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REZENSION/002: Katarzyna Grzywka - Verzauberte und unverzauberte Welten (Märchen) (Christiane Baumann)


Katarzyna Grzywka

Verzauberte und unverzauberte Welten
Studien zum polnischen und deutschsprachigen Volksmärchen

von Christiane Baumann


Untersuchungen, die sich mit der Herkunft, Gemeinsamkeiten, Gattungsproblemen, der Überlieferung und Rezeption von Märchen durch Erzähler und Sammler beschäftigen, erfreuen sich "in der allgemeinen Öffentlichkeit einer regen Anteilnahme"; Märcheninterpretationen nehmen laut Forschungsberichten "signifikant" [1] zu. Dabei macht der Umgang mit Varianten und Mustern eines Erzähltyps in verschiedenen geographischen und historischen Kontexten einen wesentlichen Aspekt der Märchenforschung aus. Literaturwissenschaftliche und volkskundliche Studien zum Märchen sind eng miteinander verzahnt, was als Spezifikum der Märchenforschung gelten kann. Von diesem Ausgangspunkt ist der von Katarzyna Grzywka-Kolago vorgelegte Band Verzauberte und unverzauberte Welten. Studien zum polnischen und deutschsprachigen Volksmärchen zu betrachten, der in den Jahren 2001 bis 2013 entstandene und in verschiedenen wissenschaftlichen Publikationen veröffentlichte Aufsätze der Verfasserin zu unterschiedlichen Aspekten der Märchenproblematik zusammenführt und somit erstmals in einer Überschau einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich macht. Es handelt sich im Wesentlichen um unveränderte Nachdrucke, wobei einige Beiträge gekürzt wurden. Der Band dokumentiert das, ebenso die Erstveröffentlichungen, die von den Studien zur Deutschkunde bis zur Schriftenreihe RINGVORLESUNGEN der Märchenstiftung Walter Kahn reichen und die Autorin als Expertin in diesem Forschungsfeld ausweisen.

Die Untersuchungen Katarzyna Grzywka-Kolagos sind dem interdisziplinären Ansatz verpflichtet. Philologisch-literaturwissenschaftliche Analysen stehen neben Studien, in denen volkskundliche und kulturhistorische Aspekte dominieren. Wichtig sind zudem komparatistische Untersuchungen zum deutschsprachigen und polnischen Volksmärchen, was besonders hervorzuheben ist, weil beispielsweise im Handbuch Märchen und Märchenforschung in Europa aus dem Jahr 1993, das eine Übersicht zum europäischen Märchen und dessen Erforschung bietet, ein Beitrag aus der polnischen Märchenforschung fehlt. [2]

Der vorliegende Band besteht aus fünf Kapiteln, von denen das erste, das sich deutschen und polnischen Märchensammlern und -forschern sowie deren Familien widmet, die Hälfte des Umfangs ausmacht und kulturhistorische sowie komparatistische Aspekte in den Mittelpunkt stellt. In der instruktiven Einführung Wie man in Europa Volksmärchen zu sammeln begann wird besonderes Augenmerk auf die Gebrüder Grimm und ihre Sammeltätigkeit in Deutschland gelegt und, daran anknüpfend, die Entwicklung polnischer Märchensammlungen nachgezeichnet. Erst 1837 und damit 25 Jahre nach der Grimmschen Erstausgabe wurde eine den Kinder- und Hausmärchen vergleichbare polnische Märchensammlung durch Władyséaw Wóycicki, auch als "der polnische Grimm" (S. 19) bezeichnet, herausgegeben. Vor allem aber ist der polnische Märchenfundus der akribischen Arbeit und Sammelleidenschaft des wohl bedeutendsten polnischen Ethnographen des 19. Jahrhunderts Oskar Kolberg (1814-1890) zu verdanken, der neben Liedern, Sagen, Sprichwörtern auch ca. 666 Märchen (S. 26) zusammentrug, die er - wie Katarzyna Grzywka-Kolago darstellt - "als eine sehr reichhaltige und wertvolle Informationsquelle sowohl über die Anfänge als auch die weitere Zivilisationsentwicklung jedes Volkes" (S. 26) betrachtete.

Um die Familien Grimm und Kolberg kreisen die Studien im ersten Kapitel, von denen die vergleichende Analyse des Briefes Oskar Kolbergs an die Redaktion der Warschauer Bibliothek (1865) mit Jacob Grimms Circular wegen Aufsammlung der Volkspoesie (1815) besonders hervorzuheben ist, weil sie Gemeinsamkeiten und Unterschiede aufzeigt. Beide Forscher legten in ihren Aufrufen Kriterien für das zu sammelnde Märchenmaterial fest. Doch während Kolberg nicht nur zum Märchen, sondern auch zum polnischen Brauchtum im geistigen und materiellen Sinne Material erbat, stellte Grimm ausschließlich auf geistige Güter, Volkslieder, Sagen, Märchen usw. ab. Während Kolberg sich an breite Kreise der polnischen Gesellschaft wandte, richtete Grimm sein Circular an einen ausgewählten Kreis, den er in der Wiener Wollzeiler-Gesellschaft bündeln wollte. Grimms Gesellschaft war nur von kurzer Dauer. Kolbergs Vorgehen brachte hingegen mehr Ertrag, da sich daraus, wie Katarzyna Grzywka-Kolago darstellt, ein "Netz von Briefpartnern" (S. 40) mit zahlreichen neuen Mitarbeitern ergab, was durchaus die Schlussfolgerung erlaubt, dass das Bemühen des polnischen Forschers um kulturelles und geistiges Brauchtum aus breiten Volkskreisen heraus ein offenbar erfolgreicherer Ansatz war.

Zwei Beiträge des ersten Kapitels beschäftigen sich mit dem Schriftsteller, Essayisten, Übersetzer und Kunsthistoriker Herman Grimm (1828-1901), dem Sohn Wilhelm Grimms, der zu den bekanntesten Autoren des 19. Jahrhunderts zählte und heute weitgehend vergessen ist. Grimm widmete sich intensiv dem Werk Goethes, hielt Goethe-Vorlesungen, gehörte zu den Begründern der Goethe-Gesellschaft und zu den Herausgebern der Weimarer Goethe-Ausgabe. Die Studie zu Herman Grimms Tagebuch von 1847 bietet Einblicke in das Berliner Künstlerleben der Zeit und wirft ein Schlaglicht auf die geistige Entwicklung des 19-Jährigen. Grimm, der 1859 Gisela, eine Tochter Bettina von Arnims, heiratete, verkehrte bereits als Jugendlicher in deren Haus, war aber auch Gast in anderen wichtigen Berliner Salons, so bei Marie und Hedwig von Olfers oder bei der Gräfin von Schwerin, sowie später einer der bedeutenden Habitués der Berliner Salonszene. Der zweite Beitrag über Herman Grimm untersucht kritisch seine Erinnerungen, die er 1895 als 67-Jähriger über Jacob und Wilhelm Grimm verfasste. Katarzyna Grzywka-Kolago weist nach, dass diese Erinnerungen wesentliche Fakten wie die Zugehörigkeit der Brüder Grimm zu den Göttinger Sieben, jenen sieben Professoren, die 1837 gegen die Aufhebung der Verfassung im Königreich Hannover protestierten und dafür ihre Entlassung bekamen, unterschlagen und in ihrer idealisierenden Überzeichnung eher der Vergötterung als einer historisch-kritischen Auseinandersetzung dienen, dennoch aber kulturgeschichtlich als wichtiges Zeitzeugnis gelten können.

Mit der Studie zu den Beziehungen der Familie Kolberg zu Frédérik Chopin wird die Musik stärker in den Fokus gerückt. Es sind vor allem die persönlichen Kontakte Chopins zu den Brüdern Oskar, Wilhelm und Antoni Kolberg, die betrachtet werden und aus denen sich letztlich das Engagement des Ethnographen und Komponisten Oskar Kolberg für eine Chopin-Werkausgabe erklären lässt. Diesen Bemühungen geht insbesondere der Aufsatz über die Korrespondenz Kolbergs mit dem Leipziger Verlag Breitkopf & Härtel, einem der ältesten und bedeutendsten Musikverlage Deutschlands, nach. In diesem Briefwechsel offenbart sich Kolberg als exzellenter Kenner des Chopin'schen Oeuvres. Katarzyna Grzywka-Kolagos Studie ist hier unter anderem für die Editionspraxis des 19. Jahrhunderts erhellend, zeigt sie doch, dass zwar Liszt und Brahms zu den Mitarbeitern der Werkausgabe zählten, ein polnischer Künstler oder Wissenschaftler allerdings, insbesondere auch im Kontext zum Frühwerk des Komponisten, in die Arbeit nicht einbezogen wurde. Aufschlussreich zur Persönlichkeit Kolbergs ist, dass er, obgleich offiziell nicht unter den Mitarbeitern, das ihm verfügbare Material in eine Edition des Leipziger Verlages einbrachte.

Schließlich verdient ein Aufsatz des ersten Kapitels herausgehoben zu werden, da er dem Wirken des bedeutenden Schweizer Märchenforschers Max Lüthi gewidmet ist. Dieser Beitrag würdigt Lüthis Leistungen, seine theoretischen Fundierungen zur Märchenforschung und stellt gewissermaßen einen Übergang zu den Folgekapiteln des Bandes dar, in denen Lüthis Ästhetik des Volksmärchens immer wieder zum Bezugspunkt wird.

Im zweiten Kapitel der Aufsatzsammlung stehen literaturwissenschaftlich-philologische Untersuchungen im Mittelpunkt. Auch hierbei kommt Oskar Kolberg eine besondere Bedeutung zu, werden doch seine 37 Märchen aus Masowien zum Gegenstand der Analyse "märchenhafter Helfer". Hierbei untersucht die Autorin die Funktion dieser Helfer - Frauen, Männer, Kinder geschlechtslose Wesen, Tiere - in der Märchenhandlung und kommt zu dem Ergebnis, dass es sich um "Volkserzählungen mit einer stark betonten männlichen Komponente" (S. 159) handelt, da am häufigsten männliche Helfer auftauchen, zugleich aber auch Männer die größte Gruppe der Nutznießer der märchenhaften Hilfe ausmachen, wobei "deren Schwäche in gewissem Sinne zu einer Stärke wird, die nicht zuletzt aus dem Beistand der den Helden umgebenden Welt geschöpft wird" (S. 159).

Das dritte Kapitel versammelt komparatistische Studien zu polnischen und deutschen Volksmärchen, in denen märchenhafte Tiere, Pflanzen und Gegenstände bezüglich ihres Vorkommens, ihrer Rolle und Funktion in der Märchenhandlung betrachtet werden. Gegenstand sind Texte aus den Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm und polnische Märchen, die von Oskar Kolberg herausgegeben wurden. Die empirischen Untersuchungen lassen Übereinstimmungen zutage treten, die die gemeinsamen Wurzeln beider Sammlungen in der europäischen Tradition der Volksmärchen unterstreichen.

Das vierte Kapitel des Bandes spürt dem Berg als märchenhaftem Raum sowohl in deutschen als auch polnischen Volksmärchen nach, wobei im Ergebnis funktionale Übereinstimmungen zu konstatieren sind, die wiederum auf die Verwandtschaft der untersuchten Märchen schließen lassen. Sowohl in den Kolbergschen als auch in den Grimmschen Märchensammlungen wird der Berg beispielsweise "am häufigsten im Zusammenhang mit schwierigen Aufgaben erwähnt, die hier aufgetragen und/oder erfüllt werden müssen" (S. 197).

Das märchenhafte Sprechen, Musizieren und Bestrafen steht im fünften und letzten Kapitel der Aufsatzsammlung im Zentrum der literaturwissenschaftlich-philologischen Analysen. Den größten Raum nimmt ein Beitrag zu den Erscheinungsformen und Funktionen des Musikalischen in den Grimmschen Kinder- und Hausmärchen ein, wobei vor allem Lüthis Ausführungen zur Ästhetik des Märchens herangezogen werden. Anhand der untersuchten Märchen können unterschiedliche Funktionen der Musik, vom handlungsbestimmenden konstituierenden bis zum stimmungsbildenden und eher kulissenhaften Element, nachgewiesen werden.

Katarzyna Grzywka-Kolagos Studien, die das Ergebnis von mehr als einem Jahrzehnt Forschungsarbeit sind, bieten erstmals in deutscher Sprache und in dieser kompakten Form wissenschaftliche Untersuchungen zum polnischen Volksmärchen, füllen damit eine Lücke in der Forschungslandschaft und bedeuten einen Brückenschlag zwischen polnischer und deutscher Märchenforschung. Sie richten den Blick nicht nur auf die Literatur, sondern beziehen insbesondere die Musik ein und sind in ihrer Anlage polyästhetischer Natur. Die Verknüpfung der Beiträge zu den Märchenforschern, insbesondere den Brüdern Grimm und Oskar Kolberg, korrespondiert sinnfällig mit den Analysen zu Texten aus deren jeweiligen Märchensammlungen. Der Band zeugt von einer subtilen Kenntnis der europäischen Märchenforschung, was nicht zuletzt die umfangreiche, im Anhang aufgeführte Sekundärliteratur nachdrücklich bestätigt. Katarzyna Grzywka-Kolagos kulturhistorische, komparatistische und philologische Studien machen nicht nur die geistige Affinität der Märchensammler Polens und Deutschlands augenfällig, ihre empirischen und vergleichenden Untersuchungen zur Funktion und Bedeutung verschiedener märchenhafter Figuren und Elemente belegen insbesondere die Verwandtschaft und gemeinsamen Wurzeln der polnischen und deutschen Volksmärchen, ohne dabei nationale Spezifika zu vernachlässigen. Künftige Studien zu diesem Forschungsfeld kommen an diesem Band nicht vorbei. Er kann und sollte ihnen als Ausgangspunkt und Orientierung für weiterführende Forschungen dienen.


Anmerkungen:

[1] Pöge-Alder, Katrin: Märchenforschung:Theorien. Methoden. Interpretationen. Tübingen 2011, S.13

[2] Röth, Diether und Walter Kahn (Hg.): Märchen und Märchenforschung in Europa: ein Handbuch / im Auftrag der Märchenstiftung Walter Kahn. Brauschweig/Frankfurt am Main/Herchen 1993

Katarzyna Grzywka:
Verzauberte und unverzauberte Welten.
Studien zum polnischen und deutschsprachigen Volksmärchen.
Warschauer Studien zur Germanistik
und zur Angewandten Linguistik, Bd. 17
Peter Lang EDITION, Frankfurt am Main 2014,
286 Seiten


Erstveröffentlicht in "Studien zur Deutschkunde", Bd LV, Warszawa 2015, S. 721-725

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Quelle:
Dr. Christiane Baumann
Copyright by Instytut Germanistyki Uniwersytetu Warszawskiego
Mit freundlicher Genehmigung der Autorin und der Redaktion der "Studien zur Deutschkunde"


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. September 2015

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