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REZENSION/047: Volker Braun - Große Fuge (SB)


Volker Braun

Große Fuge

von Christiane Baumann


"Mitleiden-schaftlich, gemeinsüchtig, Menschenmöglich"
Zu Volker Brauns ungewöhnlichem Weltgedicht Große Fuge

Volker Braun (1939, Dresden), in der DDR einer der bedeutendsten Schriftsteller, der mit Texten wie der Unvollendeten Geschichte oder seinem Hinze-Kunze-Roman für Aufsehen und bei den politisch Mächtigen nicht selten für Unmut sorgte, zählt mit seinen kritischen Wortmeldungen längst zu den Großen der deutschen Gegenwartsliteratur. Seine Handstreiche stellten das 2019 erneut eindrucksvoll unter Beweis. Sie endeten mit dem Satz: "Fast glaube ich, daß sie (die Aussprache, C.B.) genügt und ich keine weiteren Diskussionen wünsche." Nun ist ein schmaler Lyrikband mit dem Titel Große Fuge erschienen, in dem der Büchner-Preisträger die Diskussion provokant und bissig fortsetzt. Entstanden 2020 im Kontext der Corona-Ereignisse, ist dieses Thema allgegenwärtig und wird zum Anlass, vielstimmig über deutsche Gegenwart nachzudenken. Dabei hat Braun ein bemerkenswertes Zeitdokument mit geschichtsphilosophischem Tiefgang geschaffen, das lange nach unserer Zeit seine Gültigkeit unter Beweis stellen wird.

Der Titel Große Fuge weist auf Programmatisches. Eine Fuge ist ein Zwischenraum, ein Übergang. Aus der Sprachwissenschaft kennen wir die Wortfuge, die als Bindeglied zwischen den Bestandteilen zusammengesetzter Wörter fungiert. Brauns Titel lässt an Übergangszeiten denken, an eine Welt, die aus den Fugen geraten ist, an "eine lange Epoche ungewohnter Unordnungen" (31), wie es im ARBEITSPAPIER heißt. Den Musikkenner erinnert der Titel an Ludwig van Beethovens Große Fuge Opus 133. Das Streichquartett gehört zu den letzten Werken des Komponisten. Ursprünglich als Schlusssatz des Streichquartetts B-Dur Opus 130 komponiert, erschien das Werk schließlich separat, weil es dem Verleger zu modern war. Was störte, war die Neuartigkeit der Tonsprache, das Formensprengende, das Ungebundene, das sich dennoch der Form bediente. Beethoven brach mit starren polyphonen Kompositionsregeln. Stattdessen brillierte er im freien Fugatostil. All das ließe sich auf Volker Brauns neuen Band übertragen, der auch auf den Komponisten verweist: "Bei Beethoven kündigt sich Die Katastrophe an, die Gebrochenheit der Fugen ..." (36). Braun stellt sich mit diesem Gedichtband den großen Zeitfragen und ist in seiner Sprache von atemberaubender Modernität. Er spielt mit Versmaß, Rhythmus und mit moderner Zeichensprache. Das Enjambement (Zeilensprung) zerstört den Zeilenstil und lässt Sprachbilder entstehen, die über das visuelle Erlebnis neue Zusammenhänge und Bedeutungen herstellen. Braun bewegt sich geistig und ästhetisch in Sphären, die eine Klasse für sich sind. Die Faszination für die visuelle Poesie im Grenzbereich von Lyrik und Grafik, wie sie der linke Avantgardekünstler Carlfriedrich Claus (1930-1998) entwarf und mit dem sich AGGREGAT K auseinandersetzt, ist durchgängig spürbar.

Die Texte sind in drei Sätzen angeordnet. Der erste Teil gibt Themen vor, die in der Folge "fugenartig" variiert werden. Eröffnet wird der Band mit einem WACHTRAUM, der an Franz Fühmanns Traumerzählungen und -notate denken lässt. Der "Traum von einer Sache, die nicht in der Welt ist, oder eine Welt, die nicht meine Sache ist" (7), artikuliert den Grundkonflikt des Ich-Erzählers, das Fremdsein und Unbehagen in der Welt des Kapitals. "Wenn du die Welt nicht mehr im Kopf aushältst / Und den Irrsinn nicht mehr buchstabieren willst" (38), lautet der Befund in ANATOMIE. KLEIST, MEINHOF. Der Wachträumer in Freuds begrifflicher Bestimmung "sieht nicht, sondern denkt". Im Wachtraum des Braun'schen Ich-Erzählers sind "geträumte" und erlebte Wirklichkeit, psychische und soziale Realität ineinandergeschoben. In diesem Schwebezustand erinnert und "denkt" sich der Erzähler Szenen und Zeitereignisse, angefangen vom "Haus der Kindheit" (7) bis zum Fall Snowden. Während er sich drei Mal im Bett herumwälzt, bedrängen ihn Bilder von Ausbeutung, sozialer Ungerechtigkeit und Krieg in einer Welt, die in Aufruhr ist und in der man die Sprache verloren hat: "Wie bei den Fernsehgeräten versteht man die Worte nicht mehr, verkommene Technik (für die verkommene Öffentlichkeit)." (8-9) Der Ich-Erzähler konstatiert den Verlust des Geschichtsbewusstseins: "Westhofen, Workuta und Rohwedder, vergessene Gegenstände" (8). Das KZ Osthofen, in Anna Seghers Roman Das siebte Kreuz als Westhofen verfremdet, der Gulag von Workuta und der Treuhand-Manager Rohwedder liefern Stichworte zur deutschen Geschichte, die der Erzähler vom kollektiven Vergessen bedroht sieht. Wer seine Wurzeln vergisst und seine Vergangenheit nicht kennt, kann seine Zukunft nicht gestalten. Er dümpelt bewegungsunfähig vor sich hin, wie in der sich anschließenden Vision NACH UNSERER ZEIT, die ein düsteres Zukunftsbild der Menschheit, "NUR NOCH IN FORM UND HALTUNG EINEM MEN-SCHEN ÄHNLICH" (10), entwirft.

Der zweite Teil des Bandes, betitelt mit GROßE FUGE. AGGREGAT K, erhellt in Situationen und Episoden den maroden Zustand der Gesellschaft, der Welt. Der "Pestpatient" (13) leidet unter KATARRHSIS. Eine Läuterung, eine Katharsis, wie sie die griechische Tragödie nach der Poetik des Aristoteles kannte, ist nicht mehr möglich: "die Theater den Geistern [...] EIN JAHR OHNE KUNST", "Katarrh im Kulturbetrieb" (13). Das Enjambement schlägt Haken. Willkommen "Im Anthropozän" (14), im menschgemachten Zeitalter, in dem der Mensch über die Zukunft der Erde bestimmt. Doch der WINDBÜRGER ist "durch den Wind, die Zyclowne regieren ihn" (16). Im gleichnamigen Gedicht, einer Zurücknahme der Hölderlinschen Verse Wie wenn am Feiertage, verschränken sich Erd- und Menschheitsgeschichte in der Wortschöpfung aus Zyklone und Clown. Fatale Wirbelstürme dank globaler Klimakatastrophe, soziale Verwerfungen, Arbeitslosigkeit und die unheilvolle deutsche Geschichte, in der die Nazis Zyklon B in ihren Gaskammern für den organisierten Massenmord benutzten - alles gebannt in ein Wort. Clowns sind in Brauns Parabel Die vier Werkzeugmacher (1996) die "arbeitslosen Wichte", denen das wichtigste Werkzeug, das Begreifen, nicht zur Hand ist. In den Handstreichen ist es der Straßenkünstler, der als Clownsfigur eine "kunstlose Existenz", ein Leben ohne die "Kunst" der Arbeit, ohne schöpferische Tätigkeit fristet. Das lyrische Ich stellt den zyclown-regierten Windbürgern den eigenen Anspruch entgegen: "Das ist deine Kunst jetzt / Allein zu sein, mit allen, und ernst / Auf dich gestellt wie der Stein, der Halm / Und mitzudenken mit den Gebirgen und Meeren." (16) Braun schlägt den Bogen von den Rosenkriegen um die Krone Englands im 15. Jahrhundert, einer Zeit großer gesellschaftlicher Umwälzungen am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, die Renaissance-Humanisten wie Francesco Petrarca mit ihrem modernen, auf den Menschen gerichteten Denken prägten, zum "Krieg der Landschaften" (18) der Jetztzeit. Gegen die globale Katastrophe und die unaufhaltsam laufende "Gewinn- und Verlustmaschine" (23) des Kapitals, die nur in Profit abrechnet, setzt er in AGGREGAT K, das den zweiten Teil des Bandes beschließt, die Utopie einer menschlichen Gesellschaft, die durch sinnstiftende Arbeit entsteht: "Arbeit) 'der Stoffwechsel mit der Natur' / Mit der geringsten Kraft organisiert; die unmittelbar auf die Not / Des andern bezogene Handlung, nicht vermittelt / Durch ein Äquivalent; Gemein- / Sinn und -besitz DAS IST DER KERNBEREICH DER FABRIK / Mitleiden- / schaftlich, gemeinsüchtig, eine mögliche / Praxis, um die sich alles wie um die Sonne dreht" (27). Menschlich sein und werden, dazu gehört "Liebe) Er übte sie, keusch wie ein Kämpfer / 'auf dem Weg Ho Chi Minhs'" (27). Aggregat K steht nicht zufällig exakt in der Mitte des Bandes. Der "KERNBEREICH", um den Brauns Denken und Schreiben kreist, ist auf gesellschaftliche Veränderung gerichtet, die ein soziales Miteinander, "mitleiden- / schaftlich, gemeinsüchtig / Menschenmöglich" (24) impliziert. Das ist nur denkbar, wenn - Brauns Kommentar weist nachdrücklich auf das Marx-Zitat - die Gesellschaft "sich um die Sonne der Arbeit dreht" (52).

Der dritte Teil Tonkrieger, der Titel nimmt auf gleichnamige Texte Brauns im Band Die Zickzackbrücke (1992) Bezug, ist von Verlusterfahrungen unterschiedlicher Art geprägt: der frühe Tod des Neffen, Altern und Krankheit, das Scheitern der Philosophen von Kant bis Schmitt, die gescheiterte frühbürgerliche Revolution in Deutschland, die Werner Tübke in seinem einzigartigen Monumentalbild in Bad Frankenhausen gestaltete und die 1989 eröffnet wurde, im Jahr der "Wende", in der sich die Hellen Haufen - eine Erzählung Brauns (2011), die damit die Arbeiter bezeichnet - kampflos den "Truppen der Treuhand" (47) ergaben. Der Kreis schließt sich in der GEISTERSTUNDE, die Abgesang und Aufbegehren zugleich ist. Die toten Dichter auf dem berühmten Dorotheenstädtischen Friedhof im Osten Berlins, deren Namen sich mit dem Aufbau und der Geschichte des anderen, 1989 abgetretenen Deutschland und einer anderen Gesellschaftsutopie verbanden, von Heinrich Mann bis Bertolt Brecht, von Arnold Zweig bis Anna Seghers, leben im Gedächtnis und Werk nachkommender Dichter weiter: "Die Toten lebendig / Wir Gespenster" (49). Es ist - in Hegelscher Dialekt gedacht - nicht das letzte Wort: "Das Wahre ist das Ganze [...] Det Janze / Ist nicht det Wahre." (49)

Brauns Lyrik verlangt vom Lesenden schöpferische Arbeit. Wer sich dieser unterzieht, wird neue Einsichten und Blickwinkel gewinnen. Dabei arbeitet er mit einem dichten Netz an literarischen Zitaten, das u. a. auf Dichtungen von Dante, Petrarca, Ezra Pound, Hölderlin, Shakespeare, Anna Seghers, Bertolt Brecht, Heiner Müller, Carlfriedrich Claus, Karl Mickel und auf eigene Werke zurückgreift, nicht zu vergessen die mannigfachen historischen und philosophischen Bezüge. Die dem Band beigegebenen Anmerkungen geben Hinweise. Vieles muss sich der Lesende selbst erschließen. Braun macht in seinen Gedichten das scheinbar Nichtbegreifbare hinter den Erscheinungen sichtbar und seziert es messerscharf, ist dabei pointiert-witzig und ungeheuer "leichtfüßig". Es entstehen neue, lebendige Wahrheiten eines mittlerweile 82-jährigen Dichters, dessen Altersweisheit und junger Geist auf die Zukunft gerichtet sind und gemeinsam "ins Freie gehen" (38).

Braun, Volker:
Große Fuge
Berlin: Suhrkamp 2021
53 Seiten, 16 EUR
ISBN 978-3-518-43021-7

15. Juni 2021

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 22. Juni 2021


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