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BUCHBESPRECHUNG/005: "Ombra. Roman einer Wiedergeburt" von Hanns-Josef Ortheil (Katarzyna Grzywka-Kolago)


Hanns-Josef Ortheil
Ombra. Roman einer Wiedergeburt


von Katarzyna Grzywka-Kolago (Universität Warschau), Januar 2022

Der 2021 im Luchterhand erschienene Roman "Ombra" von Hanns-Josef Ortheil lässt sich als ein Text über Krankheit und Genesung, über den Kampf um die Rückkehr zur Normalität und über den mühsamen Weg zur Akzeptanz dessen, was passiert ist, verstehen. Und wieder - wie so oft bei Ortheil - ist er stark autobiographisch gefärbt, denn ohne die esundheitlichen Probleme und den langwierigen Prozess der Heilung des Schriftstellers wäre "Ombra" nicht entstanden. Zugrunde liegt dem Buch also zunächst eine schwere Herzkrankheit, dann die lebensrettende Operation des Romanciers und ein darauffolgender Aufenthalt in einer Rehaklinik im Westerwald. All diese Erfahrungen sind feste Bestandteile vom Romanleben des Ich-Erzählers, der - so lässt sich vermuten - die Ängste, kleine Freuden und große Hürden des Alltags mit dem Autor des Textes teilt, auch wenn sie uns in literarischer Bearbeitung und nicht selten mit humorvoller Distanz dargeboten werden. Viel wird hier von der Angst erzählt, von einer alten, bereits in der Kindheit erlebten Angst - wieder ein autobiographischer Zug des Werkes -, "nicht mehr weiterzuwissen. Plötzlich von einem Dunkel verschlungen zu werden. Bis zu Reglosigkeit zu erstarren" (S. 9). Bedeutete aber die dem Kind Ortheil widerfahrene Erstarrung, auf die er in seinen literarischen Texten häufig zu sprechen kommt, einen vorübergehenden Zustand der Reglosigkeit und Stummheit, so könnte sie im Falle des erwachsenen Schriftstellers sowie des Ich-Erzählers mit dem Tod gleichgesetzt werden, also mit einer Enderfahrung, aus der es keine Rückkehr mehr gibt. Aber es geht hier auch um die Angst vor der dauerhaften Unfähigkeit, als Schriftsteller schreiben und als Pianist spielen zu können. Es ist also die Angst vor einem "Zerfall": "Ich werde zu einem Wrack mutieren, das langsam zerfällt. Dieser Zerfall steht mir täglich vor Augen" (S. 13).

Wir lernen den Ich-Erzähler einen Monat nach der fünfstündigen Operation und nach der Zeit, in der er auf der Intensivstation im Koma lag, kennen. "Hilflos und amputiert" (S. 11) fühlt er sich in dieser neuen Situation, zumal er - wie gesagt - nicht mehr imstande ist, zu schreiben und Klavier zu spielen. Als wäre er nun der "liebsten Beschäftigungen" (S. 13) beraubt, die ihm beinahe in seinem ganzen Leben Halt gaben und Sinn verschafften. Nun muss er in vielerlei Hinsicht von vorne beginnen, mit der Geschichte seiner Erkrankung zurechtkommen und ihre Folgen akzeptieren, um zu einem neuen Leben wiedergeboren zu werden. Daher auch der zweite Teil des Romantitels, dem - trotz all des Ernstes, der Ortheils Werk grundiert - viel Heiteres anhaftet und auf das gute Ende der Story hoffen lässt. Dies bestätigt auch die Existenz des Romans selbst: Ist er entstanden, so musste sein Autor, dessen Alter-Ego der Ich-Erzähler ist, fähig sein, an ihm zu arbeiten, und dies heißt: Dieser Roman lässt sich als der handfeste Beweis einer Besserung schlechthin deuten. Es ist also ein vielsagendes Indiz dafür, dass der am Anfang des Werks artikulierte Wunsch, "[n]ach den Details dieser Geschichte" zu forschen, "um Halt und Orientierung zu finden" (S. 14), in Erfüllung gegangen ist. Signifikanterweise wählt der Ich-Erzähler für den Raum der Rekonvaleszenz sein Elternhaus im Westerwald. Von dort aus fährt er regelmäßig mit dem Zug zu einer nahe liegenden Rehaklinik, wo er sich acht Stunden lang täglich ambulant behandeln lässt, um dann in das alte elterliche Haus zurückzukehren, in dem auf ihn niemand wartet. Vielleicht wird sein hiesiges Leben deswegen von Tagträumen unterbrochen, in denen er seinen Eltern, aber auch Doktor Freud begegnet. Denn er hat vor, auch sein Leben vor der Operation zu sezieren: "Ich werde mich auf meine schwarze Couch legen, die Augen schließen, die Hände auf der Brust zusammenfalten und in Szenen meiner letzten Jahre zurückblenden" (S. 14). Oft von der Schlaflosigkeit geplagt, sitzt er allein in der Küche des so gut bekannten Hauses, trinkt Tee, den er "nicht besonders mag" (S. 37), und hört den Klängen der einzigen Musik zu, die ihn in dieser seltsamen Phase anspricht: der "Kunst der Fuge" von Johann Sebastian Bach.

Sein Prozess der Gesundung erfolgt auf zwei Ebenen: auf der Ebene der psychischen Auseinandersetzung mit sich selbst und der eigenen Vergangenheit, aber auch auf der Ebene der physischen Sorge um den Körper. Dies fällt dem Ich-Erzähler, der den Bedürfnissen seines Körpers offensichtlich bisher nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt hat, nicht leicht und führt manchmal zu Situationen, in denen er seinen Sinn für Humor offenbart. Er hat ein umfangreiches Programm in der Rehaklinik zu absolvieren: "Blutabnahme, Blutdruckmessen, EKG, eine erste gründliche Untersuchung. [...] Am Nachmittag werde ich mich in eine Entspannungsgruppe einreihen und zum Abschluss der Tages ein anderthalbstündiges Aufbau- und Ausdauertraining absolvieren. Zur Freude der Sporttherapeuten" (S. 28-29). Er wird auch u. a. angespornt, sein Ernährungsverhalten zu analysieren, Gehmeditation zu üben, sich mit dem "Theraband" (S. 77) bekannt zu machen, eine Psychologin aufzusuchen und in den Qigong-Stunden zu erscheinen: "Wie spricht man das aus?, frage ich die Trainerin. Sie schaut mich an, als wäre ich ein störender Flegel, der absichtlich dumme Fragen stellt. Anstatt zu antworten, legt sie eine vorwurfsvolle Pause ein und sagt laut: Chigung! - Man schreibt Kwigong und spricht Chigung?, wage ich zu fragen. - Sie haben ja gehört! Detaillierte Lektionen in der Aussprache von Mandarin-Chinesisch gebe ich nicht!" (S. 46-47). Was ihm hilft, sich von den "depressiven Schübe[n]" (S. 24) zu befreien, ist jedoch nicht nur das intensive Trainingsprogramm und somit der Kontakt mit Therapeuten in der Rehaklinik, sondern auch, oder vielleicht sogar vordergründig "ein großes Projekt" (S. 49), das er sich noch vor der Erkrankung ausgedacht hat und zu dem er nun schrittweise zurückkehrt:

"Im Zentrum meines ländlichen Kindheitsortes im Westerwald mietete ich damals einen leer stehenden Laden. Achtzig Quadratmeter. Mit großen Fensterflächen zur Straße und nach hinten, zum Hof.
Ich habe ihn nach italienischen Vorbildern Sala Ortheil getauft und an eine Ausstellung von Teilen unseres großen Familienarchivs gedacht. Eingerichtet wie ein privates Arbeitszimmer in Form eines Studiolo" (S. 49). 

Nun beginnt er, seine Arbeit an der Gestaltung der Sala fortzusetzen, wobei ihm ein Bekannter namens Matteo hilft, der in Ortheils Roman "Der Typ ist da" verewigt worden ist. Es ist übrigens nicht der einzige intertextuelle Bezug im Werk des Stuttgarter Romanciers, denn mehrmals kommt der Ich-Erzähler auf Ortheils literarische Texte zu sprechen und gibt sie als eigene an (z.B. S. 61, 73, 85, 108, 176, 179, 283). Dabei wird die Sala im Roman als ein multifunktioneller Raum gedeutet: Arbeitsraum, Galerie, Atelier sowie Ort der "visuelle[n] Genesungsprogramme" (S. 66) und der "Gesprächstherapie" (S. 285) mit dem eigenen Lektor in einem. Das Ergebnis dieser Gespräche, die der Ich-Erzähler "Graphoanalyse" (S. 283) nennt, ist sein und Ortheils weiteres Buch unter dem Titel "Ein Kosmos der Schrift", das parallel zu "Ombra" im Herbst 2021 im Verlag btb Taschenbuch erschienen ist: "Ich habe bereits einen Begriff für unser Gespräch: Graphoanalyse. Also keine Psychoanalyse, sondern eine Analyse meines Schreibens mit dem Blick auf die psychischen Wurzeln und Hintergründe. Wie finden Sie das? - Gut, nein, sehr gut! Werden Sie die Gespräche aufzeichnen? - Ja, das haben wir vor, Sie sollen in Buchform erscheinen. Ein Kosmos der Schrift wird der Titel sein" (S. 283). Der Kreis schließt sich: Der Schriftsteller wird wiedergeboren.

Ortheils "Ombra" ist ein durchaus optimistisches Buch über kleine Schritte der Genesung, die als ein heterogener, denn aus mehreren Elementen konstruierter Vorgang im Roman begriffen wird. Es ist zugleich ein Hoffnungszeichen auf die Möglichkeit der Rückkehr zum normalen Leben - für all diejenigen, die ähnliche Gesundheitsprobleme wie der Ich-Erzähler haben, aber auch für solche Leser, die in solche Kalamitäten nicht kommen wollen. Kurz: "Ombra" ist eine wünschenswerte Lektüre, beinahe für jeden aufmerksamen und sensiblen Rezipienten.

Hanns-Josef Ortheil
OMBRA
Roman einer Wiedergeburt
Penguin Random House Verlagsgruppe, 18. Oktober 2021
Hardcover mit Schutzumschlag
304 Seiten
Euro 24,00
ISBN: 978-3-630-87661-0

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Quelle:
© 2022 by Katarzyna Grzywka-Kolago
Mit freundlicher Genehmigung der Autorin

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 12. Februar 2022

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