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BERICHT/002: Gerhard Zwerenz und Günter Wallraff lesen beim Literaturfestival in Leipzig (SB)


Texte gegen die Wirklichkeit

Politische Literatur in Leipzig
oder
was Gerhard Zwerenz und Günter Wallraff verbindet

Foto: © 2009 by Schattenblick
Foto: © 2009 by Schattenblick

Zwei Schwergewichte deutschsprachiger politischer Literatur hatten die Veranstalter am 19. November 2009 ins Haus des Buches in Leipzig geladen. Das erste Literaturfestival textenet.de, das auf Initiative verschiedener Vereine sowie der Literaturzeitschrift EDIT, die damit ihre 50. Ausgabe feiert, entstanden ist und die Lücke schließen könnte, die der seit 2002 gestrichene Leipziger Literaturherbst hinterlassen hat, versammelte seit Anfang Oktober für 6 Wochen Poeten und Literaten, Tänzer, Musiker, Filmemacher und Vertreter verschiedenster experimenteller und medialer Darstellungsformen an 20 Veranstaltungsorten.

In einer Mischung von einheimischen und auswärtigen, noch unbekannten und bereits berühmten Autoren sollte ein Podium geschaffen werden für das, was heute Text und Literatur ist und was beileibe "nicht mehr zwischen zwei Buchdeckel paßt", so die Veranstalter, aber auch Rückschau gehalten werden auf die Ereignisse um den Herbst '89 und auf die widerständige Literatur jener Zeit.

Zu den Meistern dieses Genres gehören zweifelsfrei die beiden Vorlesenden dieses Abends, Gerhard Zwerenz, den seine Biografie eng mit Leipzig verbindet, und Günter Wallraff, den u.a. seine Zusammenarbeit mit dem Erich-Zeigner-Haus für mehr Zivilcourage allein in jüngster Vergangenheit mehr als 70 Mal nach Leipzig führte, herausragend nicht nur wegen ihres Alters (der eine 84, der andere 67), sondern vor allem wegen ihres politisch-literarischen Engagements und ihrer ungebrochenen Position, die weder Rückzug noch Rente kennt.

Andreas Heidtmann, Gerhard Zwerenz - Foto: © 2009 by Schattenblick

Andreas Heidtmann, Gerhard Zwerenz
Foto: © 2010 by Schattenblick

Von Andreas Heidtmann, dem Gründer des Webportals und gleichnamigen Verlages poetenladen und Herausgeber des Zwerenzschen Tagebuchs Die Verteidigung Sachsens und warum Karl May die Indianer liebte, das seit 2008 im Netz erscheint, auf seine mehr als 100 Werke und Veröffentlichungen, darunter Romane, Gedichte, Essays, Monographien, Theaterstücke verwiesen - kein Genre, das Gerhard Zwerenz nicht erfolgreich bearbeitet hätte -, fiel der ihm gleich ins Wort: "... und erfolglos, das ist oft viel wichtiger, als Erfolg zu haben!" So kennt man ihn, den vom Widerspruch Angetriebenen, den niemals Einverstandenen, den bekennenden Trotzkisten seit seinen Jugendjahren, den Unbequemen, den Polemiker, der, so Wolfgang Neuss einmal, in Wirklichkeit ein vagabundierender Humorist sei.

Mit dem Sächsischen Tagebuch hat Zwerenz für ihn und mögliche wie erwünschte Nachfolger neue Wege der Literaturverarbeitung beschritten. Das Mammutwerk mit bislang mehr als 1000 Seiten erscheint - wie der Spiegel - jeden Montag mit einer neuen Ausgabe. 99 "Fragmente" sind es, inzwischen ist man bei den Nachworten und auch das könnten, so der Autor, leicht nochmal 99 werden. "Und wenn das vorbei ist und ich habe immer noch Luft, dann laß ich mir auch noch was Neues einfallen."

Die Serie, die auf Anregung seiner Frau Ingrid Zwerenz und Andreas Heidtmann online erscheint, eröffne eine ganz neue Möglichkeit, Geschichtliches, d.i. Vergangenes, mit Zukünftigem zu verbinden, Parallelen aufzuzeigen und in der aktuellen Diskussion zu bleiben. So biete das Internet eine ungeheure Erweiterung des Gesichtsfeldes und der Wirkung.

Wenn ich ein Buch schreibe, dann ist das zwangsläufig immer Vergangenheit, auch wenn ich der bin, der ja diese Vergangenheit überlegt hat und da ist, aber es ist Vergangenheit, ob es ein Roman ist oder Sachbuch, ob Geschichtsbuch, es ist immer weit zurück. Und jetzt habe ich gesehen, wenn ich so ein Kapitel nehme, das zurück ist, besonders, wenn es autobiografisch ist, wenn es also mein Erlebnis ist oder das meiner Pseudonyme - ich habe ja ein Dutzend Pseudonyme, das darf man nicht vergessen, ein paar laufen hier in Leipzig rum und sagen mir, egal was passiert -, diese Geschichte, die ich aus meinem Leben transportiere, kann ich, wenn ich für ihn (Heidtmann, Anm. d. Red.) schreibe, dann kann ich doch die Schweinereien in unserer Alltagspolitik, also in Jetztzeit, das kann ich ja reinbringen, und dann stellen sich plötzlich Parallelen her zwischen den Dingen, die ich unter Umständen aus meiner Kindheit vor über 80 Jahren transportiere, das kann ich verbinden mit dem, was heute und gestern hier passiert ist.

"Schreiben in die Zukunft" nennt Zwerenz das und seine so entstandene widerständige Zeitenchronik einen Daumenabdruck, "einen hundertjährigen Daumenabdruck", seine persönliche, unverwechselbare Darstellung und Deutung deutscher und vor allem sächsischer (Kultur-)geschichte und Geschichten.

Andreas Heidtmann, Gerhard Zwerenz - Foto: © 2009 by Schattenblick
Foto: © 2010 by Schattenblick

Er habe, in Anlehnung an den Sachsenspiegel, das bedeutendste Rechtsbuch des Mittelalters, das über Jahrhunderte die Entwicklung des Rechtswesens in deutscher Sprache dokumentiert - den neuen Sachsenspiegel geschrieben - und "da bin ich stolz drauf".

Daß bei einem solchen Querdenker Kritik an den vergangenen wie an bestehenden Verhältnissen der Motor des Schreibens war und bleibt, versteht sich fast von allein. Sah Biermann seine Treue zu sich selbst darin, daß er sich ständig änderte, sprich anpaßte, und damit zu denen zählt, denen der Sachsendichter eine "Karriere in der Mussolini-Kurve" (von links unten nach rechts oben) bescheinigt, ist Zwerenz in seinen Grundpositionen fest geblieben.

Und so sind, wen wundert's, mehrere Kapitel der Tagebücher seinem Lehrer Ernst Bloch gewidmet und den Goldenen Leipziger Jahren zwischen 1952 und 1957, für Zwerenz eine der verpaßten Chancen für einen eigenen Weg zum Sozialismus wie die um 1989, denn: "Mit der Wiedervereinigung bin ich ganz und gar nicht einverstanden, für mich war das eine ungeheure Niederlage." Das Publikum scheint irritiert ob dieses Tabubruchs, begangen ausgerechnet in der Stadt, die im Mittelpunkt der geschichtspolitischen Verklärung der "friedlichen Revolution" zum Nutzen ganz anderer Interessen steht. Es applaudiert dafür um so heftiger, als Zwerenz daran erinnert, daß von deutschem Boden nie wieder Krieg ausgehen sollte.

Der Osten ... Schwarz - Rot - Gold - Foto: © 2009 by Schattenblick

Der Osten ... Schwarz - Rot - Gold
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Für seinen Versuch eines Dritten Weges, d.i. Revolution ohne Gewalt, war ihm Bloch der Schlüssel, und die erste Begegnung mit dem "Philosophen des tätigen Optimismus" aus dem 7. Kapitel der Sächsischen Tagebücher "Die Reise nach dem verlorenen Ich" liest er in gekürzter Fassung; darin dieses, das mit einer Reflexion von Zwerenz beginnt:

"Ich kann mein vergangenes Leben genauso in einzelnen Bildern zurückrufen, aber ... "
"Aber?"
"Es wird ein Panorama in Bruchstücken. Mir fehlt das Verbindende. Sie verstehen, ich vermute, mir ist mein Ich abhanden gekommen."
"So wie Peter Schlemihl der Schatten?"
"Schlimmer. Ich bin der Schatten."
"Und Sie glauben, das läßt sich reparieren?"
"Ich bin in meiner Kindheit schon einmal klüger gewesen. Lehren Sie mich die Rückkehr."
Er schüttelte unwillig das zerknitterte Haupt. "Keine Rückkehr. Nach vorn gehen."...
Ich wollte kein Gewehr mehr und keine Kompromisse, und er lieferte die Gegenargumente. Mein Nie-wieder-Waffen stand gegen sein Nie-wieder-Kapitalismus. Das mir indessen auch gefiel.

Bloch sei kein Trotzkist gewesen, aber seine Philosophie eine absolut trotzkistische Revolutionsphilosophie, eine Theorie gegen die Verzweiflung. Deswegen dürfe die Philosophie Blochs nicht vergessen werden, aber weder vor noch nach '89 habe man sich seiner erinnern wollen und so sei eine ungeheure "Philosophie der Errettung" abgebrochen worden. Blochs Hauptwerk, für Zwerenz nicht Das Prinzip Hoffnung, sondern Die Erbschaft dieser Zeit (1935), das in der DDR nicht erscheinen durfte, sei "die Geschichte eines Antifaschismus, eines Kampfes gegen den Faschismus, der aber nicht auf die Niederlage, nicht auf Hitlers Sieg abonniert ist". Gerade hier, wo es seiner Aussage nach "hochinteressant" wird, unterbricht Zwerenz mit fragendem Blick auf die Uhr. Sicherlich hätten nicht wenige Zuhörer gerne mehr über diese Möglichkeit widerständigen Handelns erfahren, doch der Moderator befand es für passender, das Thema zu wechseln.

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Gefragt nach seiner Motivation für sein Tagebuch antwortet Gerhard Zwerenz: "Ich will nicht, daß von der Geschichte Sachsens etwas verlorengeht." Sachsen sei immer ein kultureller, wirtschaftlicher und politischer Faktor gewesen, eine Wiege der Arbeiterbewegung und der Sozialdemokratie, allerdings der vor '33. Seit der Wiedervereinigung gelte Sachsen fast als Schimpfwort und er empfinde das als persönliche Beleidigung. "Nach 1990 blicken wir gealtert und evaluiert zurück und wir sollen uns schämen, wir sollen Schuld empfinden, als wäre da in unserer Vergangenheit ein Webfehler, als wären wir auf Fehler akkumuliert." Dabei hätten "eben nicht die Völker versagt, sondern ganz bestimmte Eliten und Intellektuelle der politischen Klasse."

Obwohl Sachsen seine Heimat ist, fühle er sich hier nicht mehr zu Hause, aber ein "Exilsachse möchte ich schon sein, doch geht es mir um Politik und Kultur, ich möchte nicht zu einem Utensil einer volkstümlichen Heimatgeschichte werden."

Die Gefahr besteht - nach Lektüre der Sächsischen Tagebücher - nicht.

Die Lesung endete mit einer fiktionalen Reise durch die deutsche Literaturgeschichte. In einer besonders ergreifenden Passage geht Zwerenz auf die berühmte Parabel Franz Kafkas Vor dem Gesetz ein. Das dort geschilderte Scheitern lebenslangen Wartens auf die richtige Gelegenheit, alle Warnungen des Torwächters zu ignorieren und durch die Tür der Erkenntnis zu gehen, die der passiven Grundhaltung gemäß natürlich versäumt wird, hat Zwerenz dazu veranlaßt, diesen Schritt im Anschluß an Kafka zu wagen und in eine schonungslose Konfrontation mit sich selbst einzutreten. Sie gerät zu einer Abrechnung mit jenen Widersprüchen, denen der vergesellschaftete Mensch im Spannungsfeld von Herrschaft und Eigensinn stets ausgesetzt ist. "Es ist der Versuch, meine Schwächen in diesen Spiegel zu sprechen. Das ist der Bericht an die Akademie für Sklavensprache". Die in dieser Geschichte enthaltene Aufforderung, Mut zu fassen und den Streit selbst mit Tod und Teufel zu wagen, wurde, wie an der gespannten Stille im Publikum zu merken, zweifellos verstanden. Aus der Betriebsamkeit des gesellschaftlichen Ereignisses stieg man kurzzeitig in Auerbachs Keller hinab, "wo laut Goethe der Faust und der Mephisto auf einem Weinfaß hinunter- und wieder hinausgeritten sind, und dort gibt es noch Türen, die nur der erkennt, der wirklich gewillt ist, eine solche Tür zu öffnen und durchzugehen".

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Zwischen den Lesungen bestand Gelegenheit, eine kleine Stärkung zu sich zu nehmen, einige Exponate der aktuellen Ausstellung anzuschauen und vor allem der Musik von Michael Breitenbach und Christoph Schenker zu lauschen. Was üblicherweise als Pausenfüller zwischen den Welten verschwindet, nahm die Zuhörer als virtuos gespielter, von einem satten Groove bewegter und mit sparsam eingesetzten elektronischen Samples bereicherter Jazz mühelos gefangen. An orientalische Weisen gemahnende Saxophonklänge und ein zwischen Rhythmuseinsatz und melancholischen Harmonien changierendes Cello erfreuten auf so unaufdringliche wie unausweichliche Weise.

Michael Breitenbach, Christoph Schenker - Foto: © 2009 by Schattenblick

Michael Breitenbach, Christoph Schenker
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Seit über 40 Jahren ist Günter Wallraff 'undercover' unterwegs. Unter falscher Identität Mißstände, vor allem in der Arbeitswelt, aber auch an anderen sozialen Brennpunkten der Gesellschaft zu recherchieren und aufzudecken, ist als Begriff "wallraffen" in den schwedischen Sprachgebrauch eingegangen und hat ihm nicht nur dort viele Nachahmer beschert. "Ich muß die Sachen am eigenen Leib erfahren, um darüber schreiben zu können", erklärt er seine Methode.

Günter Wallraff, Jürgen Krätzer - Foto: © 2009 by Schattenblick

Günter Wallraff, Jürgen Krätzer
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Anderes aus Wallraffs Vita ist weniger bekannt und so erinnerte Jürgen Krätzer, der die Lesung moderierte, zunächst an den Lyriker Wallraff. Aufgewachsen im Köln der Nachkriegsjahre, kein Abitur, Berufswunsch Clown, die Mutter befürchtet Straßenkehrer, erlernt er den Beruf des Buchhändlers, ist aber auch als Maler und Lyriker unterwegs. Als Wehrdienstverweigerer ist er schnell mit der Staatsgewalt konfrontiert, ein psychiatrisches Gutachten bescheinigt ihm eine "für Krieg und Frieden untaugliche, abnorme Persönlichkeit". (Herzhaftes Gelächter im Publikum)

Wallraff schreibt Tagebuch, das in den 60er Jahren publiziert wird und schafft damit, so Krätzer, "den Ansatz einer Literatur und journalistischen Arbeit mit Innenperspektive". Es folgen, gestützt auf jahrelange Arbeitserfahrungen in verschiedenen Großbetrieben, die Industriereportagen, später Unerwünschte Reportagen, die auch in der DDR erscheinen.

Aus Protest gegen die Militärdiktatur in Griechenland und die Haftbedingungen politischer Gefangener kettet sich Wallraff 1974 in Athen an einen Laternenmast, er wird zusammengeschlagen, inhaftiert und gefoltert; an den Folgen trägt er jahrelang. Ob er je daran gedacht habe, eine solche Aktion auch auf dem Alexanderplatz zu starten, wird er später aus dem Publikum gefragt. Ja, aber das hätte wenig Sinn gemacht. Die Behörden der DDR hätten ihn, den bereits Bekannten, abgeschoben und somit 'Souveränität' und 'Großzügigkeit' beweisen können - ein Erfolg mit umgekehrtem Vorzeichen. "Das wäre nicht gegen den Strom gewesen", so Wallraff.

1976 deckt er einen geplanten Putschversuch des Generals Spinola in Portugal auf und vereitelt ihn so.

Günter Wallraff - Foto: © 2009 by Schattenblick
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Einer größeren Öffentlichkeit bekannt wird Wallraff als Bildredakteur Hans Esser, der die Methoden und Machenschaften des Boulevardblattes publik machte. Um die Veröffentlichung des Buches wurde prozessiert, wie um die meisten seiner Nachfolgewerke auch. Alle Prozesse habe er gewonnen und so seien seine Werke jetzt "zum großen Teil gerichtsbeglaubigte Bücher" .

Noch größere Verbreitung fand Ganz unten (1985), in dem Günter Wallraff als Türke Ali zwei Jahre lang die Lage der Gastarbeiter in deutschen Betrieben recherchierte und das 4 Millionen Mal aufgelegt und in über 30 Sprachen übersetzt wurde.

Seine neuesten Reportagen Aus der schönen neuen Welt, in Anlehnung an den Titel von Aldous Huxleys 1932 veröffentlichtem Roman, sind eine Mischung aus selbst Erlebtem - als Telefonist in einem Callcenter, Arbeiter in einer Brötchenfabrik, Obdachloser im Winter 2008/2009 und Schwarzer in der weißen Alltagswelt - sowie Recherchen hinter der In-Fassade der Kaffeehauskette Starbucks, der er sektenähnliche Strukturen attestiert, die ihr Unternehmen "Familie", Gehirnwäsche "Weiterbildung" und die Angestellten und Arbeiter "Partner" nenne und sie dabei "auspreßt bis zum geht nicht mehr", in einer Küche der Edelgastronomie und zu 'Umstrukturierungen' bei der Deutschen Bahn, die Mitarbeiter mit Bespitzelungen, Verleumdungen und konstruierten Abmahnungen im Zuge ihrer Privatisierungsabsichten zur Aufgabe des Arbeitsplatzes zwingen wolle. Den dabei behilflichen und ratgebenden Anwaltskanzleien ist ein eigenes Kapitel gewidmet. Zur Veranschaulichung zitierte Wallraff Überschriften aus einem Rechtsratgeber für schwierige Kündigungsfälle: "Systematischer Psychoterror des Arbeitgebers - Strategisches Schikanieren des Arbeitnehmers - Bewußte Verunsicherung des Arbeitnehmers - Zermürbungsstrategien - Psychofolter durch den Arbeitgeber - Fortsetzung der Schikane - Reine Quälerei des Klägers - Zwang zur Selbstaufgabe des Arbeitsplatzes."

Die Methoden, so Wallraff, erinnerten ihn an die Stasi. Die Folgen seien nicht selten Traumatisierungen, Krankheiten, bleibende psychische und körperliche Schäden, manchmal Selbstmord. Zahllose Zuschriften und Briefe von Belegschaften hätten ihm verdeutlicht, daß die Verhältnisse viel schlimmer seien als in seinem Buch geschildert; einige Kapitel müßten neu geschrieben werden.

Huxleys schöne neue Welt - "das ist unser Modell, wo wir mitten drin sind, die Millionlinge, die sich in einer Spaßgesellschaft von den eigenen Interessen entfremdet haben und schließlich gegen ihre Interessen handeln". Darüber die Alpha-Plus-Menschen, die Profiteure der Gesellschaft, abgehobene Zyniker, Manager, Politiker, wenngleich nicht alle, aber durch alle Parteien. Man könne es daran ablesen, wo sie, wenn sie ihr Mandat aufgegeben haben, weiter tätig sind. Der Untertitel Expeditionen ins Landesinnere verweise auf die "zunehmende soziale Versteppung und soziale Wüste", die sich in unserer Gesellschaft ausbreite und nicht mehr nur Randbereiche, sondern zunehmend auch die Mitte der Gesellschaft betrifft.

Erstmalig - obwohl vor Jahren schon einmal angedacht - ist Wallraff als Schwarzer in der deutschen Alltagswelt unterwegs gewesen. Das Projekt hat einen Vorläufer, den weißen Arzt Howard Griffin, der 1959 im Amerika der strikten Rassentrennung 70 Tage als Schwarzer gelebt hat und Fürchterliches erlitt. Zu diesem Teil des Wallraff-Buches "Schwarz auf Weiß", aus dem er einige Passagen vorliest, hat sein Freund Pagonis Pagonakis einen Film gedreht, der im Oktober in die Kinos kam. Das Projekt ist sowohl in der Presse als auch bei Schwarzenorganisationen nicht ohne Widerspruch geblieben. Hauptpunkt der Kritik sei gewesen: "Es hätte ein Schwarzer machen müssen." Die Presse, bedauert Wallraff, rede dabei allerdings weniger über die Reaktionen der Weißen als darüber, daß er, Wallraff, nicht so aussehen dürfe.

Günter Wallraff - Foto: © 2009 by Schattenblick
Foto: © 2010 by Schattenblick

Daß es eines Wallraffs bedurfte, um die Alltäglichkeit des Rassismus gegen Schwarze und andere Minderheiten wieder in die öffentliche Diskussion zu bringen und damit Zustände, die längst bekannt sein müßten, kann nicht ihm, sondern muß eher der bundesrepublikanischen Gesellschaft angelastet werden.

Das Ausmaß des Rassismus (der sich in Ost und West nach der Erscheinungsweise - im Westen eher versteckt, im Osten offener -, nicht aber in der Menge unterscheide), habe er nicht erwartet, so Wallraff, was ihm eine gewisse Naivität bescheinigt - vielleicht ein Stilmittel, das den Rassismus nicht zur Normalität erklären, sich ihm im Sinne eines "Aber damit muß man doch rechnen" nicht andienen will. Aber er habe auch gute Erfahrungen gemacht, etwa, als eine junge Polizistin ihn äußerst mutig vor gewaltbereiten Fußballfans in Schutz nahm, ein Unternehmer ihm und seinem schwarzen Freund Mouctar Bah Job und Unterkunft anbot oder in einer Kneipe jemand sich zwischen ihn und einen Angreifer stellte. Aber auch dabei fehle es an Normalität: "Man wird wie ein Kind behandelt." Und: "Die Hardliner sind die Wortführer!"

Nicht immer wurden Vorbehalte direkt geäußert und oft erst im Nachhinein Dritten gegenüber, wobei ausflüchtende Begründungen und Erklärungen bisweilen unfreiwillig komisch gerieten. Dazu von den gelesenen ein Beispiel: Nachdem eine Vermieterin Kwami Ogonno alias Günter Wallraff, der sich auf Wohnungssuche befindet, zunächst einigermaßen aufgeschlossen begegnet, äußert sie sich nachfolgenden (zum Filmteam gehörigen) 'Mietinteressenten' gegenüber so:

Ich war eben grad so erschrocken, da kommt so ein Mieter, den kann ich nicht so ins Haus nehmen, so einen Schwarzen. Ich kann das ja nicht am Telefon sehen, wie der aussieht, aber das passt nicht ins Haus. Nicht so ein Schwarzer. Ganz schwarz, ganz schlimm. Der war so was von schwarz und dann die Haare ... nein! Ich komm da gar nicht drüber weg. Er hat heut Morgen angerufen. Er sprach ja ein gutes Deutsch. Das kann man ja nicht sehen, ob der schwarz ist. Also, der war so schwarz wie der Heidi Klum ihrer. Deswegen war ich so entsetzt.

Für das von Jürgen Krätzer aufgeworfene Problem einer Abgrenzung und Eingrenzung dessen, was wirklich Rassismus sei ("Hätten Sie als Punk nicht die gleichen Erfahrungen gemacht?") gegenüber einer "biologisch konstituierten, natürlichen Aggression und Ablehnung des Fremden, Andersartigen", die für die Evolution des Menschen ja durchaus auch etwas Positives gehabt habe, hat Wallraff eine einfache wie klare Antwort: "Rassismus, das ist, wenn man nur auf seine Hautfarbe reduziert wird, das ist das rassistische Element."

Günter Wallraff, Jürgen Krätzer - Foto: © 2009 by Schattenblick
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Auf die Frage nach seiner Motivation zu seinen Recherchen führt Wallraff Neugierde an und das Bedürfnis nach sozialer Gerechtigkeit, aber auch: "Ich habe nichts anderes gelernt, ich war ein schlechter Schüler, in abstrakten Fächern war ich eher unterbelichtet, ich muß etwas physisch erfahren, um überhaupt dazulernen zu können, um mich einbringen zu können". Von Haus aus eher introvertiert und zur Ängstlichkeit erzogen, sei seine Arbeit wahrscheinlich auch eine Art Therapieersatz, ein Mittel gegen die Angst. "Wenn ich ein übermäßiges Unrecht erlebe, dann kommt bei mir eine Eigenschaft zum Tragen, die mir sonst abgeht, dann wachse ich schon mal über mich hinaus."

In der DDR erschienen Wallraff-Texte im Lesebuch für den DDR-Abiturienten, das DDR-Fernsehen sendete eine Dokumentation und einen Spielfilm und der Aufbau-Verlag veröffentlichte ihn zu Zeiten, als er im Westen geschmäht wurde. Hat er sich von der DDR-Propaganda benutzt gefühlt? Seit jeher und aus Überzeugung parteilos und auch keiner linken Gruppe oder Fraktion zugehörig ("Ich bin ein Verweigerer."), auch kein Marxist ("Dazu hatte ich zu wenig Marx gelesen.") habe er das mit dem Aufbau-Verlag gerne angenommen, vereinnahmen lassen habe er sich aber nicht. Spätestens allerdings seit seiner Aufnahme Wolf Biermanns nach dessen Ausbürgerung in den Westen ("Der hat gedacht, er könne noch zurück und glaubte an Reformierkeit des Sozialismus, bis zu jener Kehrtwendung, die für niemanden mehr nachvollziehbar war.") galt er als persona non grata auch in der DDR.

Foto: © 2009 by Schattenblick
Foto: © 2010 by Schattenblick

Gemeinsame Schnittstellen zweier unterschiedlicher Lebenswege, zweier nicht vergleichbarer Schreibstile - was bringt so viel politisches und literarisches Engagement, das die eigene Freiheit und Unversehrtheit riskiert und sich der Verfolgung in vielfacher Form aussetzt, angesichts des rasanten Sozialabbaus und der anwachsenden Entpolitisierung der Gesellschaft? Nicht viel. Aber auch das ist den beiden Autoren gemeinsam: ihr unerschütterlicher Optimismus und ihre ungebrochene Vision einer solidarischen Gesellschaft, bei dem einen gespeist durch seine Philosophie, bei dem anderen durch seinen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit.

Und noch eine Gemeinsamkeit war an diesem Abend unverkennbar: Humor. Trotz des Ernstes der Themen und der Lage wußten die Vorlesenden ein ausgeprochen aufmerksames und mitgehendes Publikum aufs beste zu unterhalten, sei es durch Wortreichtum und deftigen Wortwitz, sei es durch die eher nüchtern vorgetragene, unfreiwillige Komik der geschilderten Situationen.

Manch einer hätte sich im Anschluß an die Lesungen ein Gespräch zwischen beiden gewünscht, die nicht versäumten, den jeweils anderen freundschaftlich zu erwähnen, es ist aber wohl der zeitlichen Begrenztheit einer solchen Veranstaltung zu schulden, daß dieses nicht zustande kam. Worüber sie sich wohl unterhalten hätten?

Vor Auerbachs Keller - Foto: © 2009 by Schattenblick

Vor Auerbachs Keller
Foto: © 2010 by Schattenblick

27. November 2009


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Ein ausführliches Interview sowohl mit Gerhard Zwerenz als auch mit Günter Wallraff veröffentlicht der Schattenblick in Kürze.