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BUCHBESPRECHUNG/004: "Musikmomente" von Hanns-Josef Ortheil (Katarzyna Grzywka)


Hanns-Josef Ortheil
Musikmomente


von Katarzyna Grzywka (Universität Warschau), August 2018

Das 2018 im btb Verlag erschienene Buch Musikmomente von Hannns-Josef Ortheil habe ich im Urlaub gelesen - so, wie man im Urlaub nicht selten lebt: aus der Routine des Alltags ausbrechend, um die Gedanken einmal richtig durchzulüften. Ich las also den zu besprechenden Band unsystematisch, mal hier, mal da hereinschauend, das zum Moment der Lektüre, zur Atmosphäre und zur Umgebung Passende aussuchend. (Intuitiv habe ich also - im Grunde genommen - mit Hanns-Josef Ortheils Publikation das gemacht, was er oft mit Musik tut (1)). Dieser Lesemodus ergab sich aber nicht nur aus der Urlaubsituation, sondern auch daraus, dass ich all die Fragmente (2), die in Musikmomenten abgedruckt sind und die der Schriftsteller mit einleitenden Kommentaren versehen hat, zuvor bereits gelesen hatte, manche sogar mehrmals. Und eben deshalb sind es vorrangig die gerade angesprochenen, autoreflexiven Kommentare des Verfassers, die auf mich besonders anziehend wirkten. Denn sie erklären nicht nur den autobiografischen Hintergrund seiner literarischen Praxis, sondern laden - mindestens in gewissem Sinne - in die Schreibstube des Romanciers, in seine schriftstellerische Werkstatt ein, decken die diesen Raum füllenden Rituale auf, verweisen auf Details, erlauben also, einen Blick hinter die Kulissen seiner 'Lust am Schreiben' zu werfen, die sich ohne seine 'Lust an Musik' nicht verstehen lässt (es wäre jedenfalls nicht ratsam). Und so gelange ich zum eigentlichen Thema dieses - auch in ästhetischer Hinsicht - schönen und liebevoll komponierten Buches, von dem bereits der Umschlag einiges verrät. Denn im Mittelpunkt der Publikation stehen Hanns-Josef Ortheils Faszination für Musik sowie die Art und Weise, wie diese seinem Schaffen zugrunde liegen und es prägen. Von "Musikmomenten" wird hier in der Tat erzählt: von seinen ersten Musikbegegnungen in der Kölner Wohnung der Eltern, den frühen Klavierübungen und Improvisationen, dem systematischen Musikunterricht bei etablierten Meistern und weiteren, mit Musik aufs Engste verbundenen Lebensstationen des heranwachsenden, reifenden Pianisten, der schließlich doch Schriftsteller wurde, obwohl er das nicht wollte: aus Not, aber auch aus Liebe - sowohl zur Musik als auch zum Text, der im Falle Hanns-Josef Ortheils nicht selten zum Musiktext wird: "Die Metamorphose eines Pianisten in einen Schriftsteller ist mir erst in einem langen Prozess und auf nicht vorherseh- oder planbaren Wegen gelungen. Schriftsteller hatte ich nie werden wollen, obwohl ich seit der Kindheit viel notiert und geschrieben habe. Schritt für Schritt hat sich dann aber meine Begeisterung für die Musik in eine Begeisterung für das Schreiben über Musik und das »musikalische Schreiben« (tönend, klangvoll, rhythmisiert) verwandelt" (S. 8). Es ist aber auch eine Erzählung über Hanns-Josef Ortheils musikalische Vorlieben: öffentliche Auftritte, seine Beziehung zu Konzerten, Zukunftsprojekte und natürlich Lieblingskomponisten, unter denen Wolfgang Amadeus Mozart und Robert Schumann einen herausragenden Platz einnehmen:

Der dieses Buches über meine »Musikmomente« abschließende Text ist ein früher Versuch, meine Schumann-Besessenheit biografisch zu orten. Dieser Text ist nicht mehr als eine erste Skizze. Im Hinterkopf lebt jedoch seit Jahrzehnten ein viel größeres Projekt weiter, das ich mir noch für die Zukunft aufgehoben habe. Es ist das Projekt eines Schumann-Buches, das den Tiefen meiner Schumann-Begeisterung auf den Grund gehen soll.
  Manchmal habe ich das Gefühl, als liefe meine gesamte Musikfaszination auf genau dieses eine Buch zu und als könnte ich mit seiner Hilfe endlich deutlicher begreifen, woraus diese Faszination besteht. Noch liegt sie im Dunkeln, aber vielleicht ist gerade das der Grund, warum ich (auch außerhalb des Schumann-Themas) immer weiter mit Begeisterung über Musik schreibe. (S. 246-247) 

So steht im Vordergrund der vorliegenden Veröffentlichung die Musikfixierung des Schriftstellers, die sich im Musikinteresse seines Helden - oft seines Alter-Egos - niederschlägt. Es geht aber in diesem Buch nicht nur darum, auf die Möglichkeiten dieses Niederschlags zu verweisen, sondern auch - oder sogar primär - darum, was ich bereits angedeutet habe, nämlich auf die Präsenz des Musikalischen im Leben des Autors hinzudeuten - jene seiner Aktivitäten und Vorlieben, die ihn mit seinem früheren Pianistendasein verbinden, als hätte er dieses Dasein nie beendet: "Am stärksten lebt die Nähe zur Musik aber während der Lesungen aus meinen Büchern weiter. Wie in pianistischen Zeiten betrete ich eine Bühne, nehme Kontakt mit den Zuhörern auf, lese und verbeuge mich hinterher, als hätte ich gerade ein Musikstück gespielt. In Wahrheit habe ich auch das Gefühl, genau das getan zu haben: Ich habe (ersatzweise) Musik gemacht, nicht so enthusiastisch und unbedingt wie früher, aber immerhin doch stark begeistert und von den eigenen Klängen getragen" (S. 9). Hanns-Josef Ortheils Musikmomente sind somit ein vielsagendes Zeugnis des zum Schriftsteller gewordenen Musikliebhabers und kluger, aufschlussreicher Begleittext zu seinem aus 'Musikgeist' geborenen Schaffen:

Meine Verbindung zur Musik ist zwar nicht mehr die in der Kindheit erträumte, sie besteht aber weiterhin in einem extremen Maß. So höre ich während meiner schriftstellerischen Arbeit viel Musik, so begleiten mich alte und neue Stücke auch unterwegs und auf Reisen, und so schreibe ich viel über Musik, nicht unbedingt, um es zu veröffentlichen, sondern eher zu meinem eigenen Vergnügen. [...] Wie am Klavier kommen dann die Finger zum Einsatz - das ist die banalste Ähnlichkeit. Anstatt aber Töne hervorzubringen, bringen sie jetzt Texte hervor, die wie Musik gedacht sind. Und wie beim Musikhören erlebe ich klangliche Höhen und Tiefen sowie unterschiedliche Tempi, und ich erkenne Helles und Dunkles, Monochromes und Farbiges. So erhalte ich mir beim Schreiben die Illusion, mit Worten und Sätzen Musik zu machen. Und so gehe ich mit meinen Texten auf Reisen und zu Lesungen, um diese Wortmusik so vorzutragen, wie ich früher Stücke auf dem Klavier vortrug.
  Solche »Ersatzhandlungen« halten mich jetzt am Leben. Wenn ich ehrlich bin, kann ich nicht behaupten, dass sie mir das Klavierspiel wirklich komplett ersetzen. Aber auch sie machen mir große Freude und führen im besten Fall dazu, dass ich mich nach einer Lesung auf einer Bühne ähnlich verbeuge, wie ich mich früher als Pianist verbeugt habe. Das »Spiel« ist also keineswegs zu Ende, es hat nur andere Konturen angenommen, mit denen ich aber durchaus leben kann, und das sogar manchmal begeistert. (S. 237-238) 


Anmerkungen:

(1) Siehe hierzu z.B. Hanns-Josef Ortheil: Das Glück der Musik. Vom Vergnügen, Mozart zu hören. München 2006.

(2) Sie stammen aus folgenden Veröffentlichungen: Das Glück der Musik. Vom Vergnügen, Mozart zu hören (2006), Das Verlangen nach Liebe. Roman (2007), Der Stift und das Papier. Roman einer Passion (2015), Die Berlinreise. Roman eines Nachgeborenen (2014), Die Erfindung des Lebens. Roman (2009), Die Insel der Dolci. In den süßen Paradiesen Siziliens (2013), Die Moselreise. Roman eines Kindes (2010), Die Nacht des Don Juan. Roman (2000), Die weißen Inseln der Zeit. Orte. Bilder. Lektüren (2004). Mozart - im Inneren seiner Sprachen (1982), Was ich liebe - und was nicht (2016).


Hanns-Josef Ortheil:
Musikmomente.
btb Verlag, München 2018
282 S.

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Quelle:
© 2018 by Katarzyna Grzywka
Mit freundlicher Genehmigung der Autorin


veröffentlicht im Schattenblick zum 8. August 2018

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