Schattenblick → INFOPOOL → DIE BRILLE → REDAKTION


REZENSION/046: Fritz Bremer - In allen Lüften hallt es wie Geschrei, Jakob van Hoddis. Fragmente einer Biographie (SB)


Fritz Bremer

In allen Lüften hallt es wie Geschrei
Jakob van Hoddis. Fragmente einer Biographie

von Christiane Baumann


Genie und Wahnsinn des Dichters Jakob van Hoddis
Zur Neuauflage von Fritz Bremers biographischer Erzählung
In allen Lüften hallt es wie Geschrei

Am Eingang der Hackeschen Höfe in Berlin befindet sich eine Gedenktafel, die an den Dichter Jakob van Hoddis erinnert. An diesem Ort hatte Hoddis, der eigentlich Hans Davidsohn hieß, 1909 mit Freunden den expressionistischen "Neuen Club" gegründet. Sein bekanntestes Gedicht Weltende eröffnete das Lyrik-Manifest des Expressionismus, die Anthologie Menschheitsdämmerung, die erstmals 1919 erschien. Im Titel Weltende spiegelten sich Weltuntergangsszenarien und Endzeitstimmung als Lebensgefühl einer jungen Generation wider, die gegen die "entartete Gesellschaftsordnung" rebellierte und dabei nur eine verschwommene Vorstellung von einer besseren, menschenwürdigeren Gesellschaft hatte. "Freie Kunst - Freie Geister - Freie Menschheit" - waren Leitbegriffe, die sich expressionistische Künstlervereinigungen wie die Magdeburger KUGEL auf die Fahnen schrieben. Es war der Aufschrei einer Generation, die gerade den Ersten Weltkrieg erlebt hatte. Aufruhr und Protest fanden ihren Ausdruck in beklemmenden und verstörenden Bildern, die sich gegen die bürgerliche Scheinharmonie auflehnten. Hoddis' Weltende bringt Wut und Empörung gegen die saturierte Bürgerlichkeit angesichts einer aus den Fugen geratenen Welt in ein groteskes Bild:

"Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,
In allen Lüften hallt es wie Geschrei.
Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei,
Und an den Küsten - liest man - steigt die Flut."

Die Verse könnten in ihrem Grundgefühl, der auch spürbaren Ohnmacht, aktueller nicht sein. Das "How dare you?" der jungen Aktivistin Greta Thunberg in ihrer Wutrede angesichts des globalen Versagens der bürgerlichen Eliten legt davon ein beredtes Zeugnis ab. Doch nicht nur die Lyrik des Jakob van Hoddis wirkt erstaunlich modern, auch sein Leben lädt zum Nachdenken über unsere Zeit ein. Nur Bruchstücke seiner Biographie sind in Dokumenten überliefert. Der Kieler Autor Fritz Bremer, der sich seit Jahrzehnten mit sozialpsychiatrischen Themen auseinandersetzt und u. a. als Mitherausgeber der Zeitschrift Brückenschlag - Sozialpsychiatrie, Literatur, Kunst hervorgetreten ist, hat diese "Fragmente einer Biographie" zu einer Erzählung über den Dichter Jakob van Hoddis verknüpft. Diese Erzählung, erstmals 1996 erschienen und seit Jahren vergriffen, wurde jetzt, ergänzt um ein bemerkenswertes Nachwort von Irene Stratenwerth, neu aufgelegt.

Der Titel der Erzählung In allen Lüften hallt es wie Geschrei schließt an Hoddis' berühmtes Gedicht Weltende an. Doch so berühmt dieses Gedicht auch wurde, das schmale Ovre des Dichters mit etwa 100 überlieferten Gedichten und Prosatexten ist heute nur Insidern bekannt. Noch weniger weiß man über das Leben von Hans Davidsohn, der 1887 in Berlin zur Welt kam und im April 1942 aus der Heilanstalt Bendorf-Sayn bei Koblenz deportiert und vermutlich in einem der Vernichtungslager der Nationalsozialisten ermordet wurde. Hans Davidsohn wuchs als Sohn eines Arztes in einer wohl situierten jüdischen Familie auf. Das Pseudonym "van Hoddis", das er sich gab, ist ein Anagramm. Er bildete es aus den Buchstaben des Namens Davidsohn. Hoddis galt als hochintelligent, war aber offenbar wenig anpassungsfähig. Das Berliner Friedrich-Wilhelm-Gymnasium verließ er zunächst ohne Abitur, holte dies jedoch später als Externer nach. Er begann 1906 in München Architektur zu studieren, war kurzzeitig auf dem Bau beschäftigt und wandte sich dann an den Universitäten in Jena und Berlin der Philologie zu. 1909 gehörte er mit Kurt Hiller, Erwin Loewenson und anderen zu den Gründern des "Neuen Club", aus dem sich das "Neopathetische Cabarett" (1910) entwickelte. Dies war ein Forum gleichgesinnter junger Dichter, die dort regelmäßig ihre Texte vortrugen, darunter der frühexpressionistische Lyriker und Hoddis-Freund Georg Heym, der bereits 1912 verstarb. Genau in diesem Jahr zeigten sich bei Hoddis erste Anzeichen einer psychischen Erkrankung, und an diesem markanten Punkt beginnt Bremers Geschichte, die in ihrem Untertitel "Fragmente einer Biographie" auf den dokumentarischen Charakter des Erzählten weist.

Bremers Erzählung nutzt Auszüge aus Patientenakten und Briefen. Um diese herum und damit die "Lücken" füllend, schreibt er seine fiktive Geschichte. Die Textstruktur in ihrem Spannungsverhältnis von Dokumentation und Fiktion nimmt auch die Erzählkonstruktion auf. Neben den Patienten Hans Davidsohn, von dem in überlieferten Dokumenten die Rede ist, tritt der Künstler Jakob van Hoddis, dessen Persönlichkeit in fiktiven Episoden nachgespürt wird und der aus seiner Lebenswirklichkeit seine grotesken, humorvoll bis satirisch verfremdeten Gedichte schöpft. Dabei geht die Fiktion immer wieder im überlieferten Kunstwerk auf. Eine erfundene Wanderung von Hoddis durch das nächtliche Berlin endet am frühen Morgen mit der Niederschrift des Gedichtes Morgens, das auch in die Anthologie Menschheitsdämmerung Aufnahme fand. Die Grenze zwischen Wirklichkeit und Kunst verschwimmt wie jene zwischen Genie und Wahnsinn. Die Aufspaltung der Figur in die historisch überlieferte und fiktive Gestalt macht den Identitätskonflikt, die Zerrissenheit zwischen Bürgersohn und Künstler sichtbar, die durch zunehmende Entfremdung zur bürgerlichen Welt schließlich in die Schizophrenie führt.

Als Vorbild der Erzählung ist unschwer Georg Büchners Lenz-Novelle zu identifizieren. Passagen wie Hoddis' Nebelwanderung weisen nachdrücklich auf den literarischen Bezug und auf die Geistesverwandtschaft mit dem Sturm-und-Drang-Dichter Jakob Michael Reinhold Lenz, dem der "Wahnsinn auf Rossen" hinterherjagte, wie es bei Büchner heißt. Literarische Kontexte deutet Bremer in seiner Erzählung jedoch nur an. Hoddis' Mitarbeit an expressionistischen Zeitschriften wie Der Sturm und Die Aktion werden erwähnt. Der in der Aktion unter dem Titel Gewaltsam ins Irrenhaus im Dezember 1912 abgedruckte Protest des Herausgebers Franz Pfemfert gegen die von der Mutter veranlasste Einweisung des Dichters in eine Heilanstalt, wird auszugsweise wiedergegeben. Wer nicht weiß, dass Pfemferts links-avantgardistische Zeitschrift auf Veränderung der politischen Verhältnisse zielte, dass sie politische "Aktion" für die Literatur in Anspruch nahm, dem bleiben wichtige Zusammenhänge verschlossen. Angedeutet wird das gesellschaftliche und persönliche Scheitern des Dichters, der "die Welt nicht aushalten" konnte (S. 50). Der Plan einer Künstler-WG, eine Art Kommune, zerschlägt sich wie auch der für eine Zeitschrift, "die das bürgerliche Leben als eine einzige Belästigung des Geistes" (S. 63) entlarven sollte. Die Liebe zu Lotte Pritzel, einer Münchner Puppenkünstlerin und Zeichnerin bleibt unerwidert. Dazwischen der Krieg, aus dem viele der einstigen Weggefährten nicht zurückkehren.

Bremer interessiert vor allem der sich sukzessiv verändernde Geisteszustand des Dichters, der in Inneneinsichten psychologisch einfühlsam nachgezeichnet wird. Erweist sich die bürgerliche Gesellschaft als unfähig, die Andersartigkeit des Künstlers und dessen Leben gegen die soziale Norm zu akzeptieren, so wird diesem der Wahnsinn zur Flucht aus einer ihm unerträglich gewordenen Lebenswirklichkeit. Der Ausgrenzung folgt die Separierung in psychiatrischen Einrichtungen, in denen sich das krankhafte Verhalten weiter verschlimmert. Einen utopischen Gegenentwurf bildet die von Bremer am Ende eingestreute Triester Vision einer "demokratischen Psychiatrie", die die biographische Stringenz der Erzählung durchbricht. Der Italiener Franco Basaglia (1924-1980) begründete die Praxis der offenen Psychiatrie in den 1970er Jahren in Italien. Van Hoddis' Traumreise nach Triest ist eine Utopie gelebter Enthospitalisierung, um den Wahnsinn dorthin zu bringen, wo er entstanden ist und wo er hingehört: mitten in die Gesellschaft (S. 145). Damit wird die Gesellschaft auf die Anklagebank gesetzt. Nach diesem Plädoyer für eine menschenwürdige Psychiatrie steuert die Erzählung auf die Katastrophe zu: die Deportation von Hans Davidsohn alias Jakob van Hoddis aus der Heilanstalt bei Koblenz und sein ungewisses Ende in einem der Vernichtungslager der Nazis. Der Nationalsozialismus sprach dem Juden und psychisch Kranken sein doppeltes Todesurteil. Während Teilen seiner jüdischen Familie die Flucht nach Palästina gelang, fiel Jakob van Hoddis dem Wahnsinn und der Unmenschlichkeit des NS-Regimes zum Opfer.

Im Nachwort berichtet Irene Stratenwerth von einer Spurensuche, die, inspiriert von Fritz Bremers Erzählung, 1997 begann. Sie führte sie zu noch lebenden Nachfahren des Dichters nach Israel. Seine Schwestern und Mutter, die ihren Sohn Hans, als sie im August 1933 nach Palästina floh, schweren Herzens in Deutschland zurückließ, leben nicht mehr. Einige ihrer Kinder und Enkel, die die deutsche Sprache nicht mehr sprechen, pflegen heute das Erbe des Jakob van Hoddis. Das Nachwort, das auch über den Verbleib von Weggefährten des Dichters Auskunft gibt, fügt dessen Geschichte eine weitere hinzu. Es ist dies die Geschichte seiner jüdischen Familie, die von Flucht, Vertreibung und Bombenangriffen in der neuen Heimat Israel erzählt. Nichts von alledem ist heute Vergangenheit. Das Buch führt direkt in unsere Gegenwart. Das macht es so verstörend aktuell.

Bremer, Fritz:
In allen Lüften hallt es wie Geschrei
Jakob van Hoddis. Fragmente einer Biographie
Berlin: PalmArtPress 2021
ISBN 978-3-96258-071-1
20 EUR

17. Mai 2021


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang