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BERICHT/044: Zukunft, Literatur, Gesellschaft - Lesen, schreiben, stören ... (SB)


Global entufert, präzise bestimmt - mehr Arbeit am Begriff

Tagung im Literaturforum im Brecht-Haus in Berlin Mitte


"Die heutige Zeit könnte kaum vorteilhafter für politische Kritik mit den Mitteln des Ästhetischen sein" - die Unerschrockenheit, mit der Enno Stahl und Ingar Solty anläßlich der ersten Ausgabe einer von ihnen initiierten Literaturtagung, die im April 2015 im Berliner Brecht-Haus stattfand, Mut zur produktiven literarischen Auseinandersetzung mit den herrschenden Verhältnissen machten, steht Autorinnen und Autoren allemal gut zu Gesicht. Was sonst sollen Menschen tun, die mit dem Rücken zur Wand stehen, was im globalisierten Kapitalismus keinesfalls Einzelschicksale sind, sondern Milliarden betrifft, als die Enge einer Überlebensnot, in der die nackte Haut schon auf den Knochen lastet, in eine Angriffsposition zu verwandeln? Sicherlich teilen Literaten selbst im Prekariat des Kulturbetriebs europäischer Metropolengesellschaften nicht das Los der Elenden dieser Welt, das keine kulturell wahrnehmbare Resonanz mehr erzeugt. Wer wollte schon das ganze Ausmaß der Schmerzen ergründen, denen das von aller Welt verlassene Leben dort, wo die Kaskaden eines fiktiven Wertwachstums als reale Entwertung aller lebensnotwendigen Substanzen und Handreichungen vernichtende Wirkung zeitigen, ausgesetzt ist?


Veranstaltungsplakat im Eingang des Brecht-Hauses - Foto: © 2016 by Schattenblick

Foto: © 2016 by Schattenblick

Das Privileg, zu den Menschen zu gehören, die jenen kleinen, sozialen Status und personale Identität als Voraussetzungen literarischer Kommunikation gewährenden Teil des globalen Eisbergs bevölkern, der sich oberhalb des Wasserspiegels sozialer Reproduktion auftürmt, ist nur sinnvoll in Gebrauch zu nehmen, wenn die stummen Schreie derjenigen, für die das Getriebe zirkelschlüssiger Geldlogik nurmehr einen Platz auf dem gigantischen Unterdeck des Treibguts menschlicher Geschichte vorhält, nicht weiter ungehört verhallen. Die vor Kriegsgewalt und existenzbedrohender Not Fliehenden erinnern daran, wie bedrohlich die ganz normale gesellschaftliche Wirklichkeit für jeden sein kann, der in den peripheren Zulieferungs- und Entsorgungszonen lebt, die die Zentren globaler Reichtumsproduktion umlagern und sozialräumlich die mit Abstand größte Fläche des Planeten einnehmen.

Klopft das Elend, vor dem man sich hinter den hoch aufragenden Festungsmauern sicher wähnte, so vernehmlich wie dieser Tage an die Tür, dann erweitern sich auch die Möglichkeiten der literarischen Auseinandersetzung mit den daraus erwachsenden Konflikten. Der europaweite Aufstieg rechtspopulistischer bis neofaschistischer Kräfte ist eine zentrale Herausforderung der Gegenwart nicht als bloß abzuwehrendes Phänomen, sondern als in seinen sozialdarwinistischen Beweggründen und seiner Verankerung im arrivierten Bürgertum auf den kämpferischen Begriff einer Gegenöffentlichkeit zu bringender Diskurs. Was die islamfeindliche Rechte als kulturalistisches Konstrukt der Verteidigung des Abendlandes errichtet, bedarf der Erhellung seiner historischen Wurzeln in den imperialen Feldzügen, die unter der Suprematie monotheistischer Alleinvertretung vorwegnahmen, was der europäische Kolonialismus im Ressourcenhunger industrieller Produktivkraftentwicklung fortsetzte bis zur kapitalistischen Globalisierung, die die Welt im Feuer des vergeblichen Versuches, die inneren Grenzen ihrer Akkumulationslogik durch Konsumismus und Produktivismus zu überwinden, verheizt.

Wo die Logos der Markenprodukte in jedem Winkel der Erde die monopolistische Marktmacht transnationaler Konzerne signalisieren und es immer belangloser wird, auf welchem Kontinent der Mensch seinen Burger verspeist, hat das uniforme Ambiente der Systemgastronomie jeden noch so neugierigen Reisenden doch längst überholt, da wächst die Welt auch als Konfliktherd und Schadensfall zusammen. Erstmals in der menschlichen Geschichte gehen lokale Katastrophen und regionale Krisen in der globalen Synchronizität anwachsender Verschuldung, entwerteter Arbeit, industrieller Überproduktion wie auch der gewaltsamen Eskalation sozialer Konflikte in Form langjähriger Bürgerkriege und militarisierter Repression auf, was allerdings auch die Sichten und Geschichten, die die Grenzen des eigenen Sprach- und Kulturraums überschreiten, relevanter macht. Klimawandel, Rohstoffextraktivismus, Artensterben, Landraub, Energiepolitik, Tierausbeutung - auch das sind heute insbesondere die Jugend bewegende Themen, die sich nicht mehr von sozialen und gesellschaftlichen Konflikten lösen und in die Nische ökologischer Regulation schieben lassen.

Was haben die Menschen hierzulande damit zu tun, daß in Griechenland die öffentliche Infrastruktur zu einem Spottpreis an internationale Investoren verkauft wird, die das Leben der Menschen noch unbezahlbarer machen, als es ohnehin schon ist? Inwiefern tragen sie dazu bei, daß indigene Völker ihre Existenz in den brasilianischen Regenwäldern aufgeben müssen, um als Strandgut zivilisatorischen Fortschritts in einem Museum angeschwemmt zu werden, wo die Kinder an ihrem Beispiel lernen dürfen, wieviel besser ein Dasein als isolierte Arbeitsmonade ist? Was hat die Näherin in Bangladesch davon, durch unterbezahlte Sklavenarbeit die Mehrwertrate deutsche Unternehmen subventioniert zu haben, wenn sie mit 40 Jahren körperlich am Ende ist und zur Fortsetzung ihres schmerzerfüllten Lebens darauf angewiesen zu sein, von ihrer Familie ausgehalten zu werden? Fragen, die irgend jemandem immer unter den Nägeln brennen und von einer Literatur, die das Selbstverständliche und damit unsichtbar Gewordene alltäglicher Ausbeutung und Unterdrückung am Beispiel Betroffener deutlich macht, aufgegriffen werden könnten.

Die Totalisierung des ökonomischen Zugriffs im Weltmaßstab betrifft nicht zuletzt die Bedingungen kultureller Produktivität, wie der Paradigmenwechsel vom schwerindustriellen zum angeblich wissensbasierten und kognitiven Kapitalismus zeigt. Die Einebnung sprachlicher Vielfalt durch die allgemein anerkannte Verkehrsförmigkeit des globalisierten Englisch, dessen zahlreiche regionale und anwendungsorientierte Varietäten nicht darüber hinwegtäuschen können, das sein pragmatischer, an den Erfordernissen geschäftlicher und administrativer Kommunikation orientierter Gebrauch seine kulturelle Substanz langfristig zerstört, löscht in Jahrtausenden gewachsene Lebenswelten und Erkenntnisformen innerhalb weniger Jahrzehnte aus. Die Marktförmigkeit eines Neoliberalismus, für den die durch geldwerten Tausch bestimmte Welt so flach ist, als hätten dessen Hohepriester Hayek und Friedman die scholastische Dogmatik des Mittelalters in der Verabsolutierung der Marktratio wiederauferstehen lassen, macht das Interesse an Sozial- und Gesellschaftsgeschichte gegenstandslos. So schnell sich der Reigen spektakulärer Bilder unter hoher Rotationsgeschwindigkeit auf allen Info-Kanälen drehen mag, so unstillbar nagt der Hunger nach Authentizität und Substanz an den Spiegelfassaden einer Ästhetik, die die Totalität des Kulturstaates gerade durch seine liberale und weltoffene Inszenierung bekräftigt, wie jeder feststellen kann, der sie so fundamental als Ausdruck bürgerlicher Herrschaft kritisiert, daß Ausgrenzung und Mißachtung zwingende Folge sind.

Den Verlust an individueller Autonomie, die Zerstörung lebendiger Subjektivität durch tote Arbeit und die Entfremdung von den eigenen Her- und Hinkünften mit befriedender Wirkung auszusteuern, ist Aufgabe einer Unterhaltungsindustrie, deren hohe Produktivität denn auch Ergebnisse hervorbringt, die sich sehen lassen können. Ob sie sich auch nahrhaft verdauen lassen, ist eine Frage, die im Getöse kulturstaatlich geförderter Megaevents und Massenspektakel nicht mehr zu vernehmen ist, auch weil die Antwort, wie die hochgradige Adaptionsfähigkeit kapitalistischer Innovationsdynamik selbstredend sicherstellt, längst gegeben wurde. Hart am Wind antagonistischer Bewegungen segelnd wird mit der zweckrationalen Effizienz gouvernementaler und unternehmerischer Sozialstrategien vereinnahmt, was immer versucht, sich der Verfügungsgewalt kapitalistischer Bestandssicherung zu entziehen. Die in der Popkultur zur Gesetzmäßigkeit erhobene Praxis, jeden aus antikonsumistischem Widerspruch erwachsenen Versuch, sich kulturindustrieller Zwänge durch selbstbestimmte und avantgardistische Formen von Kreativität zu entledigen, mit rebellischer Attraktivität aufzuladen und um so besser zu verkaufen, bestimmt heute das breite Feld nicht umsonst der "Kreativbranche" und "Kulturwirtschaft" subsumierter Künstlerinnen und Autoren.

Letztlich braucht niemand mehr als junger Wilder entdeckt zu werden, denn die aus der Verbrauchslogik kulturindustrieller Verwertung erwachsenden Gegenströmungen werden mit Hilfe digital beschleunigter Marktanalysen antizipiert. So werden Verwertungsdispositive geschaffen, in denen subjektives Interesse und objektiver Bedarf zu hochgradig verkehrsfähigen Produktprofilen verschmelzen. Diese weltweit vermarktbar zu machen und die aus Urheberrechten und Lizenzen generierten Geldströme zielsicher in die eigenen Taschen zu lenken, ist das Ziel der Etablierung neuer Rechtsformen durch Freihandelsabkommen, in denen Investitionsschutz so groß geschrieben wird, daß die dabei vermittelten Inhalte, wenn sie überhaupt nennenswert von der universalen Paßform verlangten Contents abweichen, als Kleingedrucktes ignoriert werden.

Diese aggressive, alle noch nicht verwertbar gemachten Manifestationen subjektiven Interesses kannibalisierende Produktivität beschränkt sich jedoch nicht auf die imaginativen Welten kultureller Waren. Ihr Nutzen für das herrschaftliche Akzeptanzmanagement bewahrheitet sich zugleich an den Fronten sozialer Kämpfe und politischer Konflikte, wo oppositionelle Kräfte mit hochentwickelten PR-Strategien und symbolpolitischem Aktivismus vermeintlich staats- und marktfernen Partizipationssuggestionen ausgesetzt werden, die vor jeder substantiell wirksamen Radikalität Halt machen. Professionalisierung und Institutionalisierung in Wissenschaft und Kultur ziehen einer Widerständigkeit, die aus den realen Antagonismen sozialer Bedrängnis und Klassenunterdrückung erwächst und keiner legalistischen Rückversicherung bedarf, weil die Stoßrichtung ihrer Herrschaftskritik Kapital und Staat betrifft, im Zweifelsfall den Zahn kämpferischen Entschiedenheit.

Es bedarf also nicht nur einigen Mutes, sondern des vitalen Interesses an sozialen Fragen, gesellschaftlichen Konfliktkonstellationen und historischen Formationswechseln, um die politische Relevanz einer Literatur zu sichern, die auch in den höheren Etagen des Kulturbetriebs allzu gefällig und integrativ geworden ist. Auch dort werden die Mühen der Ebene alltäglicher Gebrauchswertproduktion nicht gescheut, sondern die warentypische Gleichförmigkeit und Serialität von Textproduktionen zum Geschäftsmodell erhoben. Auf das die Suggestibilität der Rezipienten adressierende Format des Narrativs verkürzt, in den Plot-Redaktionen industrieller Schreibwerkstätten als Fließbandware kommodifiziert oder in der selbstgenerativen Subjektlosigkeit postmoderner Literaturproduktion jeder parteilichen Stellungnahme durch prinzipiell endlose Kontingenz enthoben, bleiben Schreiben und Lesen auf der Strecke kultureller Belanglosigkeiten, denen das störende Beiwerk die eigene Person und Existenz einbeziehender Gesellschaftskritik systematisch ausgetrieben wurde.

Auch darum ging es in der zweiten Ausgabe der Schriftstellertagung. Vom 19. bis 21. Mai 2016 kamen am gleichen, traditionsreichen Ort einige letztes Jahr anwesende wie neu dazugestoßene Autorinnen und Autoren zusammen, um der unveränderten Fragestellung "Richtige Literatur im Falschen?" Rechnung zu tragen. Mit diesem Anklang an die berühmte Sentenz Theodor W. Adornos wurde die Schwelle wohl auch deshalb in die Höhe absoluter Werturteile gelegt, um sie mit einem ironischen Schmunzeln leichten Fußes und aufrechten Ganges unterschreiten zu können. Aus der Sicht einer das "richtige Leben im Falschen" suchenden wie verwerfenden - und schließlich auf dem langen Marsch durch die Institutionen verschlissenen - Linken, die sich mit dem Furor einer Ideologiekritik bekriegt, die kaum mehr Anhaltspunkte für konkrete Handlungsfähigkeit, aber um so mehr für bürgerliche Bezichtigungswut bietet, bleibt die Unumstößlichkeit dieser Antipoden eine bequeme Ausrede dafür, die gesellschaftlichen Voraussetzungen, von denen die eigene Lebenssicherheit abhängt, immer weniger in Frage zu stellen. Dabei müßte, wo nationalistische Identifkation und rassistische Ressentiments auf wachsende Akzeptanz in der Breite der Gesellschaft stoßen, das Gegenteil der Fall sein. Die Erben jener Bürger, die die von Franz-Josef Degenhardt so treffend karikierte Sonntagsruhe als Bastion deutscher Werte zelebrierten, erfreuen sich heute eher am Lärm niemals mehr pausierender Maschinen. Den trügerischen Frieden einer Ordnung, in der jeder seinen Platz zum Nutzen des größeren Ganzen einnehmen soll, auch wenn er darauf vergeht, zu stören, bleibt dennoch Aufgabe einer Arbeit am Begriff, die die dröhnende Sprachlosigkeit durchbricht und mit neuem Streitpotential anfüllt.

An Fluchtpunkten diskursiver und literaturtheoretischer Art, die die Disputanten und Schriftstellerinnen auf der zweieinhalb Tage währenden Tagung ansteuern und verhandeln konnten, mangelte es mithin nicht. Im Vordergrund standen, wie auch die diesjährige Themenstellung "Zukunft - Literatur - Gesellschaft" nahelegte, die gesellschaftlichen Bedingungen literarischer Produktion, wobei insbesondere das Verhältnis von sozialer Stellung und inhaltlichem Ergebnis schriftstellerischer Arbeit wie auch die Auswirkungen der Digitalisierung des Kapitalismus auf literarische Formen und Inhalte viel Gelegenheit zur Debatte boten. Spezifischere Diskussionen etwa um die verschiedenen Formen des Realismus und des Verhältnisses zur Postmoderne kamen nicht zu kurz, und der Frage der Zukunft wie der Methodik, sie zu fassen und zu entwerfen, wurde viel Bedeutung zugemessen.

Einige der im Literaturforum des Brecht-Hauses diskutierten Themen sollen an dieser Stelle aufgegriffen, dargestellt und kommentiert werden, bietet die Veranstaltung doch auch den Leserinnen und Lesern von Literatur wie politischen Aktivistinnen und Aktivisten, die an neuen Möglichkeiten der Vermittlung interessiert sind, viel Gelegenheit zur weiterführenden Diskussion. Ergänzend dazu werden einige der in Berlin zusammengekommenen Akteure in Interviews zu Wort kommen, die die Schattenblick-Redaktion am Rande der Tagung führte.

11. Juni 2016


Fassade des Brecht-Hauses mit Fensterfront des Literaturforums - Foto: © 2016 by Schattenblick

Veranstaltungsort Brecht-Haus in Berlin-Mitte
Foto: © 2016 by Schattenblick


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