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REZENSION/014: Sibylle Lewitscharoff - Das Pfingstwunder (Roman) (SB)


Sibylle Lewitscharoff

Das Pfingstwunder

von Christiane Baumann


Anmerkungen zu einer der Longlist-Nominierungen 2016: Sibylle Lewitscharoffs Dante-Roman Das Pfingstwunder - ein "Anti-Faust"

Den Deutschen Buchpreis 2016 erhält Bodo Kirchhoff für seine Novelle Widerfahrnis [1]. Der Preisträger wurde am Abend (17.10.2016) auf der Frankfurter Buchmesse bekanntgegeben. Kirchhoff sagte in seiner Dankesrede, anders als im Fußball gäbe es "einen Videobeweis in der Literatur nicht". Er betonte, der Gewinn der Buchpreis-Vergabe bestehe darin, die Aufmerksamkeit auf viele Bücher zu lenken.

Auf der Longlist mit den zwanzig nominierten Romanen für den diesjährigen Buchpreis stand auch Sibylle Lewitscharoffs Das Pfingstwunder. Der Dante-Roman, von Kritikern hochgelobt, schaffte letztlich nicht den Sprung auf die Shortlist, in die Runde der sechs Finalisten. Lewitscharoff, 1954 in Stuttgart geboren, stand in ihrer Jugend linken Gruppierungen nahe. Anfang der siebziger Jahre studierte sie schließlich in Berlin Religionswissenschaften. Für ihr Schaffen erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Ingeborg-Bachmann- und den Marie-Luise-Kaschnitz-Preis sowie 2013 den Georg-Büchner-Preis, den wohl renommiertesten deutschen Literaturpreis. Ihr Roman Pfingstwunder knüpft an frühere Werke an, zu nennen ist hier insbesondere der Roman Killmousky (2014), dessen Ermittler Richard Ellwanger ursprünglich in der Rolle des Chronisten im Pfingstwunder fortleben sollte [2]. Nun heißt der Erzähler Gottlieb Elsheimer, eine Reminiszenz an den Maler Adam Elsheimer (S. 251), worauf im Text ausdrücklich hingewiesen wird.

Der Roman wartet mit einem ungewöhnlichen Anfang auf. Bekanntlich kann im ersten Satz, wenn er gelingt, die ganze Welt eines Romans oder einer Erzählung in nuce aufgehoben sein. Man denke an Franz Kafkas Erzählung Die Verwandlung: "Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt." Der Leser sieht sich ohne Umwege in die Skurrilität des Textes versetzt. Sibylle Lewitscharoff hat ein besonderes Faible für Kafka, den "Meister [...] schwarzer Löcher", "in denen sich die Vorstellungskraft des Lesers tummeln kann" [3]. Ihr neuer Roman Das Pfingstwunder nimmt an verschiedenen Stellen auf Kafka Bezug und scheint auch im Erzähleinstieg von ihm inspiriert: "Nein. In meinen Kindertagen ja, seither nein. Dieses Nein will betont sein, denn es bedeutet etwas, es bedeutet sogar viel." (S. 7) Es wirkt skurril und ist die Antwort auf eine nicht gestellte Frage, die den Gesprächsfaden mit dem Leser knüpft. Die Verneinung bezieht sich auf die Religiosität des Ich-Erzählers Gottlieb Elsheimer, 62 Jahre alt und Professor an einer Universität sowie Dante-Forscher. Es könnte auch ein Verhör sein, denn die Geschichte, die uns Elsheimer auftischt, ist rätselhaft, kafkaesk und hat nicht zuletzt eine kriminalistische Qualität: Während eines Dante-Kongresses in Rom auf dem Aventin verschwinden am Pfingstsonntag 2013 mit dem Glockenläuten vom Petersdom 33 Forscher und drei weitere Personen "auf einen Schlag" (S. 21), genau: sie jauchzen, tirilieren und deklamieren wie beim Zungenreden der Apostel und fliegen einer nach dem anderen gen Himmel. Nur Elsheimer, dem 34. Kongressteilnehmer, gelingt der Aufstieg nicht.

Es ist ein "Wunder" (S. 62), das Elsheimer erlebt hat und das ihn als Mensch und Wissenschaftler in seinen Grundfesten erschüttert, ja geradezu aus der Bahn wirft. Der erlebte Gottesbeweis nimmt Elsheimer seine Selbstsicherheit und Eitelkeit. Er stellt alles erworbene Wissen in Frage. Elsheimer beginnt zu erzählen, um sich seiner Identität zu versichern: "Vielleicht hilft es doch, wenn ich alles aufschreibe, was ich über den Kongress noch im Gedächtnis habe, hilft, wenn ich die Commedia auf mögliche Fingerzeige hin durchkämme, die wenigstens ansatzweise so etwas bieten wie eine Erklärung für das Unerklärliche." (S. 18) Ist Goethes Faust ein nach Erkenntnis strebender Geist, der ergründen will, was die Welt im Innersten zusammenhält, so erweist sich Elsheimer als Gegenentwurf zum Faust, weil er als Wissenschaftler seine Gewissheit über die letzten Dinge des Lebens verloren und sich nun im Glauben an ein Wunder zu üben hat. Viele Faust-Zitate im Text weisen auf das Vorbild, dessen Wissenschaft auf Erkenntnisgewinn zielte, ein Modell, das in der Gegenwart seine Gültigkeit verloren hat. Die 34 Dante-Forscher sind sich selbst genug, so wie Elsheimer vor allem auf den Umfang, die 879 Seiten seines Buches zur Dante-Rezeption stolz ist. Damit stellt sich Forschung nicht mehr in den Dienst der Gesellschaft, sondern ist zum Selbstzweck herabgesunken.

Im Erzählvorgang werden drei Ebenen zusammengeführt. Da ist zum einen die krisenhafte Gegenwart Elsheimers mit Einblicken in dessen Biografie. Parallel wird das Kongress-Geschehen ausgebreitet und mit dem Forschungsgegenstand, Dantes Göttlicher Komödie, verknüpft. Elsheimer geht akribisch die Vorträge des Kongresses anhand der einzelnen Gesänge durch und "die Durchdringung dieses alten Textes wurde zu einer höchstpersönlichen Angelegenheit, geradeso, als wären in ihm wichtige Fingerzeige für unser eigenes Leben verborgen." (S. 46) Tatsächlich tritt im Erzählen Elsheimers verfehltes Leben zutage. Er wird sich der inneren Leere bewusst, seiner Bindungs- und Kinderlosigkeit, hat er doch ausschließlich abgehoben im Wissenschaftskosmos gelebt. Doch er ist nicht imstande, seine Isolierung, seine Selbstgenügsamkeit und seinen Egoismus zu überwinden, ja sein menschliches Vermögen reicht nicht einmal, um einem einzigen Flüchtling Obdach zu gewähren. Elsheimer steigt am Pfingstsonntag nicht ins Paradies auf, weil er die "dem Nächsten geschuldete Verpflichtung, ihn liebenswürdig zu behandeln", die "unter der scharfen Beobachtung Gottes steht", nicht erfüllen kann. (S. 323) Deshalb muss er als 34. Wissenschaftler, d.h. mit der "Höllenzahl" gekennzeichnet, (S.33) mit Dante durch die Hölle gehen und zunächst den Läuterungsberg erklimmen. Wie dieser sich "nach und nach dem strafrechtlichen Walten Gottes" beugt (S. 58), so muss Elsheimer das Pfingstwunder annehmen und eine "juridische Erziehung" durchlaufen, was eine moralisch-sittliche Herleitung und Anerkennung des Rechts durch den Einzelnen impliziert.

Dabei erweist sich Dantes Werk, diese Reise durch die drei Reiche der Totenwelt, als sehr diesseitig, als "realismusgetränkte(r) Einblick in die Welt nach dem Tod". (S. 15) Zum einen wird die Göttliche Komödie als Dantes Auseinandersetzung mit dem "Chaos der politischen Lage" begreifbar, (S.34) die mit der Wirrnis in seinem Leben korrespondierte. Zum anderen erlebt Dantes Hölle plötzlich im Heute als "menschengemacht, auf der Erde" (S. 77) ihre Entsprechung in den "katastrophalen Zustände(n) in den armen Ländern der Welt" (S. 7), im brutalen Morden der IS und in der flächendeckenden Zerstörung ganzer Städte und Regionen, man denke an Aleppo in Syrien, in den Folterpraktiken Guantánamos, aber vor allem in den Konzentrationslagern der Nazis, deren Todesmaschinerie den Gedanken an eine göttliche wie menschliche Gerechtigkeit ad absurdum führte. Nicht immer lassen sich Dantes Maßstäbe für eine Anwartschaft in der Hölle in die Gegenwart übertragen, so, wenn es um Verrat geht. Der Verrat eines Edward Snowden oder des Hitler-Attentäters Graf Stauffenberg entziehen sich der Dante'schen Werteskala, weil hier das Individuum seine moralische Integrität gegen einen die Menschenrechte missachtenden Staat verteidigt.

Nicht zufällig löst ein Vortrag, der an Italiener erinnert, die ihr "Entsetzen" in deutschen Konzentrations- und Gefangenenlagern mit dem der Insassen von Dantes Hölle verglichen, das Pfingstwunder aus. Dieser Vortrag ist eine Mahnung, die Augen vor der Gegenwärtigkeit der Dante'schen Hölle nicht zu verschließen und ein Plädoyer für Menschlichkeit, die allein die babylonische Sprachverwirrung überwinden kann und ins Paradies führt.

Sibylle Lewitscharoff breitet in ihrem Roman en passant die zur Göttlichen Komödie verfügbare Sekundärliteratur aus. Dadurch liest er sich über weite Strecken als Kommentar zu diesem Großgedicht, das als "eines der berühmtesten und zugleich am wenigsten gelesenen Werke der Weltliteratur" gelten kann. (S. 262) Das gelingt ihr unterhaltsam und packend und eröffnet neue Zugänge zu diesem Werk. Dennoch wirkt vieles im Roman konstruiert, angefangen von der bei Dante vorgeprägten Zahlensymbolik bis hin zu Gottlieb Elsheimer, der als Figur blass bleibt. Seine permanente Selbstzerfleischung ermüdet beim Lesen, auch die Brüche zwischen populärwissenschaftlichem Stil und alkoholgetränktem Geschwätz, das amüsant daherkommen will, überzeugen nicht. Der Roman endet in einem rauschenden Sprachspiel. Der eingangs formulierte Vorwurf an Gott, dem menschlichen Elend tatenlos zuzusehen, geht ins Leere. Die sozialen Ursachen für Krieg, Armut und Elend werden religiös verbrämt. Was bleibt, ist eine beängstigende Zustandsbeschreibung und die Befürchtung, eine "ganze Nation könne selbst bei größtem Gewerbefleiß von einer inneren Leere, dieser eigentlichen Heckmutter aller Laster, befallen werden". (S. 212)


Anmerkungen:

[1] siehe Schattenblick → INFOPOOL → DIE BRILLE → TICKER
SHORTLIST 2016/002: Rezension - Bodo Kirchhoff "Widerfahrnis" (Novelle) (SB)

[2] Nonnenbacher, Kai: Der Flug der Danteforscher. Gespräch mit Sibylle Lewitscharoff zum kommenden Dante-Roman Das Pfingstwunder. In: Romanische Studien 2, 2015, S. 316.

[3] Ebd.


Die Shortlist zum Deutschen Buchpreis:
  • Reinhard Kaiser-Mühlecker Fremde Seele, dunkler Wald
  • Bodo Kirchhoff Widerfahrnis
  • André Kubiczek Skizze eines Sommers
  • Thomas Melle Die Welt im Rücken
  • Eva Schmidt Ein langes Jahr
  • Philipp Winkler Hool

Deutscher Buchpreis 2016 geht an Bodo Kirchhoff für seine Novelle 'Widerfahrnis'.


Sibylle Lewitscharoff
Das Pfingstwunder
Roman
Berlin, Suhrkamp Verlag 2016
349 Seiten
24,00 Euro
ISBN: 978-3-518-4246-6

18. Oktober 2016


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