Schattenblick →INFOPOOL →DIE BRILLE → REDAKTION

LITERATURBETRIEB/015: Theater 1 (SB)


Straßentheater -

von Agitationspropaganda zum inhaltsleeren Unterhaltungsspektakel


Im Sommer fand in Rastatt zum vierten Mal Deutschlands größtes Straßentheater-Festival "tête-à-tête" statt, bei dem 44 Gruppen und Solokünstler aus 14 Ländern auftraten.

Größe, Art und internationale Beteiligung an der Veranstaltung sollen für die BRILLE Anlaß sein, kurz einen Blick auf die Entwicklung des Straßentheaters von den 60er Jahren bis zum "tête- à-tête" zu werfen. Das ehemals politische Theater, das Mißstände aufzeigte, anklagte und jene zu Wort kommen ließ, die sonst nie dazu Gelegenheit haben, ist heute entsprechend der Tendenz, Protestbewegungen und politischen Widerstand gesellschaftlich zu integrieren und damit zu entschärfen, zu einem inhaltsleeren Unterhaltungsspektakel, einem fünftägigen, avantgardistischen Volksfest verkommen. Von der urprünglichen Idee des Straßentheaters ist so gut wie nichts mehr übriggeblieben.

Zum ersten Mal waren die drei großen deutschen Freiluft-Ensembles auf demselben Festival vertreten: Titanick (Münster und Leipzig), Helmnot (Lichtenstein) und Antagon (Frankfurt am Main). Sie traten nachts auf und arbeiteten mit Pyrotechnik oder anderen Effekten wie Maschinen und großen Fahrzeugen, ausholenden Gesten und Musik, die ihre Darbietungen eher verspielt wirken ließen. Titanick gestaltete eine Episode aus dem Alltag eines Ameisenstaats; am Ende flog die neue Königin davon, um einen eigenen Staat zu gründen. Bei Helmnot stand statt Ameisen ein Vogelwesen im Mittelpunkt. Antagon hatte Feuer zu seinem Element gemacht; ein blaues Wesen schickte es von oben auf die Erde, wo die westliche Manager-Welt und das Leben in Südamerika aufeinanderprallten.

Die Darsteller liefen auf Stelzen mitten durchs Publikum, Clown Schorsch machte ganz wörtlich Theater auf der Straße, hielt als Straßenfeger verkleidet Autos an, ließ die Fahrer aussteigen und kutschierte selbst durch die Fußgängerzone. Die Auftritte der belgischen Compagnie du Tarmac und der Stunt-Clown Ulik erinnerten eher an die Darbietungen von Gauklern und fahrendem Volk in Filmen über das Mittelalter.


*


Das Prinzip ist erhalten geblieben, für die Zuschauer ist "Theater" keine Kultstätte mehr, sie werden direkt miteinbezogen, sind Teil der Aktivitäten, gestalten die Handlung mit. Diese Grundidee machte sich schon die Theaterbewegung der Weimarer Republik zunutze. Agitprop-Gruppen spielten damals auf Versammlungen, Straßen und Hinterhöfen.

Mit der Protestbewegung seit Ende der 60er Jahre erlebte das Straßentheater als politisch-agitatorisches Theater auf Straßen und Plätzen neuen Aufschwung, zum Beispiel das "Hoffmanns Comic Teater" in Westberlin. Straßentheater war Teil eines breiten Spektrums politischer Aktionsformen (zum Beispiel Happenings oder Formen des gewaltfreien Widerstands wie Sit-ins und Teach-ins oder Demonstrationen und Besetzungen von öffentlichen Ämtern), mit denen sich die Studentenbewegung öffentliche Aufmerksamkeit verschaffte. Es wurde überwiegend von Laienspielern in Szene gesetzt, die während aktueller Kampagnen und Initiativen auftraten und aufklären, protestieren und ihr Publikum aktivieren wollten. Theatergruppen entstanden vielerorts aus der Studentenbewegung und der Neuen Linken, die gegen den Vietnamkrieg und die Notstandsgesetze protestierten oder regionale Themen wie Stadtsanierung, Betriebsschließungen usw. aufgriffen und sich zum Ziel gemacht hatten, über Bewußtseinsbildung zur Aktion zu führen. Ihre Darstellungstechniken waren so gewählt, daß die persönliche, verinnerlichte Unterdrückung deutlich gemacht und konkretes Handeln zur Veränderung der Realität eingeübt werden konnten. Entsprechend sparsam waren die Requisiten (Masken, Transparente), die Figuren wurden nur typisiert, man arbeitete vornehmlich mit einprägsamer Handlung und Handlungsanweisungen, unaufwendigen Improvisationen, Sketchen, Songs und Sprechchören.

In Zeiten der Protestbewegungen erlangte diese Äußerungsform größte Bedeutung und erregte Anstoß (genausogut konnte man dieses Mittel aber auch wählen, um staatsfestigend zu wirken). Oft wurde der Truppe vorgeworfen, sie vernachlässige den ästhetischen Anteil zugunsten der tendenziösen Botschaft und sei unkünstlerisch, denn die Dichtung werde dem Kampfwert geopfert. Das Argument mag für staatliche kulturpolitische Maßnahmen gerade recht gekommen sein, um diese wirksame Form des Protestes "von unten" systematisch zu entschärfen. Dies scheint angesichts der gegenwärtigen Form des Straßentheaters beispielhaft gelungen zu sein.


Erstveröffentlichung am 17. November 2000

29. Dezember 2006