Hanns-Josef Ortheil
Glaubensmomente
von Katarzyna Grzywka (Universität Warschau), November 2016
In dem Land, aus dem ich stamme, gehört der katholische Glaube beinahe zu den nationalen Selbstverständlichkeiten, denn die meisten Polen betrachten sich als katholisch. Ob diese stereotyp anmutende Überzeugung eine unangefochtene Bestätigung in der alltäglichen Praxis des Religiösen findet, ist eine andere Frage. Das Schreiben vom persönlichen Erleben des Glaubens wäre also in meinem Lande nichts Außergewöhnliches und das neueste, hier zu besprechende Buch von Hanns-Josef Ortheil wäre höchstwahrscheinlich auf große Resonanz gestoßen, falls es auf Polnisch verfasst wäre. Denn die in dieser Publikation präsentierten Bilder, Reflexionen, Bemerkungen können in meinem Lande in der Tat vertraut vorkommen. Mir sind sie auf jeden Fall vertraut: Die Erinnerungen an die einfache, nicht zu erschütternde Frömmigkeit der Großeltern und die eher pragmatischer orientierte der Eltern, aber auch an die heiligen Bilder im Wohnzimmer der Oma, den sonntäglichen Gang zum Hochamt, den Verlauf des Jahres nach dem Rhythmus der kirchlichen Feste - die Erinnerungen an die Rituale des Glaubens, in den man hineingeboren worden ist und den man durch das ganze Leben mit sich trägt, sich an ihm orientiert, ihn als natürliches Element des Daseins betrachtet, ohne kindlich zu fragen 'warum?', obwohl diesem Glauben etwas Kindliches anhaftet. Aber in den Glaubensmomenten geht es, wie es mir scheint, in erster Linie nicht um die Auseinandersetzung mit den Erscheinungen des Katholizismus in der eigenen Familie des Schriftstellers, also jenen Bildern des Religiösen, die ich aus meiner eigenen Erfahrung auch kenne, sondern - so wie immer in seinen Werken - um viel mehr. Und dieses Viel-Mehr bedeutet in diesem Falle nicht nur eine weitere Etappe in der Beschäftigung mit den eigenen Wurzeln und somit der familiären Vergangenheit, sondern auch die unermüdliche Suche nach den Verflechtungen zwischen der eigenen Biografie und dem eigenen literarischen Text, das Enträtseln von den auf der 'Oberfläche' des Geschriebenen lediglich durchschimmernden Verbindungen zwischen dem Ich des Autors und dem seiner literarischen Gestalten, die so oft den viel sagenden Namen Johannes tragen. Denn ein unüberschätzbarer Wert dieser unauffälligen, subtilen, mit großer editorischer Sorgfalt herausgegebenen Veröffentlichung beruht vordergründig nicht darauf, dass sie Fragmente der Ortheilschen Werke enthält, in denen das Thema des Glaubens thematisiert wird (es lässt sich annehmen, dass der treue Leser sie kennt), sondern vielmehr darauf, dass jedes dieser Fragmente von dem Verfasser erklärend kommentiert und ergänzt wird und somit in einem neuen Licht erscheint. Eine solche autopoietische Strategie der Beschäftigung mit den eigenen literarischen Texten ist nicht neu, denn der Schriftsteller verwendete sie bereits in den vor einigen Monaten erschienenen Glücksmomenten, aber auch - in Form eines ausgebauten Vorwortes - in der erweiterten Ausgabe des Blauen Weges, um an dieser Stelle lediglich auf die in den letzten Jahren herausgegeben Werke zu verweisen. Aber gerade diese autoreflexiven, von liebenswertem Humor, auch scharfsinniger Selbstironie durchtränkten Passagen machen den außergewöhnlichen Reiz der Glaubensmomente aus, denn in gewissem Sinne laden sie den Leser zum Dialog mit dem Autor ein, der nun die Gelegenheit hat, die möglichen Mutmaßungen des Rezipienten entweder zu bestätigen oder zu berichtigen, indem er das Fiktive aus einer zeitlichen Distanz betrachtet, relativiert, selber interpretiert.
Was mir aber besonders an diesem Buch gefällt, ist der in ihm präsente
Blick auf den Glauben durch das Prisma des Räumlichen. Denn viel
Aufmerksamkeit wird hier in der Tat den Räumen gewidmet, die mit dem
Glauben in vielerlei Hinsicht in Berührung kommen, in denen also der
Glauben praktiziert, zur Schau gestellt wird und in die er gehört, in
denen er aber auch kontempliert oder lediglich vermutet wird; den
Räumen, in denen die in der Erinnerung haftenden Emanationen des
Religiösen ihren festen Platz haben, wie die Bilder Peter Heckers in
der alten Dorfkirche in Wissen an der Sieg, ein Marienbild in dem
einschiffigen Kölner "Kirchlein" (S. 15), die Kopie von Stefan
Lochners Muttergottes in der Rosenlaube im Esszimmer des
Großelternhauses, die Statue des heiligen Josef im Essener Pfarrhaus
des Onkels, Guido Renis Kreuzigung in der römischen Kirche San
Lorenzo in Lucina, Stefan Lochners Altar in der Marienkapelle des
Kölner Domes, "ein[...] leise[s] Mitsingen des letzten Kirchenlieds"
(S. 200) im Mainzer Dom, die gregorianischen Choräle in einer
Klosterkirche... Im Element des Elephanten nannte der
Schriftsteller den gregorianischen Choral die Musik, "die [ihm - K.G.]
in der Kindheit die vollkommenste und ergreifendste überhaupt war"
[1], jetzt, in den Glaubensmomenten beteuert er seine nach wie
vor dauernde Verbundenheit mit dieser Form der Tonkunst und gibt zu:
"es vergeht kaum ein Tag, an dem ich nicht diese uralte Musik höre,
die mir nicht als »Musik« im konventionellen Sinn erscheint, sondern
als ein in wenige Tonschritte gekleidetes Beten" (S. 105). Denn
der Glaube manifestiert sich in der Musik auf eine einzigartige Art
und Weise, auch in den Werken der Glaubenden, wie denen Johann
Sebastian Bachs, dessen Kompositionen Hanns-Josef Ortheils Meinung
nach "aus dem Leiden an dieser Welt und der nicht zu tilgenden
Hoffnung [bestehen - K.G.], dass dieses Leiden sich im Glauben
überwinden ließe" (S. 135). Eine herausragende Rolle spielt in dem
Glaubenserlebnis des Schriftstellers also die Beschäftigung mit der
Kunst, deren augenscheinliche Präsenz im sakralen Raum ihm den Rang
eines Gesamtkunstwerkes (und dem religiösen Erlebnis in diesem Raum
den Rang eines mehrschichtigen Gesamterlebnisses) verleiht, dessen
Grundlage eine "uralte[...] Ästhetik" bildet: "Im [Kölner -
K.G.] Dom lernte ich die Anfangsgründe einer uralten Ästhetik, nämlich
der der »Schönen, Guten und Wahren« - und das genau in dieser
Reihenfolge und Kombination. Das Schöne bestand aus Bildern,
Plastiken, Farben und viel Musik. Das Gute bestand aus den
Empfehlungen des Neuen Testaments für ein richtiges Leben. Und das
Wahre bestand aus den Glaubensinhalten selbst und aus all ihren schwer
zu ergründenden Geheimnissen" (S. 30). Von dem im religiösen
Kontext Zu-Ergründenden ist übrigens im Text mehrmals die Rede, als
wäre das Verb "ergründen" als einer der Schlüssel zum Verständnis der
Glaubenserfahrung zu deuten. Denn nicht nur die Geheimnisse der
Glaubensinhalte wollen ergründet werden, auch die sakralen Räume
bedürfen derselben bedächtigen, geduldigen Aneignung und damit des
detaillierten, ruhigen, meditativ anmutenden Studierens: "Das
»Ergründen« [einer Kirche - K.G.] dauerte seine Zeit, und es bestand
darin, dass wir uns alle nur sichtbaren Details der Kirche (ihren
Aufbau, ihre Figuren, ihre Gemälde, einfach alles) sehr genau
anschauten.
Das geschah mit Hilfe eines kleinen Fernglases und meist auch mit der
Hilfe eines Kirchenführers. Wir lasen uns die Texte vor, und wir
blickten durch das Fernglas, um jede Einzelheit aus der größtmöglichen
Nähe zu sehen. Das Ganze war ein geduldiges Studium, durch das wir
genauer zu begreifen versuchten, warum es in der jeweiligen Kirche
bestimmte Details oder Besonderheiten gab und in welcher Beziehung sie
zur Umgebung standen.
Wenn wir das taten, widmeten wir uns den schönen »Facetten« des
Glaubens. Wir erfuhren von Heiligen, von denen wir noch nie gehört
oder gelesen hatten, und wir dachten darüber nach, warum diese
Heiligen in den jeweiligen Orten verehrt wurden. Der Glaube erschien
und also einerseits in seiner regionalen Ausprägung, andererseits aber
auch als ein weltumspannendes Netz, in dem die regionale Besonderheit
nur eine Erzählung oder Geschichte unter Tausenden von anderen
Geschichten war" (S. 76). So erscheinen die Räume des Religiösen
als Stationen in der Geschichte des Ortheilschen Glaubens: "Hatte
ich im Kirchlein meiner Kindheit erfahren, was Meditation ist und wie
man sie praktiziert, so lernte ich im Kölner Dom das genaue Sehen und
Hören" (S. 29), und die Art und Weise der individuellen
Beschäftigung mit den in ihnen aufbewahrten materiellen Erscheinungen
des Religiösen - als Sinnbild der familiären Identität: "So war die
»Muttergottes in der Rosenlaube«, die sich heute im Kölner
Wallraf-Richartz-Museum befindet, ein Spiegel all der
Verschiedenheiten und Unterschiede, die es in unserer Familie gab"
(S. 22). Einen relevanten Bestandteil dieser Identität macht die
mehrmals in
Hanns-Josef Ortheils Werken thematisierte Erfahrung des Verlustes und
somit der behutsamen Aufarbeitung der traumatischen Vergangenheit aus,
die das Leben dieser Familie und somit des Autors in hohem Grade
geprägt hat, das aber nur dank dem Glauben, den der Schriftsteller als
"das wichtigste Fundament" (S. 62) des Lebens auffasst,
gerettet werden konnte. Und obwohl die Glaubensmomente sich
hauptsächlich auf die Glaubenserfahrung der ersten vier Jahrzehnte von
Hanns-Josef Ortheils Leben beziehen, sagt dieses Buch - so wie die
Tatsache, dass es überhaupt und gerade jetzt, da der Verfasser seinen
65. Geburtstag feiert, herausgebracht worden ist - viel von der
Geschichte seines Glaubens schlechthin: "Was kann ich also zum
Abschluss höchstens noch sagen? Dass ich (auf erstaunliche Weise) bis
heute ein Glaubender geblieben bin und den frühen Kinderglauben trotz
aller Verwandlungen (von denen ich so gerne noch viel ausführlicher
erzählen würde) eigentlich nie verloren habe. Und dass ich diesen
Glauben, »so Gott will«, weiter und weiter behalten werde, bis an mein
Ende" (S. 256). Nur dieses "Ende" zum Schluss gefällt mir nicht.
Obwohl ich im Grunde genommen derselben Meinung bin und durchaus
verstehe, was der Autor mit diesem "Ende" sagen wollte, möchte ich in
Bezug auf meinen Lieblingsschriftsteller dieses Wort weder lesen noch
hören. Lieber würde ich von jenen Verwandlungen erfahren, die der
Autor in der oben zitierten Passage geheimnisvoll andeutet, und
irgendwann die Möglichkeit haben, das von ihm erträumte Buch über den
Kölner Dom in die Hand zu nehmen, wo er "... diese einsame schwarze
Insel mit den erleuchteten Küsten aus Silber und Gold" [2] "Stück für
Stück" (S. 209), "in allen Einzelheiten" (S. 208) beschreiben, ja,
ergründen wird - allen rationalen Hindernissen zum Trotz. Und an die
Durchführbarkeit dieser Idee möchte ich auch glauben.
Prof. Dr. habil. Katarzyna Grzywka ist Professorin für
Neuere Literatur- und Kulturgeschichte des deutschsprachigen Raumes
und leitet die Abteilung für Kultur- und Literaturkomparatistik am
Germanistischen Institut der Universität Warschau.
[1] Hanns-Josef Ortheil: Das Element des Elephanten. Wie mein Schreiben begann. München 2001, S. 44.
[2] Hanns-Josef Ortheil: Die geheimen Stunden der Nacht. München 2005, S. 255.
Hanns-Josef Ortheil:
Glaubensmomente.
btb Verlag, München 2016
278 S.
*
Quelle:
© 2016 by Katarzyna Grzywka
Mit freundlicher Genehmigung der Autorin
veröffentlicht im Schattenblick zum 4. November 2016
Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang