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BUCHBESPRECHUNG/003: "Glaubensmomente" von Hanns-Josef Ortheil (Anthologie) (Katarzyna Grzywka)


Hanns-Josef Ortheil

Glaubensmomente


von Katarzyna Grzywka (Universität Warschau), November 2016

In dem Land, aus dem ich stamme, gehört der katholische Glaube beinahe zu den nationalen Selbstverständlichkeiten, denn die meisten Polen betrachten sich als katholisch. Ob diese stereotyp anmutende Überzeugung eine unangefochtene Bestätigung in der alltäglichen Praxis des Religiösen findet, ist eine andere Frage. Das Schreiben vom persönlichen Erleben des Glaubens wäre also in meinem Lande nichts Außergewöhnliches und das neueste, hier zu besprechende Buch von Hanns-Josef Ortheil wäre höchstwahrscheinlich auf große Resonanz gestoßen, falls es auf Polnisch verfasst wäre. Denn die in dieser Publikation präsentierten Bilder, Reflexionen, Bemerkungen können in meinem Lande in der Tat vertraut vorkommen. Mir sind sie auf jeden Fall vertraut: Die Erinnerungen an die einfache, nicht zu erschütternde Frömmigkeit der Großeltern und die eher pragmatischer orientierte der Eltern, aber auch an die heiligen Bilder im Wohnzimmer der Oma, den sonntäglichen Gang zum Hochamt, den Verlauf des Jahres nach dem Rhythmus der kirchlichen Feste - die Erinnerungen an die Rituale des Glaubens, in den man hineingeboren worden ist und den man durch das ganze Leben mit sich trägt, sich an ihm orientiert, ihn als natürliches Element des Daseins betrachtet, ohne kindlich zu fragen 'warum?', obwohl diesem Glauben etwas Kindliches anhaftet. Aber in den Glaubensmomenten geht es, wie es mir scheint, in erster Linie nicht um die Auseinandersetzung mit den Erscheinungen des Katholizismus in der eigenen Familie des Schriftstellers, also jenen Bildern des Religiösen, die ich aus meiner eigenen Erfahrung auch kenne, sondern - so wie immer in seinen Werken - um viel mehr. Und dieses Viel-Mehr bedeutet in diesem Falle nicht nur eine weitere Etappe in der Beschäftigung mit den eigenen Wurzeln und somit der familiären Vergangenheit, sondern auch die unermüdliche Suche nach den Verflechtungen zwischen der eigenen Biografie und dem eigenen literarischen Text, das Enträtseln von den auf der 'Oberfläche' des Geschriebenen lediglich durchschimmernden Verbindungen zwischen dem Ich des Autors und dem seiner literarischen Gestalten, die so oft den viel sagenden Namen Johannes tragen. Denn ein unüberschätzbarer Wert dieser unauffälligen, subtilen, mit großer editorischer Sorgfalt herausgegebenen Veröffentlichung beruht vordergründig nicht darauf, dass sie Fragmente der Ortheilschen Werke enthält, in denen das Thema des Glaubens thematisiert wird (es lässt sich annehmen, dass der treue Leser sie kennt), sondern vielmehr darauf, dass jedes dieser Fragmente von dem Verfasser erklärend kommentiert und ergänzt wird und somit in einem neuen Licht erscheint. Eine solche autopoietische Strategie der Beschäftigung mit den eigenen literarischen Texten ist nicht neu, denn der Schriftsteller verwendete sie bereits in den vor einigen Monaten erschienenen Glücksmomenten, aber auch - in Form eines ausgebauten Vorwortes - in der erweiterten Ausgabe des Blauen Weges, um an dieser Stelle lediglich auf die in den letzten Jahren herausgegeben Werke zu verweisen. Aber gerade diese autoreflexiven, von liebenswertem Humor, auch scharfsinniger Selbstironie durchtränkten Passagen machen den außergewöhnlichen Reiz der Glaubensmomente aus, denn in gewissem Sinne laden sie den Leser zum Dialog mit dem Autor ein, der nun die Gelegenheit hat, die möglichen Mutmaßungen des Rezipienten entweder zu bestätigen oder zu berichtigen, indem er das Fiktive aus einer zeitlichen Distanz betrachtet, relativiert, selber interpretiert.

Was mir aber besonders an diesem Buch gefällt, ist der in ihm präsente Blick auf den Glauben durch das Prisma des Räumlichen. Denn viel Aufmerksamkeit wird hier in der Tat den Räumen gewidmet, die mit dem Glauben in vielerlei Hinsicht in Berührung kommen, in denen also der Glauben praktiziert, zur Schau gestellt wird und in die er gehört, in denen er aber auch kontempliert oder lediglich vermutet wird; den Räumen, in denen die in der Erinnerung haftenden Emanationen des Religiösen ihren festen Platz haben, wie die Bilder Peter Heckers in der alten Dorfkirche in Wissen an der Sieg, ein Marienbild in dem einschiffigen Kölner "Kirchlein" (S. 15), die Kopie von Stefan Lochners Muttergottes in der Rosenlaube im Esszimmer des Großelternhauses, die Statue des heiligen Josef im Essener Pfarrhaus des Onkels, Guido Renis Kreuzigung in der römischen Kirche San Lorenzo in Lucina, Stefan Lochners Altar in der Marienkapelle des Kölner Domes, "ein[...] leise[s] Mitsingen des letzten Kirchenlieds" (S. 200) im Mainzer Dom, die gregorianischen Choräle in einer Klosterkirche... Im Element des Elephanten nannte der Schriftsteller den gregorianischen Choral die Musik, "die [ihm - K.G.] in der Kindheit die vollkommenste und ergreifendste überhaupt war" [1], jetzt, in den Glaubensmomenten beteuert er seine nach wie vor dauernde Verbundenheit mit dieser Form der Tonkunst und gibt zu: "es vergeht kaum ein Tag, an dem ich nicht diese uralte Musik höre, die mir nicht als »Musik« im konventionellen Sinn erscheint, sondern als ein in wenige Tonschritte gekleidetes Beten" (S. 105). Denn der Glaube manifestiert sich in der Musik auf eine einzigartige Art und Weise, auch in den Werken der Glaubenden, wie denen Johann Sebastian Bachs, dessen Kompositionen Hanns-Josef Ortheils Meinung nach "aus dem Leiden an dieser Welt und der nicht zu tilgenden Hoffnung [bestehen - K.G.], dass dieses Leiden sich im Glauben überwinden ließe" (S. 135). Eine herausragende Rolle spielt in dem Glaubenserlebnis des Schriftstellers also die Beschäftigung mit der Kunst, deren augenscheinliche Präsenz im sakralen Raum ihm den Rang eines Gesamtkunstwerkes (und dem religiösen Erlebnis in diesem Raum den Rang eines mehrschichtigen Gesamterlebnisses) verleiht, dessen Grundlage eine "uralte[...] Ästhetik" bildet: "Im [Kölner - K.G.] Dom lernte ich die Anfangsgründe einer uralten Ästhetik, nämlich der der »Schönen, Guten und Wahren« - und das genau in dieser Reihenfolge und Kombination. Das Schöne bestand aus Bildern, Plastiken, Farben und viel Musik. Das Gute bestand aus den Empfehlungen des Neuen Testaments für ein richtiges Leben. Und das Wahre bestand aus den Glaubensinhalten selbst und aus all ihren schwer zu ergründenden Geheimnissen" (S. 30). Von dem im religiösen Kontext Zu-Ergründenden ist übrigens im Text mehrmals die Rede, als wäre das Verb "ergründen" als einer der Schlüssel zum Verständnis der Glaubenserfahrung zu deuten. Denn nicht nur die Geheimnisse der Glaubensinhalte wollen ergründet werden, auch die sakralen Räume bedürfen derselben bedächtigen, geduldigen Aneignung und damit des detaillierten, ruhigen, meditativ anmutenden Studierens: "Das »Ergründen« [einer Kirche - K.G.] dauerte seine Zeit, und es bestand darin, dass wir uns alle nur sichtbaren Details der Kirche (ihren Aufbau, ihre Figuren, ihre Gemälde, einfach alles) sehr genau anschauten.
Das geschah mit Hilfe eines kleinen Fernglases und meist auch mit der Hilfe eines Kirchenführers. Wir lasen uns die Texte vor, und wir blickten durch das Fernglas, um jede Einzelheit aus der größtmöglichen Nähe zu sehen. Das Ganze war ein geduldiges Studium, durch das wir genauer zu begreifen versuchten, warum es in der jeweiligen Kirche bestimmte Details oder Besonderheiten gab und in welcher Beziehung sie zur Umgebung standen.
Wenn wir das taten, widmeten wir uns den schönen »Facetten« des Glaubens. Wir erfuhren von Heiligen, von denen wir noch nie gehört oder gelesen hatten, und wir dachten darüber nach, warum diese Heiligen in den jeweiligen Orten verehrt wurden. Der Glaube erschien und also einerseits in seiner regionalen Ausprägung, andererseits aber auch als ein weltumspannendes Netz, in dem die regionale Besonderheit nur eine Erzählung oder Geschichte unter Tausenden von anderen Geschichten war"
(S. 76). So erscheinen die Räume des Religiösen als Stationen in der Geschichte des Ortheilschen Glaubens: "Hatte ich im Kirchlein meiner Kindheit erfahren, was Meditation ist und wie man sie praktiziert, so lernte ich im Kölner Dom das genaue Sehen und Hören" (S. 29), und die Art und Weise der individuellen Beschäftigung mit den in ihnen aufbewahrten materiellen Erscheinungen des Religiösen - als Sinnbild der familiären Identität: "So war die »Muttergottes in der Rosenlaube«, die sich heute im Kölner Wallraf-Richartz-Museum befindet, ein Spiegel all der Verschiedenheiten und Unterschiede, die es in unserer Familie gab" (S. 22). Einen relevanten Bestandteil dieser Identität macht die mehrmals in Hanns-Josef Ortheils Werken thematisierte Erfahrung des Verlustes und somit der behutsamen Aufarbeitung der traumatischen Vergangenheit aus, die das Leben dieser Familie und somit des Autors in hohem Grade geprägt hat, das aber nur dank dem Glauben, den der Schriftsteller als "das wichtigste Fundament" (S. 62) des Lebens auffasst, gerettet werden konnte. Und obwohl die Glaubensmomente sich hauptsächlich auf die Glaubenserfahrung der ersten vier Jahrzehnte von Hanns-Josef Ortheils Leben beziehen, sagt dieses Buch - so wie die Tatsache, dass es überhaupt und gerade jetzt, da der Verfasser seinen 65. Geburtstag feiert, herausgebracht worden ist - viel von der Geschichte seines Glaubens schlechthin: "Was kann ich also zum Abschluss höchstens noch sagen? Dass ich (auf erstaunliche Weise) bis heute ein Glaubender geblieben bin und den frühen Kinderglauben trotz aller Verwandlungen (von denen ich so gerne noch viel ausführlicher erzählen würde) eigentlich nie verloren habe. Und dass ich diesen Glauben, »so Gott will«, weiter und weiter behalten werde, bis an mein Ende" (S. 256). Nur dieses "Ende" zum Schluss gefällt mir nicht. Obwohl ich im Grunde genommen derselben Meinung bin und durchaus verstehe, was der Autor mit diesem "Ende" sagen wollte, möchte ich in Bezug auf meinen Lieblingsschriftsteller dieses Wort weder lesen noch hören. Lieber würde ich von jenen Verwandlungen erfahren, die der Autor in der oben zitierten Passage geheimnisvoll andeutet, und irgendwann die Möglichkeit haben, das von ihm erträumte Buch über den Kölner Dom in die Hand zu nehmen, wo er "... diese einsame schwarze Insel mit den erleuchteten Küsten aus Silber und Gold" [2] "Stück für Stück" (S. 209), "in allen Einzelheiten" (S. 208) beschreiben, ja, ergründen wird - allen rationalen Hindernissen zum Trotz. Und an die Durchführbarkeit dieser Idee möchte ich auch glauben.


Prof. Dr. habil. Katarzyna Grzywka ist Professorin für Neuere Literatur- und Kulturgeschichte des deutschsprachigen Raumes und leitet die Abteilung für Kultur- und Literaturkomparatistik am Germanistischen Institut der Universität Warschau.


Anmerkungen:

[1] Hanns-Josef Ortheil: Das Element des Elephanten. Wie mein Schreiben begann. München 2001, S. 44.

[2] Hanns-Josef Ortheil: Die geheimen Stunden der Nacht. München 2005, S. 255.


Hanns-Josef Ortheil:
Glaubensmomente.
btb Verlag, München 2016
278 S.

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Quelle:
© 2016 by Katarzyna Grzywka
Mit freundlicher Genehmigung der Autorin


veröffentlicht im Schattenblick zum 4. November 2016

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