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LITERATURBETRIEB/044: Zeitschriften und Verlage 6 (SB)


"Kelter ist kult" - Der Hamburger Martin Kelter Verlag erzielt

mit Groschenromanen zuverlässig steigende Umsätze


Aus dem Verlagsprogramm mit dem Grundsatz "Bewahren Sie sich eine heile Welt. Kelter - gut zu lesen, gut zu raten...":

"Spannung und Romantik",

"Intrigen, Liebe, Glanz und Gloria",

"Eine unvergeßliche Lektüre für alle, die sich ein Herz für die wahren, großen Empfindungen des Lebens bewahrt haben."

"Erlebnismagazin - Meine Gefühle - intime Geständnisse: schonungslos berichtet, jeden Monat neu!"

"Wiesengrund - das Kinderheim mit Herz. ... wird zum Symbol für eine bessere Welt, für Harmonie und den Traum eines unbegrenzten Familienidylls."

"Geister, Monster & Vampire. ... ein unbeirrter Einzelkämpfer verbündet sich mit Freunden, um den Kampf des Guten gegen das abgrundtief Böse aufzunehmen."

"Werwölfe, Geisterladies und Hexen ziehen Sie in ihren Bann."

"Die besten, schillernsten Romane über leidenschaftliche Affären und Romanzen aus der Adelswelt. Große Gefühle zum Schwelgen und Mitfiebern werden entfacht von Autorinnen, deren klangvolle Namen für sich sprechen: Andrea Hardenberg, Gisela Reutling, Bianca-Maria oder auch Charlotte Berg drücken dieser einzigartigen Taschenheft-Reihe ihren Stempel auf und präsentieren Ihnen atemberaubende Schicksalsromane. - 128 Seiten in großer Schrift!"

Unberührt vom Literaturbetrieb, abseits der ihm verschlossenen heiligen Hallen der Hohen Literatur führt der Kelter Verlag ein Schattendasein - allerdings von gewaltigem Ausmaß. Sein Metier sind Heftromane, Frauenmagazine und Rätselhefte, wie aus den oben zitierten Werbeslogans zu entnehmen ist. Inhaltlich umfassen die Hefte Fürsten-, Arzt-, Gruselschloß-, Schicksals-, Western-, Heimat-, Mutter-Kind-Romane, eine Geisterjäger-Serie und Romantic-Thriller. Probleme mit der Selbstdarstellung (als "literarisch wertlos" zu gelten) und mit dem Selbstbewußtsein (sind Leserbedürfnisse angesprochen?) braucht der Verlag nicht zu haben, da er stetig an Marktmacht gewinnt und ein großer, zuverlässiger Leserkreis jede vernichtende Kritik Lügen straft.

Seine Publikumswirksamkeit, behaupten böse Zungen, bestehe darin, dem Leser Ersatzerlebnisse zu bieten, eine Wirklichkeit fern der im Argen liegenden sozialen Realität aufzubauen, Probleme zu verharmlosen und somit dazu beizutragen, die herrschenden Verhältnisse zu festigen. Zudem käme das Verlagsprogramm dem Lesebedürfnis der Masse entgegen, die ein hohes Maß an Unterhaltung erwarte - und das gilt als verwerflich. Denn Konsum, heißt es, fördert eine unkritische Haltung und schaltet das Denken aus. Dazu die Stimme eines Fans der Liebesliteratur:

Überhaupt lesen sich hier keine Realitätsflüchtlinge weg aus der Welt, sondern höchstens für ein paar Stunden hinaus aus dem Alltag. Und das wäre dann [...] ein quasi subversiver Akt: 'In dieser Gesellschaft gehört Mut dazu, Zeit auf diese Weise bewusst zu verschwenden', ein Statement [...eines...] reflektierenden, manchmal gar selbstironischen Konsumenten...
(aus taz vom 10.5.2004, ein Bericht über die "Booklovers Conference", einer Tagung von Liebesromanfans und -autorInnen)

Kann denn ein Kritiker der sogenannten Schundliteratur allen Ernstes davon ausgehen, daß der Leser so unmündig ist, sich von einer Romanhandlung in seinen Entscheidungen beeinflussen zu lassen? Es wird ihm damit dann nicht einmal zugetraut, die Romanwelt von seiner eigenen Realität so weit zu trennen, daß es nicht zu folgenschweren Verwechslungen kommt. Inwiefern der Leser allerdings auf Dauer das Durchhaltevermögen aufbringt, immer wieder von Lebenszusammenhängen zu lesen, die nichts mit der eigenen Umgebung zu tun haben und bei der Beantwortung von Fragen und Problemen weder weiterhelfen noch Anregungen bieten, steht auf einem anderen Blatt. Darüber hinaus sei angemerkt, daß die Fragen, die im wesentlichen die hohe Weltliteratur bestimmen, oft genau die gleichen sind, wie die des sogenannten Schunds, und über die Lebensnähe der Darstellung läßt sich mit Sicherheit streiten.

Trotzdem gibt es immer wieder Imageprobleme der Trivialroman-Verlage: Bastei Verlagsgründer Gustav Lübbe zum Beispiel strich deshalb heraus, daß die Heftromanlektüre die Lesefähigkeit fördere und der Heftroman als eine Art Vorschule nutze, um dann irgendwann bei der Hochliteratur anzukommen.

In der Tat zeichnen sich die "Hintertreppenromane" oder "Kolportageromane" (nach der Hintertreppe des Dienstbotengangs benannt, wo sie ehemals durch Kolportage(=Gerüchte)handel vertrieben wurden) durch leichte Lesbarkeit aus, weil in ihnen ein eingehender Handlungsverlauf, typisierte Figuren in Schwarz-Weiß-Zeichnung, Prestige-Milieus (Adel, Reiche, Ärzte) und stereotypische Bilder verwendet werden. Kennzeichnend sind eine schematische Handlung, die nach manchen (Schein?)konflikten unbedingt zum glücklichen Ende führt, und die Konservierung etablierter Herrschaftsstrukturen und - normen, was den Heftromanen den Vorwurf eingebracht hat, sie seien "regressive Konformliteratur", die kritiklos gelesen werde, ein "Narkotikum" (z. B. im "Sachwörterbuch der Literatur" von Gero von Wilpert, Kröner Verlag Stuttgart, 2001, S. 851). Die Hefte werden serienmäßig nach einem vorgegebenen Schema hergestellt (Inhaltsskizze, Tabukatalog, Namenvorgaben) und am Kiosk oder im Zeitschriftenhandel vertrieben.

Der Hamburger Martin Kelter Verlag erzielt mit 2,5 bis 2,8 Millionen wöchentlichen Groschenromanen seit Jahren steigende Umsätze. Rund 120 Titel produziert er pro Woche, wovon zwei Drittel Liebes-, Western- und Arztromane sind, der Rest Rätselhefte. Der Verlag finanziert sich hauptsächlich über Verkaufserlöse, nicht über Werbung. 1,45 Euro kostet ein Heft. Wenn eine Serie gut läuft, wird sie nachgedruckt, oft auch als Sammelband zu 3,50 Euro. Überschuß bzw. Restposten werden in deutsche Urlaubsgebiete versendet.

Ungefähr 120 freie Autoren schreiben nach den Vorgaben des Verlags, wozu das Happy End gehören, keine Gewalt, keine unheilbaren Krankheiten, keine Politik. Ihre Namen sind Pseudonyme. Etwa 270 feste Mitarbeiter kümmern sich um die Herstellung der Hefte. Der Druck in zwei Spalten pro Seite und eine extra große Schrift erleichtern das Lesen. Die Schreiber erhalten zwischen 1000 und 1400 Euro pro Roman, bei Nachdruck bis zu 50 Prozent des Ersthonorars. Erfolgreiche Hefte erscheinen auch nach Jahren in nur leicht veränderter Form mit gleichen Titelbildern: Schnörkelschrift, einrahmende Röschen, in der Mitte ein eng umschlungenes Paar.

Otto Melchert gründete 1938 in Dresden den Kelter Verlag. Im Krieg wurde er zerstört. Der Wiederaufbau begann in Hamburg, wo Verwandte wohnten. Der Verlag ging in die Hände des Sohnes über, als Vater Otto mit seiner Frau Betty bei einem Verkehrsunfall tödlich verunglückte. Bis dahin hatten beide 35 Jahre gemeinsam gearbeitet. Im Stadtteil Wandsbek, im Hauptsitz des Verlags, arbeiten inzwischen alle Familienmitglieder. Melcherts Frau Rositta leitet die Grafik, die drei Söhne arbeiten in Vertrieb, Herstellung und Rätsel-Redaktion. 1966 begann die Familie mit der Produktion von Rätselheften. In den 70er Jahren wurde die erfolgreichste Serie des Hauses erfunden: "Dr. Norden". Bereits Mitte der 70er erschienen die ersten Übersetzungen, denn Arztromane seien überall erfolgreich, sagt Melchert. Anfang der 90er Jahre dehnte sich der Verlag mit Lizenzausgaben in zehn osteuropäische Länder aus.

Seit über dreißig Jahren werden die "Dr. Norden"-Hefte schon herausgegeben. Patricia Vandenberg entwirft darin einen jungen Mann, der ein Idealschwiegersohn ist, gut aussehend, charmant und doch zurückhaltend, moralisch und menschlich, arbeitsam, wohlhabend und doch kein Snob. Daniel Norden wird Arzt, weil schon sein Vater, Friedrich Norden, Arzt war und einen Traum hatte, den er vor seinem frühen Tod nicht verwirklichen konnte. Der Sohn erfüllt ihn an seiner Stelle. An den Ufern des Rosensees gründet er das Sanatorium "Insel der Hoffnung", eine Zufluchtstätte für mittellose Patienten, so, wie sie dem Vater immer vorschwebte.

Glückliche Familie und haltbare Beziehung sind wieder angesagt. - Der Philosoph Ernst Bloch vertrat die These, daß sich in den Kolportageromanen die Träume und Hoffnungen einer Zeit fast unverstellt zeigen und daß sie als zeit- und mentalitätsgeschichtliche Quelle sehr viel zu bieten haben. Etwa so?:

Und als der junge Herzog Lady Emma dann in seine Arme zog und ebenso zärtlich wie sehnsuchtsvoll küßte, ließ sie es nur zu gerne geschehen. Sie spürte, daß ihr Herz endlich heimgekehrt war, daß es Ruhe und tiefes Glück in der Liebe finden würde, die es nur einmal im Leben gab.

Der wahren Liebe, die Lady Emma und Duke Edmund nun für immer vereinen sollte.

Die heile Welt, meint Melchert, verkaufe sich jedenfalls in Krisenzeiten gut - und manchmal unterscheiden sich die Erfolge der Heftromane in der inhaltlichen Ausrichtung dabei nicht von denen der Debütromane und -erzählungen junger Autorinnen wie Julia Franck, Judith Hermann, Zoë Jenny, Karen Duve, Felicitas Hoppe, Tanja Dückers oder Terézia Mora, deren sogenannte "Erfahrungsliteratur" die herrschenden Strukturen zwischen den Geschlechtern nur noch beschreibt und damit affirmativen Charakter aufweist.

Länger als schicklich hielt er die schmale Mädchenhand mit seinen dicken Pratzen fest: Pfüat dich, Lieserl!


Erstveröffentlichung am 15. Juni 2001

12. Dezember 2006