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BUCHBESPRECHUNG/006: "Ein Kosmos der Schrift" von Hanns-Josef Ortheil (Imma Klemm, Hrsg.) (Katarzyna Grzywka-Kolago)


Hanns-Josef Ortheil
Imma Klemm (Hrsg.)


Ein Kosmos der Schrift

von Katarzyna Grzywka-Kolago (Universität Warschau), Februar 2022

Ein Kosmos der Schrift ist eine Festschrift. Es ist aber keine typische Festschrift für einen Wissenschaftler und Schriftsteller, an die die Leser solcher Bücher gewöhnt sind. Denn eine herkömmliche Festschrift besteht in den meisten Fällen aus mehr oder weniger wissenschaftlichen Beiträgen, die dem Jubilar gewidmet sind und häufig, wenn auch nicht immer, seine Interessengebiete betreffen. Ein Kosmos der Schrift ist in dieser Hinsicht ungewöhnlich, denn nach wissenschaftlichen Aufsätzen zum Werk des Geburtstagskindes sucht man hier vergeblich. Was man hier findet, sind Texte, die auf das Leben und Werk von Hanns-Josef Ortheil aus drei Perspektiven schauen und es beleuchten: erstens aus der persönlichen Perspektive des Autors selbst, zweitens aus dem Blickwinkel - umgangssprachlich formuliert - nackter Tatsachen und drittens aus der Sicht seiner Freunde und Bekannten. Diesen drei Betrachtungsweisen entsprechen drei Hauptteile des Buches:

Teil eins "Una vita - oder Herr Ortheil, wie haben Sie das gemacht?" ist ein umfangreiches, denn über 230 Seiten zählendes Gespräch zwischen Hanns-Josef Ortheil und seinem langjährigen Lektor Klaus Siblewski, der seine Texte seit 1998 betreut. Es ist eine lange intellektuelle, an vielen Stellen auch emotionale Auseinandersetzung mit den veröffentlichten wie auch nicht publizierten, in seinem imposanten Privatarchiv aufbewahrten Texten des Stuttgarter Autors und mit unterschiedlichen autobiografischen Wegen, die ihn zu seinen Romanen, Essays, Aufsätzen und Notizen geführt haben, die er seit der Kindheit an jedem Tag niederschreibt: geduldig und unermüdlich. Deswegen auch der Titel des Buches und seine Zielsetzung:

Klaus Siblewski (KS): Wären wir akribisch genau, hätten wir es in Deinem Fall, verknappt gesagt, mit drei Listen zu tun: der Deiner Bücher, der Deiner veröffentlichten und der Deiner unveröffentlichten Texte. Das Ganze nennst Du oft einen Kosmos, genauer gesagt, einen Kosmos der Schrift.

Ich kenne nichts Vergleichbares, es ist unglaublich, und das im wörtlichen Sinn: Man glaubt es kaum. Und da frage ich mich natürlich: Wie konnte es dazu kommen? Was liegt dem zugrunde? Woraus besteht dieser Kosmos? Wie kam es zu seinen Themen und miteinander verbundenen Gruppen? Was steckt hinter alldem, biografisch, emotional? Und wohin wird das noch führen? Über all diese Themen wollen wie wir miteinander sprechen, an mehreren Tagen. Wir wollen analysieren, was es mit Deinem Kosmos der Schrift auf sich hat (S. 11-12). 

Dass dieser Kosmos der Schrift aus über 70 Büchern besteht, wundert nicht, bedenkt man, dass das Schreiben im Fall dieses Schriftstellers stark "notwendig und existentiell" (S. 12), freudebereitend, aber auch "tranceartig" (S. 13) erscheint:

Hanns-Josef Ortheil (HJO): [...] Sollte ich den Charakter meines Schreibens benennen, würde ich sagen: Es verlief frei, locker, entspannt, ohne Verkrampfungen, lauter punktuellen, spontanen, emotionalen Impulsen folgend. Ich benutze dafür gern einen italienischen Begriff aus der Renaissance, den ich sehr mag: Mein Schreiben, sage ich dann, orientiert sich am Ideal der Sprezzatura. Absichtslose Leichtigkeit, Unverstelltheit, pure Schreiblust, fast naturwüchsig (S. 13). 

Das im ersten Teil des Buches publizierte Interview schaut hinter die Kulissen dieses auf den ersten Blick merkwürdig, ja, obsessiv anmutenden Schreibprozesses, geht auf seine autobiografisch bedingten Wurzeln zurück, sondert Etappen seiner Entwicklung aus, bringt sie mit Stationen der pianistischen, schriftstellerischen und wissenschaftlichen Karriere von Ortheil in Verbindung, sucht nach bewussten, aber auch unterschwelligen Zusammenhängen einerseits zwischen Leben und Werk und andererseits zwischen den einzelnen Texten. So hat dieser Teil eigentlich zwei Haupthelden, denn Ortheil lässt, obwohl er als Pianist, Schriftsteller, akademischer Lehrer und Wissenschaftler im Mittelpunkt steht, ebenfalls seine Texte in einem neuen Licht erblicken: als Produkte des eng mit dem Schreiben verbundenen, sich von dem Schreiben speisenden Lebens, das es ohne Schreiben nicht gegeben hätte.

Der zweite Teil Siebzig und mehr Bücher von Hanns-Josef Ortheil enthält die bibliografischen Angaben der Buchpublikationen des Stuttgarter Autors, die seit 1979, also seit dem Jahr des Erscheinens seines Debütromans Fermer, bis zum Sommer 2021 herausgegeben wurden.

Teil drei Ein Fragebogen zu Hanns-Josef Ortheils "Treiben und Schreiben" besteht aus Antworten von sechsunddreißig Personen auf einen Fragebogen, der sich aus zwanzig "Fragen nach persönlichen Vorlieben, Wünschen, Ratschlägen, Einschätzungen zu Ortheils "Treiben und Schreiben"" zusammensetzt. Die Befragten rekrutieren sich aus dem Kreis von Ortheils Bekannten und Freunden: Es sind Pianisten, Bürgermeister, Literaturreferenten, Journalisten, Literaturkritiker, Lektoren, Übersetzer, Literaturagenten, Buchhändler, Schriftsteller, Wissenschaftler, Bildhauer und Maler, Inhaber einer Filmgesellschaft, Hoteliers und Restaurantbesitzer, aber auch Ortheils ehemalige Mitarbeiter, Studenten und Doktoranden, die ihn auf dem "Weg als Schriftsteller begleitet haben und ihn lange genug kennen" (S. 249). Aus ihren manchmal humorvollen Antworten ergibt sich eine facetten- und nuancenreiche Vision eines vielseitig interessierten und begabten Menschen, der trotz der Ich-Fixierung seiner Literatur imstande ist, von sich selbst Abstand zu gewinnen und zum Hauptmotiv der Reflexion seiner Leser zu werden.

Ein Kosmos der Schrift ist eine unersetzbare Lektüre für all die Leser, die nach der Genese der Ortheilschen Publikationen fragen und die Relevanz des sie grundierenden Autobiografischen begreifen wollen. Es ist auch eine wichtige Quelle von Informationen zu Ortheils Räumen und Passionen, seinen Gewohnheiten und Vorlieben, aber auch zu seinem Bild in den Augen der ihm nahe stehenden Menschen, auch wenn dieses Bild nicht immer bitterernst zu nehmen ist. So ist der Adressatenkreis dieses klug konzipierten Buches breit, und es wird bestimmt sowohl Erforscher als auch Liebhaber von Ortheils Oeuvre ansprechen.

Hanns-Josef Ortheil,
Imma Klemm (Hrsg.)
Ein Kosmos der Schrift
Hanns-Josef Ortheil zum 70. Geburtstag.
btb Verlag, München 2021
Kartoniert
368 Seiten
12,00 EUR
ISBN: 978-3-442-77179-0

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Quelle:
© 2022 by Katarzyna Grzywka-Kolago
Mit freundlicher Genehmigung der Autorin

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 12. März 2022

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