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BERICHT/015: Zauber der Autorenschaft - eine Schreibwerkstatt stellt sich vor (SB)


Vom Ringen um Worte - "Magische Momente" aus einer Schreibwerkstatt

Eine Lesung der Schreibwerkstatt "Alles wird schön"
am 15. Januar 2014 im Kulturcafé Komm du in Hamburg-Harburg



Ein gutes Buch mit einer Geschichte, die Seite für Seite dichter wird und mit jedem Satz tiefer und weiter hineinführt in ein spannendes Abenteuer, einer leidvollen Tragödie oder einer herzergreifenden Lovestory kann ein Geschenk sein und zur Sucht werden. Bücher und Geschichten dieser Art verschaffen dem Alltag und den darum kreisenden Gedanken mehr als eine Pause. Eine neue, andere, fremde Welt entwickelt sich beim Lesen, und mit jedem Satz, jedem hinzugewonnenen Detail, vervollständigt sie sich. Im eigenen Kopf entsteht eine transportable, jederzeit begehbare Wirklichkeitszone, die für Arbeitsstress, Familienkrise oder gesellschaftlichen Zwang kein Schlupfloch lässt. Das eigene aus dem Schwarz-Weiß der Buchstaben erschaffene Universum scheint unangreifbar für Sorgen und Widrigkeiten des alltäglichen Daseins. Angesichts dessen könnte die Redewendung "Wer schreibt, der bleibt" eine Interpretation erfahren und verdienen, die über die gewöhnliche Erklärung, daß es sich um eine verbriefte geistige Hinterlassenschaft für die zukünftige intellektuelle Verwertung handelt, deutlich hinausreicht.

Ist es nicht naheliegend, wenn man weiß, daß Geschriebenes auf diese Weise bleibend und folgenreich wirken kann, selbst zum Architekten eines Raumes aus Buchstaben und Worten, Zeilen und Seiten werden zu wollen? Der Wunsch, schreiben zu können, schmälert keinesfalls das dankbare Empfinden, beim Lesen in Buchseiten und zwischen Zeilen kriechen zu können wie Alice durch das Kaninchenloch ins Wunderland und dort ein Zuhause zu finden. Vielmehr speist er sich aus der schwarz auf weiß vorliegenden Erkenntnis, daß es möglich ist, mit Worten Welten zu wirken und in aller Großzügigkeit an zahllose unbekannte Interessenten zu übergeben. Der Leser, der diesen freien Zugang zu schätzen weiß, ahnt mindestens, daß er Verzicht übt, wenn er die Kraft der Worte nicht selbst zu entfalten trachtet und stattdessen an der Bequemlichkeit seines Lesesessels festhält, um die Mühe zu sparen, die es macht, schreibend eine Welt zu schmieden, die für andere erreichbar und zugänglich ist.

Zweifelsohne kann ein weißes Blatt Papier eine erhebliche Bremskraft entfalten und die vielbeschworene Angst davor zur Blüte treiben, wirft es doch als Spiegel des eigenen Denkens die geschriebenen Worte ebenso unbarmherzig zurück wie es die ungeschriebenen vermissen lässt. Es mag quälen, daß sich ein Gedanke der Niederschrift entzieht, weil die im Kopf kreisenden Worte nicht die richtigen zu sein scheinen, aber dem unschuldig weißen Papier ist das gewiß nicht anzulasten. Möglicherweise lautet auch deshalb die Empfehlung von Kerstin Brockmann: anfangen und keine Angst haben! Sie ist selbst Redakteurin und Autorin und leitet beim Kunst- und Kulturverein "Alles wird schön" in Hamburg-Heimfeld die offene Schreibwerkstatt. Auf der dazugehörigen Internetseite veröffentlicht sie ermunternd den Hinweis:

Viele Menschen denken, sie müssten einen Text vorne anfangen und hinten aufhören. So ein Perfektionismus kann blockieren. Schreiben Sie stattdessen zuerst spontan den Satz oder die Szene auf, die Sie bereits im Kopf haben. Und schon ist die erste Hürde genommen. [1]

Am Mittwoch, den 15. Januar 2014, war Kerstin Brockmann mit neun Autorinnen und Autoren, die diese erste Hürde längst hinter sich haben, zu einer gemeinsamen Lesung mit dem Titel "Magische Momente" im Kulturcafé Komm du in Hamburg-Harburg zu Gast. Wer sich von diesem Titel ausschließlich einen Abend mit Zauberern, Hexen, Feen, bösen und guten Geistern und eine Reise in schwarz-weiß-magische Welten versprach, den hat Kerstin Brockmann gleich zu Beginn darüber aufgeklärt, daß sich diese Lesung auch mit den magischen Momenten des Alltags beschäftigt und damit zur ersten Geschichte "Die Leuchtturmfrau" von Bettina Kopka übergeleitet. Die Kurzgeschichte erzählt von einem möglichen Kontakt, einer ersten Begegnung von Frau und Mann in einem Café. Aus der Perspektive des Mannes erzählt, hörte das Publikum von seinen vergangenen Beziehungen, Ereignissen in seiner Hose, Zweifeln, seinem Selbstbild und seinen Plänen. Daß er diese Gedankenspiele zu lange treiben würde, um die Traumfrau tatsächlich anzusprechen, war als Essenz der Geschichte schnell zu ahnen. Auch der Weg zu dem vorhersehbaren Ende gestaltete sich nicht übermäßig spannungsreich und dennoch war "Die Leuchtturmfrau" ein gelungener Auftakt dieser Lesung. Daß sie mit einem Gedanken ihres Protagonisten, der einen "wahrhaft magischen Moment" zu erleben meint, auch den Titel des Abends geliefert haben mochte, spielte dabei weniger eine Rolle, als die Signale, die von den Akteurinnen und Akteuren auf der Bühne kamen und sich im Laufe des Abends zu einem Gesamtbild verdichten sollten.

Bettina Kopka, saß hinter dem Tisch, der mit Rose und Kerze geschmückt war, und las mit kraftvoller Stimme ihre Geschichte. Im Halbrund hinter und neben ihr saßen acht Schreibwerkstatt-Kollegen, die ihren Auftritt noch vor sich hatten und hörten ihr zu, waren Publikum und Vertraute gleichermaßen. Sie lachten, manchmal bevor sich der geplante Wortwitz bis zum Publikum durchgeschlagen hatte und zeigten so, daß sie die Geschichte nicht zum ersten Mal hörten und sich zum wiederholten Mal freuten. Für das Publikum im Café wurde dadurch spürbar, daß die Menschen auf der Bühne, jeder mit seiner Geschichte und mit Respekt für den anderen, einen gemeinsamen Prozeß durchlaufen.

Ein Autor sitzt am Tisch und liest. Die anderen acht Autoren und ein Musiker sitzen im Halbkreis drumherum. - Foto: © 2014 by Schattenblick

Eine Lesung - neun Autoren
Foto: © 2014 by Schattenblick

Vier Frauen und fünf Männer, schätzungsweise zwischen 35 und 65 Jahre alt, präsentierten nach und nach ihre Werke. Die Themen der Geschichten und Gedichte entpuppten sich als so verschieden wie ihre Autoren. Die Kurzgeschichte von Hannelore Lukaszyk erzählt zum Beispiel von einer "Urlaubsbekanntschaft", die lange nachklingt. Ihre Ich-Erzählerin fühlt sich erstmals zu einer Frau hingezogen und entdeckt homoerotische Gefühle. Christoph Nerger spürt unter dem Titel "Revival" den Wiederholungen nach, die Mode, Meinung und Musik alle paar Jahrzehnte in ähnlicher Weise wieder in Erscheinung treten lassen. Seine Geschichte beginnt im Bierrausch und endet mit einem Treffen von Hans Albers, John Lennon und dem Ich-Erzähler auf dem Hamburger Kiez. Als der Autor während seines Vortrages etwas hastig und zu Lasten des Verständnisses durch die Zeit eilte und die mitreisenden Zuhörer zu verlieren drohte, bekam er von seinen Schreibwerkstatt-Kollegen den dezenten und hilfreichen Hinweis, das Lesetempo zu drosseln. Das war ein weiterer Moment, der diese Lesung nicht als Präsentation perfekter, fertiger Werke mißverstehen ließ, sondern sie als liebevoll geplante und gestaltete Gelegenheit begreifbar machte, den Prozeß des Schreibens und des Lernens in der Schreibwerkstatt um eine weitere Komponente, das Lesen vor Publikum, zu bereichern. So hörten die Gäste im Komm du nicht nur Geschichten und Gedichte, sie sahen sich von den Autoren auch freimütig mit Offenheit und Vertrauen bedacht.

Ob die spezielle Auseinandersetzung mit dem Altern, die Klaus von Hollen in "Wie Parzival sich Respekt verschaffte" niedergeschrieben hat, indem er einen alten Adligen in Ritterrüstung mit Pferd und Lanze dagegen kämpfen läßt, ins Altenheim zu müssen, oder die Frage, wie erlebt und erleidet ein Kind die Scheidung der Eltern, die Berit-Marie Homfeldt in ihrem Roman "Alebeka - Anna-Lenas Bettkasten" bearbeitet, alle Autoren gaben in dieser Lesung persönliche Standpunkte, Wünsche, auch unfertige Ideen und vor allem ihr Ringen darum, sie auszudrücken, preis. Das galt auch für die Gedichte von Heinrich F. Nachtigall. Sie fielen auf und vielleicht ein wenig aus dem Rahmen, obwohl sie nahezu in der Mitte des Gesamtprogramms gut eingebettet waren. Der Autor präsentierte als einziger Geschriebenes in dieser Form und las vier seiner Gedichte. Mit seinen Reimen unter dem Titel "Die Todesdattel" sorgte er für langanhaltende Heiterkeit, die in ihrer Dauer möglicherweise nicht vollständig in der Absicht des Autors lag. Ein Gedicht, machte Kerstin Brockmann in ihrer Anmoderation deutlich, ist eine besondere Form sich auszudrücken und vermag einen magischen Moment zu beschreiben oder gar auszulösen. Vielleicht war die Bühne, die sie dem Autor damit bereitet hatte, ein wenig zu groß geraten.

Sicher nicht zufällig hatte Schreibwerkstatt-Teilnehmer Wilfried Abels die Idee, diese Lesung unter den Titel "Magische Momente" zu stellen. In seiner Geschichte "Dornenblüte" macht ein junger Mann nach dem Tod der Großmutter beim Ausräumen ihrer Wohnung die Entdeckung, daß seine Oma eine Hexe gewesen ist und er offenbar magisches Talent von ihr geerbt hat. Eine Reise zu den Elfen, die in einem hochgiftigen Eisenhut im Nachbarsgarten leben und mit Hilfe einer Spiegelscherbe sichtbar werden, macht Hildegard Schaefer in ihrer Geschichte "Kinderaugen". Sie erinnert an die eigene Kindheit, an die Fassungslosigkeit darüber, was Erwachsene nicht sehen und verstehen können, weiß um den inzwischen eigenen erwachsenen Blick auf Dinge und Verhältnisse und schafft es in ihrer Geschichte, diese beiden Lebensphasen in Einklang zu bringen.

Eine weitere Geschichte aus Kindertagen stand am Ende der Lesung "Magische Momente". Wolf-Dietrich Puschmann führte seine Zuhörer mit dunkler, kräftiger Stimme ins Jahr 1960. Kurz vor Weihnachten schickt die Großmutter Wolfgang los, die Karpfen fürs Festmal der Flüchtlingsfamilie aus Oberschlesien zu holen. Daß sich beim Ausschwimmen der "Schlesischen Polarkarpfen", so heißt die Geschichte, in der Badewanne Freundschaften entwickeln, überrascht nicht. Die Beschreibung aber, wie Wolfgang, der weiß, daß seine Freunde zum Festessen werden, ihnen die letzten Stunden mit Schwimmente und schließlich mit Fichtennadel-Badesalz verschönern möchte und damit ihren noch früheren Tod und ein Ende in der Mülltonne herbeiführt, kommt dann doch irgendwie unerwartet. Diese anschaulich erzählte, ebenso heitere wie traurige Geschichte war ein gelungener Schlußpunkt der Lesung.

Der Autor Wolf-Dietrich Puschmann sitzt am Tisch und liest. - Foto: © 2014 by Schattenblick

"Schlesische Polarkarpfen" zum Abschluß
Foto: © 2014 by Schattenblick

Die Zuhörer bewiesen ihr Interesse mit Applaus für jeden einzelnen Vortrag und suchten in der Pause und nach der Veranstaltung das Gespräch mit den Autoren. Manch einer kaufte die gedruckten Werke, um sie zum Nachlesen mit nach Hause zu nehmen. Und was bleibt von den Schreibenden im Gedächtnis? Was wird den Heimweg überdauern, nächste Woche noch gegenwärtig sein? Es mag weniger die einzelne Geschichte sein, die lange nachhallt und wirkt, weil sie sich dauerhaft im Kopf der Zuhörer festgesetzt hat, sondern vielmehr die Erkenntnis, daß sich das Ringen um Worte lohnt. In Zeiten und Verhältnissen, in denen Sprachlosigkeit anwächst, verbale Schablonen die alltägliche Kommunikation bestimmen, Kleingedrucktes per Vertrag das Leben regelt, tipfehlerreiche Emails und SMS ohne Punkt und Komma als schriftsprachlicher Austausch gelten, haben die lesenden Autorinnen und Autoren einen Gegenentwurf vorgelegt: Es ist die Mühe wert, den Kampf mit dem weißen Blatt Papier anzutreten, nach dem richtigen Wort, nach der präzisen Beschreibung zu suchen, um eine Frage, einen Gedanken, einen Zusammenhang so zu entfalten, daß er lesbar und verständlich wird. Außerdem bleibt die überzeugende Botschaft der Autorinnen und Autoren im Gedächtnis, daß die Schreibwerkstatt des Kunst- und Kulturvereins "Alles wird schön" in Hamburg-Heimfeld eine gute Adresse ist, um diesen Kampf nicht allein zu führen.

Die Frage, ob man dort das Schreiben von Geschichten, Romanen und Gedichten erlernen kann wie ein Tischler das Hobeln oder ein Bäcker das Teigkneten, bleibt unbeantwortet. Auch wenn sich Regeln und Muster, Prinzipien der Dramaturgie und Dialogtechniken in allen Geschichten aus der Schreibwerkstatt entdecken lassen, sie anzuwenden verdeutlicht lediglich die Bandbreite zwischen dem Füllen einer Schablone und dem Verdichten des Inhalts auf eine Weise, die das Erkennen der vom Autor verwendeten Bausteine für den Leser oder Zuhörer ebenso unmöglich wie uninteressant macht.

Die Auseinandersetzung, die Arbeit am Text, ist eben nicht wie eine Lesung nach zwei Stunden zu Ende. Für die Autorinnen und Autoren geht sie weiter, jeden zweiten Dienstag in der Schreibwerkstatt des Kunst- und Kulturvereins "Alles wird schön" in Hamburg-Heimfeld. In der jeder und jede mit Schreiblust herzlich willkommen ist und aufgenommen wird. An diesen Worten ihrer Leiterin und Moderatorin des Abends, Kerstin Brockmann, bleibt am Ende der Lesung nicht der Hauch eines Zweifels.


Fußnote:

[1] http://www.schreibwerkstatt-harburg.de/tipps.html

22. Januar 2014