und seinen eigenen Beobachtungen als Insel des "klare[n]" und somit des "Garten-Duft[es]" (S. 51) bezeichnet werden kann: "Dieser »klare Duft« ist ein Garten-Duft, ein Duft, der von den Bäumen, Sträuchern, Kräutern und ihren Blüten ausgeht. Seine atmosphärische Wirkung ist eine leichte Tönung der Schatten, die nicht schwarz und dunkel, sondern bläulich, wie dunklere Variationen des Meeresblaus erscheinen" (S. 51). So wird Sizilien zur Duft- und zur Garten-Insel, deren Dolci somit etwas Gartenhaftes in sich haben, als wären sie ein auf der Zunge zergehender Garten: "Den blühenden, duftenden Garten zu kultivieren, ihn blühend und duftend auf der Zunge zu servieren - das ist [...] das große Thema der sizilianischen Dolci-Herstellung" (S. 77). Und vielleicht deswegen ist in dem Ortheilschen Buch so oft von einfachen Ingredienzien die Rede, die in der sizilianischen Sonne reifen, um dann liebevoll ausgesucht und vernünftig komponiert zu werden und damit eine beinahe ideale Basis für schlicht anmutende und köstlich schmeckende Wunderwerke auszumachen, wie die Granita von Zio Aurelio aus Sciacca: "Ist Maria Grammatico aus Erice verrückt nach Mandeln, so ist Zio Aurelio besessen von Zitronen. Gutes Wasser, feiner Zucker und beste Zitronen - das ist in seinen Augen die Trias von Sizilien. Das Wasser symbolisiert die Fruchtbarkeit seiner Gärten, der Zucker die Süße seiner Früchte, die Zitrone die Herbheit und Gewalt seiner Sonne! Keine andere Kombination von Zutaten erreicht eine derartige Schlichtheit und Strenge! [...] Das strenge Sizilien, erklärt Zio Aurelio, spiegelt sich am besten in einer ebenso strengen Ästhetik. Die Insel des Sonnengottes Helios, auf der die Hälfte des Grases verbrennt und sich selbst die Olivenbäume vor Hitzeschmerz krümmen, sollte dem erbarmungslosen Himmel nur mit drei Substanzen begegnen: Mit Wasser, Zucker und dem Saft der Zitrone!" (S. 121). Unter diese eigentlich nicht enden wollende Reihe der Dolci-Zutaten lassen sich natürlich noch viele andere, hier nicht erwähnte subsumieren, wie z.B. die Orangen aus dem Kolymbetra-Garten: "ein Universum von Aromen, Geschmacksnoten und Farben [..], ein Dolci-Saft par excellence, ein himmelssüßer Nektar, ein Trank aus dem Olymp" (S. 133). Die in den oben angeführten Passagen heraufbeschworene Einfachheit der sizilianischen Dolci kommt ebenfalls in der berühmten Schokolade aus Modica zum Vorschein, in der Leonardo Sciascia etwas "»Archetypisches«, »Reines«, »Absolutes«" erblickte. "Ihr Purismus, ihre Schlichtheit, aber auch ihre Reinheit und Dichte: elementar, unverfälscht und von einer gewissen vitalen Wucht" (S. 137) machen sie zur Köstlichkeit, die als Belohnung, also nur zu bestimmten Tageszeiten, nachmittags, abends oder nachts, verzehrt werden sollte - ein Genuss, auf den man wartet und den man zu schätzen weiß. Und noch eine wichtige Regel, die Ortheil in der Mitte seines Textes formuliert und die im ganzen Buch durchschimmert: "Niemals ohne Dolci!" (S. 82).

Die Insel der Dolci ist ein Buch vom Genuss und für Genießer - für Leser, die das Lesen als Meditation von Details und als Enträtseln von Zusammenhängen verstehen; die gerne hinter die Kulissen der von Touristenströmen aufgesuchten Räume schauen und Gespür für feine Nuancen, Aromen und Atmosphären besitzen. Den Genuss der Lektüre steigern zusätzlich die von Lotta Ortheil feinfühlig konzipierten Fotos, deren Kompositionseinfachheit mit der Üppigkeit der Objekte kontrastiert, die von der Kamera festgehalten werden. Ein schönes, aufschlussreiches und zu einer Sizilien-Reise einladendes Werk zur gesammelten Lektüre und zum stillen Kontemplieren.


Prof. Dr. habil. Katarzyna Grzywka ist Professorin für Neuere Literatur- und Kulturgeschichte des deutschsprachigen Raumes und leitet die Abteilung für Kultur- und Literaturkomparatistik am Germanistischen Institut der Universität Warschau.


Anmerkung:

[1] Auf die Rolle der Musik im Ortheilschen Oeuvre habe ich mehrmals verwiesen, siehe dazu u.a. mein Buch "... als wären diese Räume mir nahe, als wären es auch meine eigenen Räume". Studien zum Werk von Hanns-Josef Ortheil, Warszawa 2009 und meine Beiträge: "... ein Narkotikum, das ich am liebsten sofort verboten oder auf andere Weise ausgeschaltet hätte". Zu Fryderyk Chopin und seiner Musik im Roman "Die Erfindung des Lebens" von Hanns-Josef Ortheil, in: Lech Kolago, Katarzyna Grzywka, Malgorzata Filipowicz (Hg.) unter Mitwirkung von Joanna Godlewicz-Adamiec, Anna Jaglowska, Maciej Jedrzejewski, Piotr Kociumbas, Robert Malecki, Dominika Wyrzykiewicz: Deutsch-polnische Beziehungen in Kultur und Literatur, Bd. 4: Materialien der Konferenz 13.-15. April 2012, Reymontówka-Schriftstellerheim in Chlewiska, Warszawa 2012, S. 29-39; "(...) keine Melodie, sondern ein unendlich langsames, meditatives Abschreiten eines leeren Raumes, Ton für Ton". Zur altjapanischen Musik im Roman "Liebesnähe" von Hanns-Josef Ortheil, w: Orbis Linguarum, Vol. 39: Festschrift zum achtzigsten Geburtstag von Prof. Dr. Dr. h. c. Norbert Heisig, hg. v. Edward Bialek, Marek Bojarski, Aleksandra Kubicz und Gerhard M. Oremek, Dresden/Wroclaw 2013, S. 173-185; Hannsa-Josefa Ortheila fascynacje muzyczne, in: Katarzyna Grzywka-Kolago, Lech Kolago, Maciej Jedrzejewski, Robert Malecki (Red.): Karly na ramionach olbrzymów? Kultura niemieckiego obszaru jezykowego w dialogu z tradycja, t. I, Warszawa 2015, S. 37-49.


Hanns-Josef Ortheil:
Die Insel der Dolci.
In den süßen Paradiesen Siziliens.
Fotos von Lotta Ortheil.
btb Verlag, München 2015
155 Seiten

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Quelle:
© 2016 by Katarzyna Grzywka
Mit freundlicher Genehmigung der Autorin


veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Januar 2016

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