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LITERATURBETRIEB/006: Internet 1 (SB)


Internet-Textpräsentation reduziert das Denkvermögen ...

Die passende Textform für einen Augenblick

Der Internettext - ein neues Genre?


Als der Brite Tim Berners-Lee und der Belgier Robert Cailliau im Kernforschungsinstitut Cern vor ungefähr zehn Jahren mehr oder weniger zufällig dem World Wide Web zu seiner Geburt verhalfen, steckte dahinter die Idee, Texte so weit zu vereinfachen, daß jeder Forscher von Information zu Information hüpfen kann, gleich, welche Computer oder welche Software angewendet wird. Jede Datei sollte für alle lesbar sein und jeder sollte in einer netzartigen Struktur Verbindungen zu anderen Dokumenten legen können. Um das zu erreichen, durften die Texte über keine Software gebundenen "Extras" verfügen.

Wir waren froh, nicht mehr an die engen Grenzen der Präsentation gefesselt zu sein. Keine Seitenumbrüche, keine Fußnoten! Was für eine Erleichterung! Keine verschiedenen Schrifttypen mehr. Es gab überhaupt keine Wahl von Schriftarten. Das war ja, was wir nicht mehr wollten. Wir wollten die reine Information und den Weg dahin.
(DIE ZEIT Nr. 31 vom 27.7.2000: Vor zehn Jahren wurde das WWW geboren)

Diese Texte wurden "Hypertexte" genannt, nichtsequenzielle Texte mit Verbindungen (Links) im virtuellen Raum. Die Idee des Hypertextes ist sogar schon Jahrzehnte älter als das WWW und unabhängig von den Hardwarefortschritten entwickelt worden, weil es notwendig wurde, die Fülle an veröffentlichten Forschungsergebnissen überhaupt noch nutzen zu können. Man stellte sich damals schon eine Maschine vor, in der Texte aus Büchern, Lexika und Zeitungen sowie Bilder und Fotos auf Mikrofilm gespeichert und zusammenpassende Inhalte mit Pfaden verbunden sein sollten, so daß die Maschine dann Anfragen schnell und umfassend beantworten konnte. 1965 wurde der Begriff Hypertext für diese assoziativ verknüpften Textteile geprägt.

Inzwischen gibt es nicht mehr nur naturwissenschaftliche Textsorten im WWW. Es geht also schon lange nicht mehr um rein informative Texte. Aber es gibt für alle ein Prinzip, an das sie sich besser halten, um nicht in der Datenmenge unterzugehen und um dem Leser das Arbeiten und Lesen zu erleichtern. Um das Surfen effektiv zu machen, müssen Internettexte sehr knapp verfaßt sein, anders als gedruckte Aufsätze. Das stellt dann ein Problem dar, wenn es nicht mehr nur um bloße Datenübermittlung zum Forschen geht, sondern um einen Argumentationsaufbau zum Beispiel in den Geisteswissenschaften.

Bei einem gedruckten Text kann man sich darauf verlassen, daß der Autor den Leser schrittweise von Anfang bis Ende durch seinen Inhalt führt und dabei seine Meinung entwickelt und begründet. In diesem sogenannten linearen Text werden die Begriffe, mit denen der Autor arbeitet oder die er selbst einführt, zu Beginn erklärt. In den folgenden Kapiteln oder Gliederungspunkten kann er darauf zurückkommen und auf diesem Wissen aufbauen.

Der Leser von Hypertexten muß den Zusammenhang zwischen den Begriffen, Argumenten und Informationen selbst herstellen. Die Meinung des Verfassers wird irrelevant, wichtig sind nur die Informationen, nicht ihre Auswertung. Der Inhalt ist hier auf einzelne Abschnitte (Module) verteilt, die über Verknüpfungen (Links) aufgerufen werden können. Man muß sich entscheiden, welchen Weg man durch das Angebot einschlagen will. Das erfordert zusätzliche Aufmerksamkeit. Hypertexte sind deshalb schwerer zu verstehen als lineare Texte und verleiten zu bloßem Konsum. Zudem fällt es dem Benutzer zunehmend schwerer, seine Aufmerksamkeit auf inhaltliche Probleme zu legen, was nichts anderes heißt, als daß sein Problembewußtsein zunehmend verarmt und er immer angepaßter arbeiten wird.

Das hat auch zur Folge, daß sich das Leseverhalten ändert. Heute werden gewöhnlich auch gedruckte, lineare Texte aus Zeitmangel nicht mehr von vorne bis hinten durchgelesen, sondern nur noch überflogen. Wie Germanisten der Universität Münster berichten, wird die Beschäftigung mit Literatur mehr und mehr zum "Blätterwerk". Bücher würden immer weniger von der ersten bis zur letzten Seite gelesen. Für ein bloßes Durchkämmen nach relevanten Informationen sind lineare Texte aber nicht geeignet bzw. geschrieben. Als Hypertext angelegt könnte der gleiche Inhalt zwar für eine schnelle und selektive Recherche zugänglich sein, das hat allerdings Folgen für die inhaltliche und sprachliche Qualität der Texte. Zum Beispiel würde die Bezugnahme auf Vorhergesagtes sinnlos werden, was bis in die Wortverwendung reicht. Worte wie "aber", "andererseits", "auch" und "doch" zum Beispiel müßte man dann aus Internettext-Abschnitten streichen.

Als Vorteil echter Hypertexte mit hierarchisch aufgebauten Webseiten, nach Schlüsselworten gegliederten Erklärungen und als Frage formulierten Überschriften wird oft aufgeführt, daß sie "offen" sein können. Durch ihren modularen Aufbau lassen sie sich an beliebiger Stelle erweitern, wenn neue Ergebnisse hinzukommen oder Leserreaktionen lassen sich direkt anschließen. Das "Surfen" im Internet und das damit verbundene Hin- und Herspringen zwischen verschiedenen Informationenseinheiten sind aus dem Alltag vieler Berufe kaum mehr wegzudenken. Es rationalisiert damit die Fähigkeiten für die einzelnen Arbeitsbereiche, indem es das Erlernen des Schreibhandwerks erspart, denn von Gliederung und der Anwendung sprachlicher Möglichkeiten zur Durchsetzung seiner Absichten kann keine Rede mehr sein. Zusammengefaßt kann man sagen, daß der Umgang mit Internettexten das Denkvermögen reduziert und das Sprachvermögen verarmen läßt.

Noch sieht die Praxis vielfach anders aus: Das Internet wird lediglich als Textverteiler genutzt und die Texte nach wie vor linear verfaßt (vielleicht mit einigen angehängten Links). Die meisten Benutzer laden sich die Dokumente aus dem Web herunter, drucken sie aus und lesen sie wie einen konventionellen Text.

Vielleicht ist das elektronische Publizieren in diese Entwicklungsstufe einzuordnen. Es gewinnt zur Zeit immer größere Bedeutung. Im Mittelpunkt der Frankfurter Buchmesse 2000 stand die Frage, ob der Buchdruck und die traditionelle Bibliothek wirklich bald von neuen Formen der digitalen Publikation und Archivierung abgelöst werden. Man kann voraussagen, daß sich der Umbruch in 5 bis 20 Jahren vollziehen wird. Aber auch danach wird es noch gedruckte Bücher und Zeitschriften und Zeitungen geben, allerdings am Rande. Heute erscheint zwar ein Großteil der wissenschaftlichen Fachzeitschriften online. Aber das online abrufbare eJournal tritt neben seine Papierfassung und verteuert als elektronische Parallelfassung das Abonnement einer Zeitschrift. Und niemals wird alles, was je geschrieben und gedruckt wurde, in einer virtuellen Universalbibliothek online an jedem Arbeitsplatz der Welt zur Verfügung stehen. Die Digitale Bibliothek wird wesentlich langsamer wachsen als das übrige Web, denn sie muß nach wie vor mit Inhalten gefüllt werden und läßt sich nicht mit den bilderreichen Aussagelosigkeiten anhäufen, die das Web zum Expandieren bringen.

Die Folgen, die das neue Leseverhalten am Computer hat, sprechen für sich. Nach einer Studie der Carnegie-Mellon-Universität von 1998 macht "jede Wochenstunde im Internet den User um 0,5 Prozent einsamer und um 1 Prozent depressiver." Das Limit der Konzentrationsfähigkeit eines Lesers am Bildschirm liegt bei etwa 2000 Wörtern, etwa sechs Druckseiten, die bei stark aufgelockerter Typographie etwa 20 Bildschirmfüllungen ergeben, bei kompakter die Hälfte. Und selbst das Wissen, das in dieser reduzierten Internettextform vermittelt werden kann, die der bloßen Informationsjagd dient, wird nur noch einer reichen Minderheit der Weltbevölkerung zugänglich sein.

Heute gilt schon, daß niemand, der viel liest und schreibt, um den Computer herumkommen wird. Will man sich allerdings nicht selbst schaden, empfiehlt es sich nach wie vor, längere Texte nicht am Bildschirm zu lesen, sondern daran nur "nachzuschlagen". Das Vor- und Rückblättern im Buch, sein Fassungsvermögen, die Möglichkeit, es zu transportieren, sein Vorteil, ohne Drähte, Schaltpläne, Stromkreise und Batterien zu funktionieren, nicht vernetzt oder angeschaltet werden zu müssen, sind unschlagbar.


Erstveröffentlichung am 24. Oktober 2000

5. Januar 2007