Schattenblick →INFOPOOL →DIE BRILLE → REPORT

BERICHT/022: Linksliteraten - Widerspruchssymptom EU ... (2) (SB)


19. Linke Literaturmesse Nürnberg

Tobias Pflüger über den undemokratischen Charakter der Institutionen der Europäischen Union und deren notwendige Delegitimierung durch inhaltliche Kritik und breiten sozialen Widerstand


Referent auf dem Podium - Foto: © 2014 by Schattenblick

Tobias Pflüger
Foto: © 2014 by Schattenblick

Tobias Pflüger begann seine Stellungnahme auf der Eröffnungsveranstaltung der 19. Linken Literaturmesse am 31. Oktober 2014, die unter dem Titel "Europa und die Europäische Union - Analysen, radikale Kritik und linke Perspektiven" stand, mit dem Verweis auf das Problem, daß grundsätzliche Kritik an der Politik der EU-Institutionen Gefahr läuft, pauschal als antieuropäisch disqualifiziert zu werden. So trieben die bürgerlichen Medien die Partei Die Linke anläßlich ihres Europaparteitages im Februar 2014 regelrecht vor sich her, hieß es doch in der dort zu verabschiedenden Präambel zum Programm zur Europawahl im Mai 2014, die EU sei "zu einer neoliberalen, militaristischen und weithin undemokratischen Macht" geworden. Dieser Satz ist und bleibt richtig, so Pflüger, der sich damit zum linken Flügel der Partei bekennt, die auf diesem Parteitag dem Reformflügel unterlag. Die Formulierung wurde verworfen mit dem Argument, sie sei sinngemäß an anderen Stellen des Programms enthalten.

Die Spitzenkandidatin bei der Europawahl, Gabi Zimmer, tat den inhaltlich profunden Streit als "dämliche Debatte" ab und forderte, man müsse "um diese Europäische Union kämpfen". Der stellvertretende Vorsitzende der Linksfraktion, Jan Korte, mahnte gar: "Nicht die Radikalität der Phrase darf Markenzeichen der Linken sein" [1], was den Verdacht nahelegt, daß die Radikalität der Praxis erst recht nicht erwünscht ist, um die Zurichtung der Linkspartei zu sozialdemokratischer Regierungsfähigkeit nicht zu gefährden.

Pflüger ist demgegenüber wichtig, die Institutionen der EU klar als das zu benennen, was sie sind. Es handelt sich um Institutionen, die parallel zu den Regierungen der 28 Mitgliedstaaten eingerichtet wurden, um eine neoliberale und militaristische Politik durchzusetzen. Sie seien noch undemokratischer als die entsprechenden Institutionen im einzelstaatlichem Kontext, was man jüngst bei der personellen Besetzung der EU-Kommission erleben konnte. Die Kommissare seien nicht aufgrund ihrer Kompetenz für die jeweiligen Politikbereiche berufen worden, sondern um die jeweiligen Interessen einzelner Mitgliedstaaten in der EU-Kommission durchzusetzen.

Als EU-Parlamentarier machte der stellvertretende Vorsitzende der Linkspartei die Erfahrung, im Parlament zwar debattieren zu können, das jedoch jenseits politisch wichtiger Entscheidungen, die in Kommission und Rat getroffen werden. Das habe zum Teil dazu geführt, daß den Parlamentarierinnen und Parlamentariern trotz Anfrage nicht einmal die für einen bestimmten Politikbereich zuständigen Beamten genannt wurden. Als er danach fragte, wer die Militärmission der Europäischen Union im Tschad plane, wurde ihm diese Information vorenthalten. Parlament und Europäischer Gerichtshof seien in der Außen- und Militärpolitik explizit nicht zuständig. Die Abgeordneten würden lediglich informiert oder auch nicht, könnten aber nichts durchsetzen. So habe der Innenausschuß des Europäischen Parlaments den damaligen Chef von Frontex vorgeladen, doch dieser zog es vor, nicht zu kommen, steht er doch einer Agentur der EU-Kommission vor und ist dem Parlament gegenüber nicht rechenschaftspflichtig. Der zweiten Vorladung kam er zwar nach, hat aber die Antwort auf bestimmte Fragen schlicht verweigert.

Das bedeute, so Pflüger, der für die PDS ins EU-Parlament gewählt wurde und ihm als damals noch parteiloser Abgeordneter von 2004 bis 2008 angehörte, daß eine parlamentarische Kontrolle der EU-Institutionen nicht stattfindet, sondern lediglich eine parlamentarische Begleitung. Zudem werde in den EU-Institutionen verfahren wie in einer großen Koalition. In der Kommission sitzen Vertreter der Konservativen, der Sozialdemokraten, der Liberalen und der Rechtskonservativen. Diese große Koalition ziehe sich quer durch die gesamten EU-Institutionen, wo Entscheidungen insbesondere zwischen Konservativen und Sozialdemokraten als auch Liberalen ausgehandelt würden. Über diese Schiene nehmen auch die Regierungen der einzelnen Mitgliedsstaaten Einfluß auf die Politik der EU, was für die Bundesregierung insbesondere gelte.

Pflügers Ansicht nach sind diese nicht zuletzt über die Verteilung der Haushaltsmittel regulierten Strukturen nicht demokratisierbar. Um so mehr gehe es darum, sie zu delegitimieren. Dabei sei die genaue Unterscheidung zwischen Europa und der Europäischen Union wesentlich. Ersteres sei ein Kontinent, letzteres eine Institution, doch mit dem Begriff Europa werde häufig Akzeptanz für die Institutionen geschaffen. Die Friedensnobelpreisträgerin Europäische Union anhand konkreter Politikbereiche wie zum Beispiel ihrer mörderischen Flüchtlingspolitik zu kritisieren, um offene Grenzen für Menschen in Not zu fordern, sei genuine Aufgabe der Linken. Tatsächlich laufe diese Flüchtlingspolitik darauf hinaus, sich die Hochqualifizierten unter den Migrantinnen und Migranten herauszusuchen und damit auch noch von der Ausbildungsleistung ihrer Herkunftsländer zu profitieren, während die anderen erbärmlich an den Zäunen und Mauern der Europäischen Union verrecken.

Wenn Entscheidungen auf EU-Ebene verschoben werden, dann vor allem in Richtung Kommission und Rat, weniger in Richtung Parlament und natürlich noch viel weniger in Richtung Bevölkerung. Der Linken-Politiker hält die Forderung, auf die Ebene der Nationalstaaten zurückzukehren, wenn die Institutionen der Europäischen Union nicht dazu geeignet sind, fortschrittliche Politik durchzusetzen, dennoch für keine Lösung. Es komme auf die Inhalte an und nicht darauf, ob sie auf der Ebene des Nationalstaates oder der EU umgesetzt würden. Diesen Inhalten sei gemeinsamer Widerstand und Protest entgegenzustellen, und das betreffe viele Themen. So werde die EU Stück für Stück zu einer Militärmacht ausgebaut, und zwar mit verbindlicheren Strukturen als im Bereich der NATO. Die Solidaritätsklausel verpflichte die EU-Mitgliedstaaten zum Einsatz militärischer Mittel, wenn ein Mitgliedstaat von militärischer Gewalt betroffen ist. Bei der NATO sei das lediglich eine Soll-Bestimmung.

Der Lissabon-Vertrag habe nicht nur die neoliberale Wirtschaftsordnung festgeschrieben, sondern auch ein parallel zur NATO existierendes Militärbündnis konstituiert, was inakzeptabel sei und zurückgenommen werden müsse. Das treffe auch auf die Austeritätspolitik zu, die unter dem Diktat Deutschlands und verschiedener EU-Institutionen die Infrastruktur vor allem der südlichen Mitgliedstaaten der Europäischen Union zerstöre. So habe er von SYRIZA-Politikerinnen und -Politikern erfahren, daß das Gesundheitssystem in Griechenland inzwischen so weitgehend abgebaut wurde, daß eine normale Gesundheitsversorgung praktisch nicht mehr möglich ist [2]. Es sei an der Zeit, sich dezidiert mit dieser Sparpolitik auseinanderzusetzen und den Widerstand, der vor allem in den südlichen EU-Staaten geleistet wird, gemeinsam mit den entsprechenden linken Bewegungen und Parteien zu stärken. Keinesfalls dürfe man der Illusion frönen, daß die EU-Institutionen oder die durch sie agierenden Regierungen das Problem der Austeritätspolitik lösen. Dies bedürfe des gemeinsamen Protestes von unten und des Widerstandes vor Ort.

In der Bundesrepublik befinde man sich demgegenüber, bildlich gesprochen, im Auge des Orkans. Die trügerische Ruhe dieser Gesellschaft täusche darüber hinweg, daß die soziale Spaltung immer weiter vorangetrieben werde. Zwar gebe es Kritik im Detail, aber insgesamt werde diese Entwicklung von einem Gutteil der Bevölkerung mitgetragen, die meint, von der führenden Position Deutschlands in der EU profitieren zu können. Das sozialdemokratische Virus sei nicht nur für Parteien gefährlich, sondern lähme auch die Gewerkschaften. Obwohl es sich um die mitgliederstärksten Organisationen der Republik handle, setzten sie sich politisch viel zu wenig ein und scheuten erst recht vor grundsätzlicher Kritik an den herrschenden Verhältnissen zurück. Der sozialdemokratische Reformismus sei nicht nur in ihrer Führung verbreitet, sondern habe sich auch in den Köpfen vieler Gewerkschaftsmitglieder festgesetzt. Nur wenn man dort aktiv werde, komme man auch in diesem Land, in dem sich so wenig Widerstand regt, weiter. Gerade weil Deutschland eine Führungsfunktion in der EU innehabe, sei es wichtig, den sozialen Protest auch hierzulande zu organisieren. Pflüger bezeichnet es allerdings als eine Idealvorstellung, wenn sich die Partei Die Linke, die in einzelnen Bereichen durchaus an diesen Kämpfen beteiligt ist, umfassend für die Schaffung einer breiten Oppositionsbewegung einsetzen würde.

Ein Europa von unten, knüpft Pflüger an Detlef Hartmann an, sei für ihn konkret machbar, so im gemeinsamen Kampf mit den Flüchtlingen, die sich in Berlin selbst organisieren. Gegen die Bundeswehr an Schulen zusammen mit den Schülerinnen und Schülern, mit den Lehrerinnen und Lehrern wie den Eltern vorzugehen, sei auch etwas ganz Konkretes. Europa von unten ist Protest und Widerstand, der konkret lebt und an einer ganzen Reihe von Themen zu verwirklichen sei, so Pflügers abschließende Perspektive für eine Linke, die sich in ihrer grundsätzlichen Kritik an der EU nicht von totalitarismustheoretischen Gleichsetzungen wie denen des SPD-Chefs Sigmar Gabriel beeindrucken lassen sollte. Als dieser auf dem Europaparteitag seiner Partei, an die Adresse der Linkspartei gerichtet, tönte: "Links- und Rechtspopulisten setzen die EU aufs Spiel" [3], da waren Regierungspolitiker der SPD längst damit beschäftigt, in der Ukraine das Feld für den Aufstieg neofaschistischer Kräfte zu bestellen.

(wird fortgesetzt)


Fußnoten:


[1] BERICHT/012: Links der Linken - EU solidar (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/europool/report/eurb0012.html

[2] BERICHT/014: Sparfalle Griechenland - Genötigt, vertrieben, ausgeliefert (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/europool/report/eurb0014.html

[3] HEGEMONIE/1769: EU-imperialistische Weichenstellung in der Ukraine (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/hege1769.html


Zur "19. Linken Literaturmesse in Nürnberg" sind bisher im Pool
INFOPOOL → DIE BRILLE → REPORT
unter dem kategorischen Titel "Linksliteraten" erschienen:

BERICHT/017: Linksliteraten - Aufgefächert, diskutiert und präsentiert ... (SB)
BERICHT/018: Linksliteraten - Sunnitische Ränke ... (SB)
BERICHT/019: Linksliteraten - Arbeit, Umwelt, Klassenkampf ... (SB)
BERICHT/020: Linksliteraten - Marktferne Presse, engagiertes Buch ... (SB)
BERICHT/021: Linksliteraten - Widerspruchssymptom EU ... (1) (SB)

INTERVIEW/009: Linksliteraten - Ukraine und das unfreie Spiel der Kräfte ...    Reinhard Lauterbach im Gespräch (SB)
INTERVIEW/010: Linksliteraten - Schienenband in Bürgerhand ...    Dr. Winfried Wolf im Gespräch (SB)
INTERVIEW/011: Linksliteraten - Spuren des Befreiungskampfes ...    Prof. Dr. Herbert Meißner im Gespräch (SB)
INTERVIEW/012: Linksliteraten - kapital- und umweltschadenfrei ...    Emil Bauer im Gespräch (SB)
INTERVIEW/013: Linksliteraten - Der aufrechte Gang ...    Victor Grossman im Gespräch (SB)
INTERVIEW/014: Linksliteraten - Übersetzung, Brückenbau, linke Kulturen ...    Mario Pschera vom Dagyeli-Verlag im Gespräch (SB)
INTERVIEW/015: Linksliteraten - Vermächtnisse und Perspektiven ...    Simone Barrientos vom Kulturmaschinen-Verlag im Gespräch (SB)
INTERVIEW/016: Linksliteraten - Die linke Optik ...    Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann vom Verband Arbeiterfotografie im Gespräch (SB)
INTERVIEW/017: Linksliteraten - Der rote Faden ...    Wiljo Heinen vom Verlag Wiljo Heinen im Gespräch (SB)
INTERVIEW/018: Linksliteraten - Mit den Augen der Verlierer ...    Annette Ohme-Reinicke im Gespräch (SB)

30. Dezember 2014


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang