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BERICHT/055: Zukunft, Literatur, Gesellschaft - Alter Feind in neuem Gewand ... (3) (SB)


Der Ordnung zuwider, dem Sprechen zuliebe ...

Tagung im Literaturforum im Brecht-Haus in Berlin Mitte


Die Massenunterhaltung ihres instrumentellen Charakters zu entledigen und für einen gesellschaftlichen Aufbruch zu befreien wäre ohne die Beteiligung ihrer Produzentinnen kaum zu leisten. So aufgeladen die Subjektivität der Fankultur mit Hoffnungen, Wünschen und Träumen sein mag, so wenig wird der Sprung von erwartungsvoller Passivität zu tätigem Eingreifen in gesellschaftliche Verhältnisse durch den Konsum imaginärer Welten wahrscheinlicher, als er sowieso nicht ist. Die hochgradige Affirmation des Fandoms, die in ihr Gegenteil zu verkehren auf der zweiten Schriftstellertagung "Richtige Literatur im Falschen?" vorgeschlagen wurde, ist in der Anerkennung dessen, was für gut und richtig befunden wird, kaum zu hintergehen. Doch woraus könnte die subversive Qualität, derer es bedürfte, die industrielle Fertigung narrativer Waren mit paradigmatischen Brüchen zu unterlaufen, die die Bedingungen ihrer Verwertung selbst in Frage stellen, entstehen?

Sicherlich könnte sie einer Kritik abzugewinnen sein, die zu den in Schrift, Bild und Ton präsentierten Erlebniswelten der Unterhaltungsindustrie in ein konträres Verhältnis tritt. Das setzte allerdings ein anwachsendes Unbehagen bei den Rezipientinnen voraus, dem durch die immer eindrücklichere Machart der TV-Serien, über die im Brecht-Haus beispielhaft gesprochen wurde, entgegengewirkt wird. Das geht so weit, daß die Produzenten mancher Serienformate den im Internet breit diskutierten Verlauf der Geschichten aufgrund der Reaktionen ihres Publikums im laufenden Produktionsprozeß verändern. So nährt das interaktive Wechselspiel, das die Plattformen der IT-Welt vom linearen Charakter herkömmlicher Medien unterscheidet, den Live-Impetus einer Aktualität, mit der die Beschleunigung kapitalistischer Produktivität auch in virtuellen Erlebniswelten wie Computerspielen und Serienformaten Einzug hält.

Das exemplarische Beispiel für diese Entwicklung ist die TV-Serie "24", die schon von der Konzeption her auf 24 Folgen und damit Stunden eines Tages pro Staffel angelegt war. Dieses den Primat der Terrorismusbekämpfung nicht nur reproduzierende, sondern legitimierende Serienformat zeichnet sich durch den völligen Verzicht auf Vor- und Rückblenden zugunsten einer sogenannten Echtzeit aus, in der minutiös erlebt werden kann, wie ein Staat durch Terroristen herausgefordert wird [1]. Herausragendes Merkmal der Dramaturgie ist die permanente Erzeugung eines Entscheidungsdrucks, der die Akteure vermeintlich dazu nötigt, aus pragmatischen Gründen die Grenzen des Erlauben zu überschreiten und Menschen zu foltern, um ihnen wichtige Informationen abzupressen. Dies veranlaßte sogar Ausbilder der US-Streitkräfte, die Macher der Serie um mehr Zurückhaltung zu bitten, da die US-Soldaten im Irak an ihren Gefangenen ausprobierten, was sie zuvor in "24" gesehen hatten. Der jüngst verstorbene US-Menschenrechtsanwalt Michael Ratner war sogar der Ansicht, daß die Bürgerechtsbewegung in den USA die öffentliche Debatte zum Thema Folter aufgrund von Sendungen wie "24" verloren hat [2].

Kam die Erwirtschaftung von Suspense im Fließbandverfahren auch im immer gleichen Strickmuster bewährter Sachzwanglogik daher, so hielt das ihre Fans nicht davon ab, sich auf "24"-Parties alle Folgen einer Staffel synchron zum Verlauf eines Tages im Terrorkrieg anzuschauen. Die mit allen suggestiven Mitteln aufrechterhaltene Atemlosigkeit des Geschehens läßt die hochgradige Austauschbarkeit der dramaturgischen Struktur vergessen und bindet den Zuschauer an ein Erleben, das jede Besinnung auf ganz andere Fragen als die Bewältigung der inszenierten Bedrohung programmatisch verhindert. Wer sich diesem zweifelhaften Vergnügen aussetzt, hat mithin ein eindeutig definiertes Interesse daran, sich in einem völlig ironiefrei inszenierten Überlebensszenario einzufinden, das die angebliche Notwendigkeit des permanenten Ausnahmezustands zutiefst bestätigt.

Fast einen Gegenentwurf zu "24" stellte die weit weniger erfolgreiche, wenn auch von vielen Rezensenten geradezu in den Himmel zeitgemäßer Fernsehunterhaltung gehobene Serie "The Wire" dar. Indem sie die sozialen Probleme der Hafenstadt Baltimore in Hinsicht auf zentrale Politikfelder ausleuchtet und die Sicht der zumeist der schwarzen Bevölkerung angehörenden Opfer herrschender Verhältnisse nicht ausblendet, bietet sie mehr Anhaltspunkte für eine Mobilisierung des Publikums zur streitbaren Auseinandersetzung mit diesen. Dennoch scheint der Einfluß von "The Wire" auf die öffentliche Debatte gering geblieben zu sein, war die Serie doch nicht annähernd so erfolgreich wie etwa das Mafiadrama "Sopranos" oder das drogeninduzierte Familienepos "Breaking Bad". Dabei gäbe die virulente Polizeibrutalität in den USA gegenüber nichtweißen Minderheiten allemal Anlaß, auch eine kommerzielle TV-Serie zum Anlaß weitergehender Überlegungen zu machen. Wo allerdings keine Analyse über gesellschaftliche Gewaltverhältnisse vollzogen wird, bleibt das Geschehen an der Oberfläche üblicher Begründungen, die individuelle Gier und notorische Korruption für die dargestellten Mißstände verantwortlich machen.

So leidet auch der für seine soziale Kompetenz vielgelobte "The Wire"-Schöpfer David Simon als Autor unter der Malaise einer Positionslosigkeit, die den Rand der mehr oder minder offenen Affirmation des gesellschaftlichen Ist-Zustandes nicht überschreitet. Wo ihm gesellschaftskritische Äußerungen zugeschrieben werden, bleibt die Berufung auf die Alternativlosigkeit kapitalistischer Produktivität unwidersprochen. Die Macher der in Popularität und Erfolg weltweit führenden US-Serien versteigen sich vermutlich auch deshalb nicht zu gesellschaftskritischen Stellungnahmen, weil diese den geschäftlichen Interessen ihrer Geldgeber, die das in Frage kommende Publikum nicht polarisieren wollen, zuwiderlaufen. Auf besonders brutale und grausame Inhalte angesprochen, nehmen sie gerne die Position ein, daß sie lediglich abbilden, was ist [3], als steckten nicht in jeder künstlerischen Inszenierung Elemente einer Gewichtung, die eine Deutung in diese oder jene Richtung nahelegen.

Ob Spannungsroman, TV-Serie oder Computerspiel, die kommerzielle Kalkulierbarkeit bringt Erfolgsrezepte hervor, die weniger nach dem schöpferischen Genius eines individuellen Schriftstellers als nach der universalen Verwendbarkeit ihrer strukturellen Voraussetzungen verlangen. Ein Plot ist nicht mit einer Geschichte klassischen Zuschnitts zu verwechseln, handelt es sich doch um ein modulartiges Schema, das eine Handlung so strukturieren soll, daß sie den Produzenten maximale Flexibilität bei genügend formaler Stabilität gewährt. Um Schreibwerkstätten und Redaktionen zu organisieren, in denen mehrere Autoren ein kohärentes Geschehen erzeugen, das zudem mit den Erwartungen des Publikums in Wechselwirkung tritt, muß auf mehreren Ebenen des zeitlichen und inhaltlichen Verlaufs interagiert werden. All das muß im Rahmen einer Deutungshoheit stattfinden, die extravagante Anmerkungen oder unerwartete Handlungsbrüche nur zulassen kann, wenn sie im Kontext des zentralen Plots funktionieren.

Exemplarisch ins Bild gesetzt wird der mechanische Charakter kulturindustrieller Prozeßlogik in den vielen Rädchen des Getriebes der überaus erfolgreichen TV-Serie "Game of Thrones". Wie der Titel besagt, wohnt das Publikum einem fast sportlich zu nennenden Wettstreit unter gekrönten Häuptern bei, die das große Spiel des Ringens um die Macht mit aller intriganten Intelligenz und grausamen Konsequenz zelebrieren. Analoge Entwicklungen im wirklichen Leben imperialistischer Politik sind unschwer zu dechiffrieren und bestätigen die Überlegenheit eines Liberalismus, dessen Weltoffenheit in der optimierten Ausbeutbarkeit vorhandener Ressourcen handelsüblichen Sinn stiftet. Das Geschehen rotiert um die nie zu treffende Achse der Frage nach der Unerträglichkeit eines Seins, dem kein Wollen vorausgeht, weil es sich in der Faszination, also fesselnden Wirkung einander zugefügter Schmerzen genügt. Daß auch diese Serie mit Vergewaltigung und Folter nicht spart, ohne eine Position gegen die gesellschaftliche Brutalisierung zu beziehen, stellt sie in eine Reihe mit einer ganzen Phalanx entsprechender Produktionen insbesondere audiovisueller Art, die die Chance auf Emanzipation von rassistischer, militaristischer und sexistischer Zurichtung gering erscheinen läßt.

Auch angesichts der anwachsenden Akzeptanz sozial- und nationalchauvinistischer Imperative stellt sich die Frage nach Gegenpositionen in Kultur und Politik mit einiger Dringlichkeit. Sich dem Vergessen all dessen entgegenzustellen, was auf diesem Wege bereits erreicht, wenn auch nicht realisiert wurde, könnte geradezu als zentrale Aufgabe einer politisch relevanten Kultur verstanden werden. Die in Historiendramen als schicksalhafter Kampf zwischen dem fleischgewordenen Bösen und heldenhaften Guten inszenierte Geschichte früherer Jahrhunderte könnte die Erinnerung an eine Subversion entgegengestellt werden, die bis in die Antike, wie von Johannes Agnoli [4] beschrieben, nachweisbar ist. So flach, wie der Neoliberalismus die Welt machen möchte, indem er alles einebnet, woran sich noch streitbare Widerständigkeit entzünden könnte, und die von seiner Marktförmigkeit gezeichnete Unterhaltungsware auch ist, stets bietet sie Haken und Ösen, an denen sich die Suggestibilität ihrer Konsumenten in ihr Gegenteil, eine widerständige Kritikfähigkeit, verkehren läßt.

Die Bereitschaft, sich ausgemachten Herrschaftsdiskursen, wie etwa in "Game of Thrones" mit der zwingenden Kausallogik des Untertanenblicks durchdekliniert, zu überantworten, steht und fällt mit der Ambivalenz einer gesellschaftlichen Teilhaberschaft, die in der Summe von Anspruch und Beschwerde, von Erfolg und Niederlage stets das Minus vollzogener Unterwerfung erleidet. Diese Teilhaberschaft durch einseitige Parteinahme aufzukündigen, wußte auch ein Rainer Werner Fassbinder zu schätzen, als er 1975 einem Essay über Claude Chabrol ein Wort des Schriftstellers Gerhard Zwerenz voranstellte: "Es gibt nichts Schöneres als die Parteinahme für die Unterdrückten. Die wahre Ästhetik ist die Verteidigung der Schwachen und Benachteiligten." [5] Der in Hitlerdeutschland als Jude verfolgte Jurist Fritz Bauer, der sich in der BRD mit der konsequenten Verfolgung von NS-Tätern nicht nur bei wieder in Amt und Würden sitzenden NS-Richtern unbeliebt machte, brachte die Frage künstlerischen Schaffens auf einen nicht minder herrschaftskritischen Begriff: "Kunst ist im Gegensatz zu allem Staatlichen letztlich anarchisch. Sie konkurriert mit dem staatlichen Ordnungsprinzip ... Staat will Verdrängung. Kunst will Verdrängtes befreien. Sie ist Bewusstmachung des Unbewussten, Ausspruch des sozial Unausgesprochenen." [6]

Das sind nur zwei Beispiele für eine Vielzahl bereits ausgesprochener und niedergeschriebener Vorschläge zum Umgang mit einer widrigen Wirklichkeit. Wie heute unschwer zu erkennen, hat das angebliche Ende der großen Erzählungen, das Jean-François Lyotard zu einem zentralen Paradigma postmodernen Wissens erklärte, die Menschen nicht zu selbstbestimmtem Tun und autonomem Denken befreit. An die Stelle der alten hierarchischen Ordnung trat ein Labyrinth aus Narrativen und Kontingenzen, das die Verfügbarkeit und Fremdbestimmung des Menschen in eine noch unbegreifbarere Form gegossen hat. Sich der Geschichtlichkeit eigener Vergesellschaftung zu vergewissern und damit die Grenzen zu definieren, die es zu überwinden gilt, ist ohne große Entwürfe und eindeutige Positionierungen schwer möglich. Die Wirklichkeit nicht bloß zu erleben und erleiden, sondern sie in Gebrauch zu nehmen heißt eben auch, sie nicht sich selbst oder gar den Produzenten kulturindustrieller Vergessensware zu überlassen. Die in den Debatten auf der Schriftstellertagung immer wieder hervortretende Frage nach dem Verhältnis von Affirmation und Kritik aufrechtzuerhalten könnte mithin den Wunsch jedes Fans nach authentischem Erleben und Abenteuern jenseits vorformatierter Angebote auf überraschende Weise übererfüllen.


Fußnoten:

[1] KULTUR/0844: "24" ... Jack Bauer geht, der Ausnahmezustand bleibt (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/sele0844.html

[2] INTERVIEW/031: US-Menschenrechtsanwalt Michael Ratner, Center for Constitutional Rights (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prin0031.html

[3] INTERVIEW/004: Borgia im ZDF - Starke Bilder, Nebenwelten, Tom Fontana im Gespräch (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/medien/report/mrei0004.html

[4] REZENSION/648: Johannes Agnoli - Die Subversive Theorie (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buch/sachbuch/busar648.html

[5] http://www.poetenladen.de/zwerenz-gerhard-sachsen99-03-online-abenteuer.htm

[6] http://www.poetenladen.de/zwerenz-gerhard-sachsen99-15-fritz-bauer.htm


Berichte und Interviews zur Tagung "Richtige Literatur im Falschen?" im Schattenblick unter
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8. August 2016


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