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NEUES/006: Schreibschrift-Unterricht an Hamburger Grundschulen nicht mehr verpflichtend (SB)


Schreibschrift - eine der Grundlagen des Denkens und Sprachvermögens wird wegrationalisiert


An Hamburgs Grundschulen ist das Unterrichten der Schreibschrift nach den Sommerferien nicht mehr verpflichtend, so lautet eine dpa-Meldung vom 28.06.2011. Die Schulen können nun selbst entscheiden, ob die Schulanfänger nur noch eine Druckschrift lernen oder wie bisher zusätzlich die Schreibschrift. Hamburg erlaubt jetzt als erstes Bundesland die Grundschrift als einzige Schrift zum Erlernen der Handschrift. Sie ist eine spezielle Form der Druckschrift, deren Grundlage die klassischen Druckbuchstaben mit leichten Bögen am Ende jedes Buchstabens bilden, die ein einfaches Verbinden möglich machen sollen. Mit dieser Vereinfachung wird eine Unterstützung im schnelleren Erwerb der Schreibkompetenz beabsichtigt.

Vielleicht gelangt dieser kurze Absatz im Bildungsplan für die Grundschule deshalb erst zu Beginn der Sommerferien an die Öffentlichkeit, weil die zu erwartende Diskussion darüber in der Sommerpause wohl etwas gedämpfter verlaufen wird. Bietet das Thema doch genug Zündstoff für eine Auseinandersetzung, wenn man die Konsequenzen hinterfragt, die eine solche Entscheidung mit sich führt und die über zu kurz gefaßte Probleme wie umstrittene ästhetische Aspekte ("Sauklaue" bei Anwendung der sogenannten verbundenen Schrift) oder Lernzeit-Verluste hinausführen.

Welche Folgen hat es für den Lesen und Schreiben lernenden Schulanfänger auf Dauer, wenn er "nur" Druckbuchstaben auf das Papier setzt - sprachliche Inhalte in für sich gesehen unverständliche Blöckchen oder als Puzzle zerteilt - und wenn logischerweise als Endprodukt bestenfalls ein handschriftlich verfaßtes, etwas holpriges "Druckimitat" eines Textes herauskommt, der sein Druckvorbild trotz vielleicht perfekter Anpassung bzw. "Gleichmachung" nicht erreichen wird? Was spräche dieser Logik folgend dem entgegen, zur Vermeidung von Lernzeit-Verlusten künftig jedem Schüler ein Gerät beizugeben, das auf den schnellen Fingerdruck hin quasi verlustfrei Buchstaben, Worte und Texte in die richtige Form bringt, die noch dazu fast in Echtzeit dem Lehrer übermittelt werden könnten? Angesichts der ohnehin computergestützten Tendenzen und Gewohnheiten des Lernenden wäre viel Zeit damit wettzumachen, die sinnvoll zum Erlernen der wirklich wichtigen Inhalte eingesetzt werden könnte. Nur - welcher bitte?

Zu befürchten ist, daß bei dieser beabsichtigten Normierung der Schrift eine mögliche Weiterentwicklung darin bestehen könnte, daß das Verfertigen handschriftlicher Produkte über kurz oder lang so gut wie sinnlos erscheint und einer fatalen Logik folgend vollständig aufgegeben werden könnte. Wer aber nicht mehr in der eigenen Geschwindigkeit zusammenhängend (in Worten, Sinn- und Satzbezügen) oder nur noch mühsam schreiben kann, kann auch nicht lesen, geschweige denn komplexe Inhalte erfassen und verstehen. So wird sich schlimmstenfalls eine "moderne Form des Analphabetismus" einstellen, wie der Sprecher des Vereins "Wir wollen lernen", Walter Scheuerl, befürchtet. [1]

Und wer selbst nichts mehr aufs Papier bringt, wird auch im Computer keine eigene Gedanken entwickeln können: Das Erscheinungsbild der Texte wirkt auf dem Bildschirm vereinheitlicht, es ermüdet und erschwert die Unterscheidung und Bewertung der Argumentation. Die Aufmerksamkeit auf inhaltliche Probleme strapaziert das Konzentrationsvermögen über die Maßen, was nichts anderes heißt, als daß ein wichtiges Lernziel, Probleme bewußt benennen zu können, zunehmend vermieden wird. Die Versuchung, statt dessen Textbausteine neu zusammenzusetzen und zu kopieren, ist groß. Zudem merkt ein Schüler, der sich an "Ausdrucken" - sprich Arbeitskopien, Unterrichtsblätter zum Eintragen, Computerlernprogramme - orientieren muß, nicht mehr, daß er in seinen Möglichkeiten, selbst zu produzieren, immer mehr eingeschränkt wird und sich allein schon durch die Anpassung an Vorgaben und Normen inhaltlich steuern und beeinflussen läßt. Auch die Fähigkeit, eine Frage verfolgen zu können und Ideen zu entwickeln, hat dann Grenzen.

Unter diesem Aspekt betrachtet gewinnt das Argument erfahrener "Handschreiber" eine neue Beachtung: das individuelle Schriftbild hilft dem Gedächtnis beim Aufbau eines Argumentationsstranges. Man kann zum Kerngedanken zurückkehren, weiß, wo er steht und wie er ausgesehen hat. Zudem erhält das Denken durch die motorische Tätigkeit, im Fluß einen Gedanken niederzuschreiben, eine eigene, nachvollziehbare Geschwindigkeit und der Gedanke die Chance, zusammenhängend formulierbar zu werden, was zudem das Sprachvermögen fördert. Die Verwendung der Schreibschrift gewährleistet die nötige fließende Gesamtkörperbewegung, die eine gute Hand-Augen-Koordination sowie wie eine Feinmotorik der Hand erfordert und trainiert. Druckschrift hingegen unterbricht den Körpereinsatz durch viele kleine Aufschläge und neue Schwungansätze, wodurch sie nur langsamer und aufwendiger auszuführen ist und vom Formulieren ablenkt. Insofern erscheint es wie eine Resignation oder ein Eingeständnis, den ohnehin alarmierend rückläufigen motorischen Fähigkeiten der Kinder durch die Einführung der Druckschrift auch noch zu entsprechen.

Das Unterrichten der verbundenen Schrift würde auf keinen Fall eine Zeitvergeudung auf Kosten des ohnehin an Lehrstoff überfüllten Schuljahres sein. Sie ist eine Kernkompetenz, auf der sich Sprechen, Denken und Lesen letztlich schneller und nachhaltiger aufbauen lassen. Statt dessen zeichnet sich mit dieser Neuerung im Curriculum ein düsterer Science Fiction für zukünftige Generationen ab: die Erziehung zum leicht beeinflußbaren, angepaßten, unbeweglichen Durchschnittsbürger, der Wissenskonsum mit Denken und Masse mit Qualität verwechselt - kein vertrauenerweckendes Fundament für eine Zukunft, in der Denkvermögen, Improvisationsfähigkeit und Ideenreichtum mehr denn je gefragt sind.

Anmerkung:
[1] aus Welt-Newsticker, Hamburg (dpa/lno), Keine Schreibschrift mehr für Hamburgs Schüler
http://www.welt.de/newsticker/dpa_nt/regioline_nt/hamburgschleswigholstein_nt/article13455646/Keine- Schreibschrift-mehr-fuer-Hamburgs-Schueler.html

30. Juni 2011