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LITERATURBETRIEB/021: Medien 3 (SB)


Bücher? Verbrennung erübrigt sich ...


Schleichend - nur am Rande bemerkt von Beobachtern und Kritikern - gewinnt der Literaturbetrieb unterhalb der Schwelle moralischer Empörung und jeden Widerstands zunehmend Bedeutung als eine staatlich kontrollierte und gesellschaftskonstiuierende Institution, die verstärkt zum Instrument gegen Abweichler wird. Sollte irgendwo noch das Bedürfnis bestehen, die bisher umkämpften Freiräume zu nutzen, zum Beispiel durch Bücher, werden der Möglichkeit dazu systematisch die Grundlagen entzogen.

Die Zeit, in der Verlage eine Schlüsselstellung im Aufklärungsprozeß eingenommen haben, hat sich dadurch überlebt, daß ihre unkontrollierbar große Anzahl und unterschiedlichste inhaltliche Ausrichtung reduziert wird. Gleichzeitig definiert sich ihr gesellschaftlicher Nutzen um. Heute bedeutet es das Aus, wenn ein Verlag noch eine verfassungskritische Haltung einnimmt. Der jahrelange Kampf um Urheberrecht und Lizenzen, politische Zensur, kaufmännisches Kalkül und kulturelle Leserlenkung führte zum Verlust der wirtschaftlichen wie kulturpolitischen Autorität dieser Verlage.

Heute kontrollieren die großen Konzerne den Hauptanteil des Verlagsgeschäfts. 80 Prozent des amerikanischen Verlagswesens werden von fünf Giganten dominiert. Havas und Hachette beherrschen zwei Drittel des französischen Marktes. In England, Spanien und Italien haben gleichermaßen einige wenige Unternehmen das Verlagsgeschäft in den Händen. Die Fusionierung auf dem deutschen Buchmarkt wurde von Bertelsmann und Holtzbrinck mit großer Geschwindigkeit vorangetrieben, mit jedem Jahr verringert sich die Zahl unabhängiger Verlage.

Wenn ein 165-Milliarden-Dollar-Unternehmen eine solche Macht über Bücher und Verlagswesen erlangt, bedeutet das, die Grundlagen für jene Welt geschaffen zu haben, vor der uns Orwell gewarnt hat. Die Verlagspolitik hat sich entscheidend verändert, es wird unter neuen ökonomischen Aspekten entschieden: Jedes Buch muß seinen Beitrag für den Verlag leisten, die Quersubventionierung, bei der die Gewinne aus Bestsellern die schwerer verkäuflichen Titel mittragen, wird abgeschafft. Auch die Feuilletons drohen zum verlängerten Arm der Werbeabteilungen von Verlagen zu verkümmern; immer schwerer wird es, zwischen redaktionellen Kritiken und Werbetexten zu unterscheiden. Die Großkonzerne sind Mischkonzerne, in denen Bücher nur noch eine untergeordnete Rolle spielen. Das Programm der übernommenen Verlage, verändert sich bis zur Unkenntlichkeit. Waren sie ursprünglich wichtige Herausgeber für geschichtliche, politische, wissenschaftliche Themen und literarische Übersetzungen, sind diese Rubriken von den gegenwärtigen Listen verschwunden.

Ein veränderter Literaturbegriff hat sich durchgesetzt. Etwa 70 Prozent der Bücher sind gestylte Bestseller (d.h. Unterhaltungsliteratur), Politikermemoiren, Real-Life-Storys und Ratgeberbücher, die mithilfe teurer Marketinganstrengungen auf den Markt gepumpt werden und kleineren Verlagen die Luft nehmen. An die ehemalige kulturpolitische Bedeutung der Verlage, die sich dafür verantwortlich fühlten, daß sowohl die nationale Literatur als auch die wichtigsten Übersetzungen in überschaubaren und handhabbaren Ausgaben vorlagen und das intellektuelle, philosophische, politische Denken der Zeit zugänglich gemacht wurde, ist nicht mehr zu denken.

In Bibliotheken, Universitäten und Schulen spielten Bücher ehemals eine wichtige Rolle, die den Verlagen eine Grundlage gaben. Diese Zeiten sind vorbei, die Bibliotheken haben weder Platz noch Geld - und die Briefe an die Verlage häufen sich, in denen um eine kleine Buchspende gebeten wird. Die Idee des Verlegens von Büchern als Grundlage des Lernens, Überlieferns und Nachschlagens verschwimmt. Menschliche Tätigkeiten werden vom Computer gesteuert, vom Lumpensammeln bis zur Verkündigung des Wortes Gottes. Bücher als Erzeugnisse handwerklicher Arbeit, Überträger von Ideen und Elemente der politischen Auseinandersetzung durch Zuspitzen und Aufdecken von Widersprüchen haben sich selbst überlebt.

Im Internet werde sich eine neue Kultur formulieren, heißt es, an der sich jeder beteiligen kann. Zwar stellen die PC-Nutzer eine Art Info-Elite dar, die generell liest, aber das neue Medium ändert auch das Leseverhalten. Tendenziell entwickelt man sich am Bildschirm zum "Häppchen-Leser". Die Gewohnheit und die Fähigkeit, ein Buch in einem Stück zu Ende zu lesen, verliert sich. Man überfliegt den Text, liest immer wieder Teile oder mehrere Bücher parallel. Damit schwinden auch die Voraussetzungen für analytisches Denken und das Infragestellen und Bestreiten gesellschaftlicher und politischer Absichten, worin bisher eine Aufgabe von Literatur und Kultur bestand. Denn wer sich in Geschichte vertieft, weiß bald, wie man Fakten sammelt und verarbeitet und wer sich mit fremden und alten Kulturen, ihren Denkweisen und dem Zeitgeist in Form von Romanen auseinandersetzt, entwickelt sich eventuell zu einem kritischen Zeitgenossen, der Entwicklungen durchschaut und einen eigenen Standpunkt vertritt.

Aber warum sollte auch gefördert werden, was heute im Überlebenskampf keinen schnellen, direkten, sichtbaren Zugewinn an Effektivität bedeutet? Kultur im obigen Sinne erscheint ihren Kritikern als Fehlleitung von Energien, deren Überschuß eventuell dem staatlichen Zugriff entgehen könnte. Der Kulturbetrieb gerät dementsprechend unter Rechtfertigungsdruck. Warum soll staatlich subventioniert werden, was nur wenigen zugute kommt und doch nur Unterhaltung und Freizeit, also Privatvergnügen, ist? Investitionen in die Zukunft sind zu unsicher und kostspielig. Hat Kultur noch eine Berechtigung in unserer Gesellschaft? Für den Staat wohl nur dann, wenn sich die wenigen Unbequemen damit auch noch in die kontrollierte Maschinerie des Betriebs einfügen lassen.


Erstveröffentlichung am 21.12.2000

29. Dezember 2006