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REZENSION/040: Martin Walser - Mädchenleben (SB)


Martin Walser

Mädchenleben
oder Die Heiligsprechung

von Christiane Baumann


Das phantastische Verschwinden des Erzählers in der Legende. Zu Martin Walsers neuem Buch Mädchenleben oder Die Heiligsprechung

Sirte Zürn ist eine Unzeitgemäße. Sie geht bei Sturm im See baden. Sie gibt zu, eine schlechte Note verdient zu haben. Sie lehrt einen Raben das Sprechen und begreift nicht, was Soldaten sind. Sie fragt: "Wann kommt wieder früher?" (7) Sirte Zürn scheint aus der Welt gefallen zu sein, einer Welt, die ihr Brechreiz verursacht. Sie ist eine "Schwester" der früheren Walserschen Romanfiguren Xaver Zürn (Seelenarbeit, 1979) und Gottlieb Zürn (Das Schwanenhaus, 1980; Jagd, 1988; Der Augenblick der Liebe, 2004), die auf ihre Lebensverhältnisse ebenfalls körperlich reagierten. Erste Skizzen zu Mädchenleben reichen bis in Walsers Tagebuch von 1961 zurück. Legte sich Xaver Zürn das Leben buchstäblich auf den Magen, so flüchtete sich der Immobilienmakler Gottlieb Zürn in sein zweites Ich als Dichterphilosoph. Die Symptome beider haben sich bei Sirte Zürn zu handfesten Diagnosen verdichtet: Magersucht oder auch "Anorexia mentalis et nervosa" (15) und "schizophrene Psychose" (45) nennen es die Mediziner. Ihr "Mädchenleben" spielt sich in einer Familie ab, zu der der prügelnde, vergewaltigende und dem Alkohol verfallene Vater Ludwig Zürn gehört, seines Zeichens Immobilien- und wohl auch Waffenhändler, ihre Mutter und die Schwester Karla, die eigentlich Guinevere heißen wollte oder Zeralda, Namen, die an Artus' Frau aus der keltischen Mythologie oder an Märchenfiguren denken lassen.

Das Verschwinden Sirtes, das sowohl Fortsein als auch körperliche Selbstzerstörung impliziert, setzt das Erzählen in Gang. Der Ich-Erzähler Anton Schweiger, Lehrer für Deutsch und Erdkunde, steht unter Verdacht, an Sirtes Abwesenheit nicht ganz unschuldig zu sein, deshalb verschwindet auch er, allerdings in eine Berghütte, um "Mädchenleben" zu schreiben. Damit wird der Erzähler zum Doppelgänger des Autors. Zugleich ist er der Anbeter der Hauptfigur Sirte, deren Leben er vor dem Leser in Beobachtungen, Dialogfetzen, Kurz-Protokollen und in Brief- und Tagebuchnotizen ausbreitet. Das tut er im Auftrag des Vaters Zürn, der seine Tochter Sirte heiligsprechen lassen will. Anton Schweigers "Protokoll" füllt sich mit Wundern, Wunderbarem und Verwunderlichem. Es wächst die Legende um Sirte Zürn, die eigentlich Gerlinde heißt. Ihr Leiden an der Welt und ihr Martyrium werden in der Tradition der mittelalterlichen Marienverehrung erzählt, die in Legenden wie dem Grazer Marienleben überliefert ist. Die Gegenwart erscheint in den Mantel des Mythischen gehüllt. In der griechischen Mythologie kennt man die Kleine und Große Syrte, Sandbänke an der Mittelmeerküste Afrikas, die wegen ihrer Untiefen den Seefahrern gefährlich werden konnten. Die Große Syrte gilt als einer der möglichen Wohnorte der Hesperiden, der Nymphen, auch "hellsingende Töchter" genannt. Sie hüteten in einem paradiesischen Garten den Baum mit den goldenen Äpfeln der Unsterblichkeit. Sirte kündet dem Ich-Erzähler von der "Vertreibung ins Paradies" (57). Sie singt lange und andauernd, irgendwann fängt sie an, das Vibrato zu üben. Als sie verstummt, beginnt sie dem Erzähler zu schreiben.

Wir erleben Sirte aus der Perspektive des Ich-Erzählers, der sein eigenes Verschwinden im Erzählvorgang inszeniert. Er wird sukzessive zum "Wegweiser zu immer neuen Sirte-Bewegungen" (70) und ist am Ende nur noch der "Empfänger von Sirtes Botschaften" (72). Dieser Ich-Erzähler nimmt als Untermieter der Familie Zürn eine Beobachterrolle ein. Er lehnt jede Verantwortung für das Erzählte, für diese phantastisch-skurrile Geschichte ab. Anton Schweiger ist ein verunsicherter und unsicherer Kandidat mit seinen Berichten über "die letzten Tage" (7) Sirtes. Er will beweisen, an Sirtes Verschwinden nicht mehr Schuld zu tragen als jeder andere, obwohl seine "Unschuld" (9), die er nicht hat, bereits erwiesen ist. Das Erzählte geht vor allem ihn selbst an: "Aber wer ich bin, muss ich mir schon zu sagen versuchen" (14). Anton Schweiger, getrieben von der Angst, sich selbst zu verlieren, ist auf Sirte fixiert, weil er das Leben, die Welt, nur noch durch sie erlebt. Er sehnt sich nach ihr, "wie nach nichts sonst" (8). Er knüpft an sie seine Existenz: "Wenn ich sie nicht mehr sehe, nicht mehr finde, hat das Leben für mich keinen Sinn mehr. [...] Wenn die Welt nicht so ist, dass sie darin leben kann, dann ist diese Welt unbewohnbar für mich" (8). Das Ganze mutet kafkaesk an, auch wenn sich der Erzähler auf Heiligsprechungen bis in die Gegenwart und auf Gewährsmänner und -frauen wie Nikolaus von Flüe (1947), Ulrika Nisch (1987) oder Anna Höß, die Heilige Crescentia (2001), berufen kann. Der Erzähler Anton Schweiger, der Doppelgänger des Autors, erzählt gegen das Verstummen. Martin Walser beschrieb in einem Interview seine literarischen Figuren als eine "Reaktion" auf den vom Autor empfundenen "Mangel". Der Mangel sei Teil seiner Biographie und die Figur der "Versuch, damit fertigzuwerden". Sirte Zürn dient als Medium und Projektionsfigur des mit dem Alter ringenden Erzählers, für seine Unzufriedenheit mit den Lebensverhältnissen, die den Menschen deformieren bis zum Verlust der Identität und der Selbstzerstörung, die er selbst als körperlichen Verfall erlebt und als Mangel an Leben und an Erotik. Dieser "Mangel" findet seine Aufhebung im Erzählen, im Prozess der "Seligsprechung" Sirtes, die jedoch nicht auf Wundern beruht. Sirte besteht auf einem "Sinn für ihr Dasein" (88). Dieser offenbart sich ihr nicht in göttlichen Wundern. Sie muss ihn, wie der Lehrer Anton Schweiger erklärt, selbst finden, was ihr in der Liebe und in der Empathie für ihre Mitmenschen gelingt und schließlich das die Heiligsprechung rechtfertigende "Wunder" bedeutet. Damit wird die "Bewohnbarkeit der Welt", an die der Erzähler seine Existenz knüpft, dem Wirken des Menschen im Geist der Humanität und Nächstenliebe überantwortet.

Sirtes "Wunschbuch" (45) ist Woyzeck, mit dem Georg Büchner gegen eine Gesellschaft rebellierte, in der der Mensch, sich selbst entfremdet, nur noch Mittel zum Zweck ist. Walsers Erzähler insistiert jedoch auf mehr als einer nur "gesellschaftskritischen Annäherung" (36) an die Geschichte. Anton Schweiger erzählt von einer Welt, in der aus Rebellion (Ess-)Verweigerung geworden ist und in der für als Identifikation angelegte "Aljoscha-Figuren" (41), wie man sie im Roman Die Brüder Karamasow findet, kein Platz mehr ist. Dostojewskis Roman wird nicht zufällig in Mädchenleben bemüht. In ihm findet sich die berühmte Legende vom Großinquisitor, jenem 90-Jährigen, der das Bedürfnis hat, sich "auszusprechen". Ihn verlangt nach Absolution durch seinen Messias, dessen Ideale, Freiheit, Brüderlichkeit, Glaube, Liebe und Vernunft, er für gescheitert erklärt an den "unlösbaren historischen Widersprüchen der menschlichen Natur". Zugleich offenbart er die Instrumentalisierung der christlichen Idee zur Ausübung von Macht, deren Sklave der Mensch sei, unfähig zu einem Leben in geistiger Freiheit und Unabhängigkeit. Dem Glauben an den Sinn des Lebens, an das Christus-Wort, der Mensch lebt nicht vom Brot allein, stellt er ein auf das Wunder, das Geheimnis und die Autorität gründendes Herrschaftsmodell entgegen. In Dostojewskis Roman ist Jesus' Antwort auf diese 'Beichte' Schweigen und ein Kuss.

Dem Verstummen und der göttlichen Liebe setzt Walsers Erzählerfigur das Göttliche der Sprache entgegen, aus dem das Wunder erwächst. Antons Namenspatron, der Franziskaner-Mönch Antonius von Padua (1195-1231) erwarb sich, nachdem er nur knapp einer Schiffskatastrophe im Mittelmeer entgangen war, mit Gottes Wort den Ruf als bedeutendster Prediger seiner Zeit, dem letztlich der kürzeste Heiligsprechungsprozess der Geschichte zuteil wurde. Genannt wird er nicht, doch die Franziskaner sind in der Legende präsent. Sirte mag nicht ins Franziskanerkloster Sießen gehen. Gehorsam liege ihr nicht, meint der Erzähler. Dieses Ganges bedarf es auch nicht, denn "das höchste Wesen", das die Menschheit habe, ist, so seine Erklärung, "aus Sprache". Sie führe "ganz von selbst zur Erschaffung von so etwas wie Gott" (89). Gott als "soziale Funktion" (89) stellt Nietzsches "Gott ist tot" zur Disposition, meint aber keineswegs eine Rückkehr zu Gott, sondern ein dem Urchristentum verpflichtetes menschliches Miteinander, in dem sich auch der Lehrer Anton Schweiger seiner gesellschaftlichen Verantwortung stellen muss. Sirtes Schlussworte: "Ich bin ein Fleck, der trocknet. / Ich werde gewesen sein." (91) führen direkt zum mittlerweile 92-jährigen Autor, zu Martin Walsers letztem Anekdotenband Spätdienst (2018), in dem es heißt: "Die Tage vergehen von selbst, / ich mische mich nicht ein, / ich bin ein Fleck, der trocknet, / ich werde gewesen sein."

Walser Legende variiert sein Credo von der Sprache als "Hort aller Erfahrung", als Refugium vor den Zumutungen der Welt und Überlebensstrategie. Sie reiht sich ein in sein bemerkenswertes Alterswerk mit jüngst erschienenen Texten wie Statt etwas oder Der letzte Rank (2017) und Gar alles oder Briefe an eine unbekannte Geliebte (2018). Diese Legende sprengt in ihrer zügellosen Phantastik bis hin zum Absurden Grenzen seines bisherigen Erzählens. Sie erzählt von den letzten Dingen des Lebens, von der Erfahrung des Todes als Grenzscheide, die, wie im Rückgriff auf das Prediger-Buch im Alten Testament konstatiert wird, alles menschliche Wirken und Planen in Frage stellt, denn "alles liegt an Zeit und Glück" (21). Bei den Toten ist, wie es dort heißt, weder Werk, Kunst, Vernunft noch Weisheit. Walsers Sirte setzt dagegen: "Wenn sonst nichts ist, sind die Wörter etwas" (61), was auf eine Seligsprechung in der Kunst zielt und auf die uralte Frage des Dichters nach dem, was bleibt.

Martin Walser
Mädchenleben
oder Die Heiligsprechung
Legende
Hamburg Rowohlt Verlag 2019
ISBN: 978-3-498-00196-4
91 Seiten
20,00 Euro

7. Februar 2020


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